Sturm im Zollhaus. Heike Gerdes

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Sturm im Zollhaus - Heike Gerdes


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jetzt behutsam auf eine Trage gleiten ließ.

      Während die Sanitäter eine Decke über den leblosen Körper breiteten und eine Sauerstoffmaske auf Mund und Nase des Kindes drückten, überschlugen sich die Gedanken in Romans Kopf. Spielende Kinder hatten schon manchen Brand gelegt, das war nichts Ungewöhnliches. Wirklich ungewöhnlich war, dass der Junge einen weißen Schlafanzug mit braunen Teddybären trug.

      *

      »Stopp!« Berghaus packte Roman, der an ihm vorbei ins Haus stürmen wollte, am Arm. »Mit der Brandermittlung wartest du schön, bis wir hier fertig sind.«

      »Aber verstehst du denn nicht?« Ärgerlich schüttelte Roman die Hand seines Freundes ab. »Der Kleine trägt einen Schlafanzug!«

      In Berghaus’ Augen hinter dem Visier dämmerte Begreifen. So unbewohnt, wie sie geglaubt hatten, war das Zollhaus offenbar doch nicht.

      »So gehst du da aber nicht rein.« Energisch drückte er Roman Sturm einen orangeroten Packen vor die Brust und widerwillig zog der die steife Schnittschutzhose und die hitzefeste Jacke über seine Cargoshorts und das T-Shirt. Der Helm war ein wenig zu groß, aber da konnte man jetzt nichts dran ändern. Berghaus half Roman, die Pressluftflasche auf den Rücken zu schnallen, und koppelte das Schlauchstück an die Maske. »Beeil dich aber. Wir haben nicht viel Zeit.«

      »Wie lange reicht die Luft?«

      »Eine halbe Stunde, aber das ist nicht das Problem. Der Bau …«

      »Ja, ja, ist ja gut«, kappte Roman ungeduldig den Vortrag. »Los jetzt.«

      Das Zollhaus war riesig. Siebzig Meter lang, fünfzehn breit, drei Stockwerke hoch. Wenn sie da drin Menschen finden wollten, kam es wirklich auf jede Minute an. Keine Zeit, umzukehren und die vergessenen Stiefel anzuziehen. Im Laufen zog Roman Sturm die Schutzhandschuhe an, dann folgte er Ahrend Berghaus durch die grüne Stahltür und stand unvermittelt in graugelbem Nebel. Das Treppenhaus am Nordende des Zollhauses war schon unter normalen Bedingungen düster, jetzt aber war die Finsternis nahezu undurchdringlich. Unwillkürlich hielt Sturm den Atem an, als sich im Schein seiner Taschenlampe fettige Rauchschwaden vor dem schlierigen Visier seines Helms ballten. Dann erinnerte er sich an die Pressluftflasche und atmete mühsam gegen den Widerstand des Ventils an.

      Er versuchte, sich an seinen letzten Besuch im Zollhaus zu erinnern. Mindestens achthundert schwitzende Leiber. Dazu eine der bekanntesten Deutschrock-Bands, die aus Spaß bisweilen unter dem Pseudonym Nackt unter Kannibalen auftrat. Lange her. Wie viele Stufen waren es bis zum ersten Stock mit dem langgestreckten Saal? Er glaubte, sich an vierzehn zu erinnern, stolperte aber schon bei zwölf ins Leere.

      Ahrend Berghaus war längst außer Sicht, hören konnte Roman nichts außer dem Zischen der Pressluft und dem Pochen des Pulsschlags in seinen Ohren. Sein nackter Fuß in der offenen Trekkingsandale stieß gegen etwas Weiches. Roman zuckte zusammen, der Schweiß explodierte schmerzhaft prickelnd aus allen Poren. Darf einem Kriminalkommissar der Angstschweiß ausbrechen? Wen schert das. Widerstrebend bückte er sich. Hund, Katze, Maus, Pferd? Erleichtert erkannte er einen kleinen Plüschbären. Er hob ihn auf und schob ihn in die Jackentasche.

      Wo sollte er suchen? Wo würde er schlafen, wenn er ungestört im Zollhaus übernachten wollte? Im Untergeschoss eher nicht, dort waren außer der Theke und der Bühne nur die Garderoben des Backstage-Bereichs. Außerdem kamen Berghaus und die anderen dort vor Roman hin, denn dort hing auch der Löschschlauch.

      Im ersten Stock waren am einen Ende das Café und am anderen die Druckwerkstatt der grafischen Gesellschaft untergebracht, die Halle dazwischen wurde für Kunstausstellungen genutzt. Rückzugsmöglichkeiten bot diese Etage nicht.

      Die Schlussfolgerung gefiel Roman ganz und gar nicht. Er musste am brennenden Mittelgeschoss vorbei ganz nach oben. Nur dort unter dem Dach lagen kleinere Räume, die selten genutzt wurden, denn die aufwendige Sanierung des alten Kastens hatte noch nicht jeden Winkel erreicht.

      Jemand rempelte Roman unsanft beiseite, zwei Schemen verschwanden im orangegrauen Schein, der aus dem Café drang, hinter ihm verschmolz der Wasserschlauch mit dem Dunkel des verqualmtem Treppenhauses.

      Roman quälte sich weiter, Schweiß biss in seinen Augen und kitzelte unter den Achseln, das Atmen wurde immer schwieriger. Er zwang sich Stufe um Stufe nach oben, leuchtete mit der Taschenlampe jeden Schritt aus, war teils enttäuscht, teils erleichtert, dass er noch immer niemanden fand. Endlich hatte er das obere Ende der Treppe erreicht. Rechts von ihm war eine Tür. Toiletten. Kein Mensch darin. Der Rauch war hier oben so dicht, als sei zwischen den Partikeln kein Platz mehr für Sauerstoffmoleküle. Der Lichtstrahl der Taschenlampe zeichnete eine gelblichweiße Spur von nicht mehr als zwei Armlängen und wurde dann verschluckt. Roman erinnerte sich an Autofahrten zwischen ostfriesischen Dörfern in seinem alten Wagen ohne Nebelscheinwerfer. Das Fernlicht mauerte dann eine gelbe Wattewand vor die Scheibe und man hatte ohne die blendenden Lampen bessere Chancen, nicht in einem der schnurgeraden Kanäle links und rechts der Straße abzutauchen. Er knipste die Lampe aus, steckte sie ein und tastete sich weiter.

      Ein Piepen im Helm lenkte Romans Aufmerksamkeit auf das Kästchen an seinem Gürtel, das den Luftvorrat überwachte. Wie viel Zeit blieb ihm, bis … was geschah? Kurz wünschte sich Roman, er hätte Ahrend Berghaus ausreden lassen. Aber letztlich spielte es keine Rolle. Wenn hier oben noch die Familie des kleinen Jungen war, den Berghaus im Treppenhaus aufgelesen hatte, musste Roman versuchen, sie zu finden. So einfach war das. Und so schwer.

      Seine Schienbeine stießen unvermittelt an eine harte Kante. Rechts und links bot sich seinen tastenden Händen ebenfalls Widerstand. Ach ja, das Theater. Die Rückenlehnen der Besucherstühle stellten sich ihm in den Weg, schienen sich im Schutz der Nebelmasse hin und her zu schieben, um ein Vorbeikommen unmöglich zu machen. Blind tastete sich Roman an der Stuhlreihe entlang, bis er endlich freien Raum erreichte.

      Wieder ein Hindernis, weich diesmal, nachgiebig. Roman zog einen Handschuh aus und ertastete Stoff, Stangen, die fedrige Weichheit einer Stola. Er stand im Fundus des Theaters, hier war Sackgasse. Roman unterdrückte einen Fluch und wandte sich um, zurück Richtung Zuschauerraum. Übermäßig ordentlich schien die Theatergruppe nicht zu sein, selbst auf dem Fußboden lagen Kleider und Perücken verstreut. Mit dem Fuß wollte Roman ein Kostüm beiseite schieben, doch das war überraschend schwer.

      Erst als er sich niederkauerte und mit der bloßen Hand weiche Locken fühlte und glatte Haut, wurde ihm klar, dass hier keine Theaterrequisiten verstreut lagen. Vor ihm auf den staubigen Dielenbrettern lag ein Kind. Ein Mädchen mit langen Locken. Offenbar hatte er die Schwester des bewusstlosen Jungen gefunden. Sie regte sich nicht.

      Romans Herz raste, das Pressluftzischen schnitt in seine Ohren. Als er den schlaffen Körper des Mädchens vom Boden aufhob, überflutete ihn die Erschöpfung in einer heißen Welle. Wie lange konnte er die ungewohnte Anstrengung durchstehen? Die Hitze, das mühsame Atmen durch die Maske, die steife Schutzkleidung. So musste sich ein Taucher fühlen, in einem verschlickten Hafenbecken oder einem Klärtank. Vielleicht auch ein Astronaut. Weltraumspaziergang auf einem Planeten mit vielfacher Erdmasse. Sonnenseite. Bescheuert, dass er jetzt an so etwas dachte.

      Luft. Er brauchte endlich wieder Luft. Mühsam kämpfte Roman gegen den Zwang, sich den Helm vom Kopf zu reißen, die Maske vom Gesicht zu zerren, tief durchzuatmen. Seine Beine zitterten, das Vibrieren schien sich über seine Füße bis auf den hölzernen Dielenboden zu übertragen. Er ließ das Kind zurück auf den Boden gleiten.

      Die Kleine brauchte Luft, dringender noch als er selbst. So schnell wie möglich raus mit ihr. Nein. Sauerstoff. Jetzt zerrte er sich die Maske doch vom Gesicht, keuchte und hustete, als der Rauch in seine Nase kroch, in seine Kehle biss wie ein hungriges Raubtier. Doch der Taucher, James Bond wahrscheinlich. Rettet das hilflose Opfer mit der Luft aus der eigenen Flasche, echt heldenhaft. Aber bei dieser Scheißmaske funktionierte das nicht, da musste man die Luft raussaugen, und das Mädchen atmete nicht oder nur schwach. Ehe ihm schwarz vor Augen wurde, drückte Sturm sich die Maske wieder selbst auf das schweißnasse Gesicht, atmete gierig ein. Er füllte so viel Sauerstoff in seine Lunge, wie er irgend konnte, dann hielt er die Luft an und beugte sich über das Kind. Er bog den Lockenkopf der Kleinen in den Nacken, um die Atemwege freizubekommen,


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