Sturm im Zollhaus. Heike Gerdes

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Sturm im Zollhaus - Heike Gerdes


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Wohnungstür hinter sich zuzog, fühlte er sich wie ein Hähnchen im Backofen. Noch auf dem Weg zur Balkontür zog er das durchgeschwitzte T-Shirt aus und ließ es achtlos fallen. Er streifte die verschmorten Sandalen ab und fühlte den stacheligen Nadelfilz des Teppichbodens unter seinen Füßen, die in einem wenig besseren Zustand als die Schuhe waren. Fast kam es ihm vor, als kräuselten sich die Haare auf seinen Armen in der Hitze, und die Haut in seinem Gesicht schien sich in prickelnden Blasen abzulösen, sogar den Duft von gebratenem Fleisch glaubte er zu riechen.

      Er schüttelte sich und die Blasen verwandelten sich gnädig in beißende Schweißtropfen, die in seine Augen rannen. Hastig zog er die Rollläden hoch, mit denen er wie jeden Tag vergeblich versucht hatte, die Hitze auszusperren, und öffnete die Balkontür. Was hatte er anderes erwartet? Im Sommer war es in dieser Wohnung unter dem Dach nicht auszuhalten. Schon ein paar Sonnentage reichten, um die Raumtemperatur auf fiebrige vierzig Grad hochzutreiben. Nur vergaß er das regelmäßig, während er im Büro schmorte und sich seine zwei Zimmer mit Küche und Bad kühlträumte.

      Aber er kam zumindest regelmäßig an die Luft, frisch oder nicht.

      Unterm Dach in der Rumpelkammer des Zollhauses war es bestimmt nicht weniger heiß gewesen. Wie hatten die Kinder das ausgehalten? Und wie lange? Weder er selbst noch Lükka waren heute einen Schritt weitergekommen. Die Vermisstenkartei hatte nichts hergegeben, nicht in Niedersachsen und auch nicht in den anderen Bundesländern. Vor Dienstschluss hatten sie noch eine Anfrage an die niederländische Polizei abgeschickt, aber ohne große Hoffnung. Niemand schien die drei Kinder zu vermissen, niemand auch nur von ihrer Existenz zu wissen.

      Angenommen, sie waren tatsächlich unbemerkt ins Zollhaus gekommen. Weiter angenommen, sie hätten sich wirklich da oben auf dem Dachboden zwischen eingestaubten Möbeln und alten Klamotten mucksmäuschenstill verhalten, was für so kleine Kinder eine reife Leistung wäre, so blieb doch eine Frage offen: Wovon hatten sie gelebt?

      Wasser war weiter kein Problem, das konnten sie auf der Besuchertoiletten des Theaters holen. Aber irgendjemand musste sie mit Essen versorgt haben, ob mit Dirk Bauklohs Hammelhoden, mit Dosenravioli oder auch nur mit Brot und Käse.

      Roman bemerkte auf einmal, wie hungrig er war. Der Bratengeruch, den er seit dem Betreten seines Wohnofens in der Nase hatte, war real. Er drang aus der Küche des Restaurants im Erdgeschoss nach oben, das Gyros und Souflaki für den Abend auf Vorrat produzierte, und Romans Magen knurrte. Der Kühlschrank gab willkommene Kälte frei, die Roman länger genoss, als die Inspektion seiner Vorräte es rechtfertigte. Drei kaum verschrumpelte Knoblauchzehen. Ein Eckchen Camembert, das Roman nach kurzer Betrachtung in den Mülleimer fallen ließ. Ein Becher Joghurt, immerhin, nur eine Woche überfällig, dafür mit einem Aludeckel, dessen Wölbung eine kurz bevorstehende Explosion verhieß. Trotzdem öffnete Roman den Becher und tunkte die Fingerspitze in die weiße Pampe. Das Zeug prickelte auf der Zunge und gesellte sich ohne weitere Umwege zum Käse.

      Also zwei Optionen: Bis acht mit knurrendem Magen warten und dann unten in einen Grillteller investieren oder doch noch einkaufen. Roman entschied sich fürs Einkaufen, zumal auch der Kaffeevorrat für morgen früh nur noch eine dünne Plörre hergeben würde. Romans Laune verschlechterte sich. Ohne Fahrrad würde das eine echte Expedition werden, denn Leer hatte die vermutlich einzige Innenstadt, in der es seit Jahren keinen Supermarkt mehr gab. Romans Auto stand passenderweise gerade in der Werkstatt und wartete auf ein neues Getriebe.

      Nach drei Kilometern zu Fuß, mit einem halben Dutzend leerer Flaschen im Rucksack, hatte Roman im Geist alle Varianten schwarzer Pädagogik durchgespielt bis hin zur Prügelstrafe für Fahrraddiebe. Seine finsteren Gedanken mussten ihm anzusehen sein, denn der rundliche Junge in der Leergutannahme zuckte zusammen und starrte ihn mit großen, erschrockenen Augen an, als Roman die Flaschen auf den Tresen stellte.

      Romans Gewissen regte sich, legte sich aber sofort wieder ins Körbchen, als er unter dem blauen Kittel einen rotgeflammten Hemdkragen hervorblitzen sah. Sieh mal einer an, das war doch der kleine Mistkerl von heute früh, der sein Fahrrad geklaut hatte! Mit einiger Anstrengung unterdrückte Roman den Impuls, den Burschen am Kragen zu packen und kräftig zu schütteln. Statt dessen fragte er ganz ruhig: »Wo ist mein Rad?«

      »Draußen im Fahrradständer.« Der Junge richtete sich auf und sah Roman halb schuldbewusst, halb trotzig an. »Ich wollte es heute Abend zurückbringen. Wirklich. Ich bin doch kein Dieb!«

      »Ach nein? Deswegen hast du mir auch das Fahrrad geklaut, weil du so ein braver Junge bist.«

      »Ich hatte es eilig.«

      Genau das war der Punkt, der Roman interessierte, aber hinter ihm ballte sich inzwischen eine Traube von Einkaufswagen und darin begann es ungeduldig zu grummeln. Sichtlich erleichtert reichte der Junge Roman den Pfandbon und wandte sich den Bierkästen des Blümchenkleides zu, das sich jetzt unnachgiebig wogend zwischen Roman und den Tresen drängte.

      Achselzuckend drehte Roman sich um und schlängelte sich zwischen den anderen Wartenden hindurch. Um den Jungen würde er sich später kümmern, er wusste ja jetzt, wo er ihn finden konnte. Und dann würde er ihn nicht nur nach dem Fahrradklau fragen. Bevor der Polizist heute früh auf den Jungen zugesteuert war, hatte der es schließlich gar nicht eilig gehabt, sondern mit den anderen Gaffern das Feuer beobachtet. Entweder wusste er etwas über den Brand oder er hatte etwas anderes ausgefressen, denn an einer Uniformallergie litt er vermutlich nicht.

      Im Markt war noch erstaunlich viel los, die Verlängerung der Öffnungszeit bis neun Uhr zahlte sich offenbar aus. Immerhin hatte der Inhaber des Ladens schon mal davon gehört, dass Eigentum verpflichtet, und steckte einiges in soziale Projekte, kümmerte sich um Kinderschutz, Behinderte und Kultur. Gehörte er nicht sogar dem Zollhausverein an? Doch, ziemlich sicher sogar.

      Auf dem Weg durch den Supermarkt ließ Roman den Blick durch die Gänge schweifen, aber ausgerechnet heute war der Chef nicht zu sehen, nicht einmal in der Weinabteilung.

      Dafür sah er den Jungen wieder, der mit einer großen Plastiktüte den Stand mit den türkischen Spezialitäten verließ. Wenigstens hatte er ihm nicht auch noch das letzte Fladenbrot vor der Nase weggeschnappt, wie Roman beruhigt sah. Das packte ihm der nette Iraker bedächtig wie immer in eine Tüte, füllte ein Schälchen mit Zaziki und wartete gelassen, bis Roman sich für eine besonders rücksichtslose Olivensorte entschieden hatte – gefüllt mit ganzen Knoblauchzehen, Lükka würde sich morgen nicht freuen.

      »Da habe ich heute ja gerade noch Glück gehabt.« Er schenkte dem Iraker sein freundlichstes Strahlen. »Ich dachte schon, der Junge aus der Flaschenannahme hätte das letzte Brot geholt. Wie heißt er noch mal? Ahmed, oder?«

      Der älteste Trick, aber der Händler fiel darauf rein, obwohl er, wie Roman wusste, in seiner Heimat zwanzig Jahre lang als Lehrer gearbeitet hatte. Trainingsrückstand, eindeutig.

      »Chalid? Nein, der hat nur ein Brot mitgenommen.« Er hatte den Beutel mit Romans Einkäufen ordentlich zugeknotet, knipste den Kassenzettel an die Tüte und reichte sie über die Theke.

      »Wissen Sie, wo ich ihn erreiche, wenn er nicht arbeitet?«, fragte Roman im Plauderton. Der andere blickte ihn scharf an, dann lächelte er entschuldigend, sagte freundlich: »Ich spreche nicht gut Deutsch, Herr Kommissar«, wünschte einen schönen Abend und machte sich geschäftig daran, die Reste seiner Waren zusammenzupacken.

      *

      Der große Platz neben dem Postamt war nicht wiederzuerkennen. Das ganze Gelände umgab ein zwei Meter hoher Bauzaun aus rostigen Eisengittern, hinter dem die Spurensicherung den Tag über im Schutt gewühlt hatte, um zwischen Unmengen von Ziegelsteinen, verbogenen Eisenträgern, verschmorten Möbeln und Elektronik alles auszugraben, was sie der Brandursache und dem Brandstifter ein Stück näher bringen konnte. Roman wagte keine Prognose, wie lange es dauern würde, alles auszuwerten. Schon ein ganz normales Wohnhaus brauchte seine Zeit, und die Reste des Zollhauses waren entmutigend.

      Detlev Katenhusen, der sich eben aus seinem weißen Papieranzug schälte, sah Roman aus rotgeränderten Augen an und schüttelte auf die Frage nach neuen Erkenntnissen müde den Kopf.

      »Du kannst keine Wunder erwarten, mehr als arbeiten können wir nicht.«


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