Sturm im Zollhaus. Heike Gerdes

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Sturm im Zollhaus - Heike Gerdes


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als würden sie platzen und es war eine Erleichterung, die gestaute Luft endlich abzugeben. Bloß nicht zu viel Druck, dachte Roman, ihre Lunge ist ja viel kleiner als meine.

      Der Brustkorb des Kindes hob sich leicht. Roman Sturm kämpfte gegen den Reflex, sofort wieder einzuatmen, und schob sich erst das Schlauchstück der Atemmaske wieder in den Mund. Noch mal das Ganze. Sein Herz klopfte, er war am ganzen Körper nass. So hatte das keinen Zweck, wenn sein Kreislauf schlappmachte, kamen weder das Kind noch er selbst hier lebendig heraus. Er setzte die Atemmaske wieder auf. Dann schob er den linken Arm unter die Schulter des leblosen Mädchens, den rechten in die Kniekehlen, und richtete sich taumelnd auf.

      Das Kind in den Armen an sich gepresst, stolperte Roman aus dem Theaterraum zurück ins Treppenhaus. Betonstufen, eine nach der anderen. Die letzten Stufen fiel er fast hinab, als das Zittern seiner Knie das alte Zollhaus hinter ihm einstürzen ließ wie ein Kartenhaus.

      2.

      Im Büro zischelte und röchelte die Kaffeemaschine. Es roch nach Rauch, aber das lag an Lükkas Filterzigarette. Der schmucklose Raum barg noch immer die Reste der Wärme von gestern oder schon die Hitze des neuen Tages. Trotzdem hatte das karge Büro heute etwas Anheimelndes für Roman.

      »Na, auch schon da?« Lükka drehte sich nicht um, sondern klickte sich durch ihre Mailbox. »War’s ne heiße Nacht gestern?«

      Morgenroutine mit Lükka Tammling. Im Dienst stets gründlich und mit vollem Einsatz bei der Sache, nach Feierabend offenbar immer auf Achse – nach dem, was sie so erzählte, mal mit Nachbarn, mal mit Freundinnen aus dem Handballverein. Immer was zu berichten bei Dienstbeginn und immer begierig, von Roman zu hören, was bei ihm abging. So ging das seit Jahren, seit sie zusammen in diesem Büro saßen. Je nach Stimmung absorbierte Roman ihre lebhaften Schilderungen oder er fuhr die Schilde hoch und ließ das Plaudern daran abgleiten wie Phaserbeschuss. Heute tat er ihr nicht einmal den Gefallen, freundlich zu brummen, sondern widmete sich der spuckenden Kaffeemaschine.

      Erst als Lükka das bewusst wurde, drehte sie den braunen Wuschelkopf, stieß sich mit dem linken Fuß leicht ab und drehte den quietschenden Bürostuhl mit elegantem Hüftschwung um hundertachtzig Grad. Ihre kräftigen, geschwungenen Augenbrauen hoben sich, als sie den Kollegen mit wachsendem Erstaunen musterte.

      »Warst du grillen?« Sie schnupperte. »Und wie siehst du überhaupt aus? Hast du in deinen Klamotten geschlafen?«

      Roman goss sich bedächtig Kaffee ein, ließ zwei Würfel Zucker in den bedruckten Porzellanbecher gleiten. Spock und Kirk hatten auch schon bessere Tage gesehen. Irgendein Depp hatte seinen Becher in die Spülmaschine gestellt. Die Föderationsuniformen waren verblasst und an Spocks linkem Ohr blätterte die Farbe. Misstrauisch roch Roman an der Milchdose, die schon seit ein paar Tagen offen auf dem Regal stand, und molk daraus fünf kräftige Strahlen in den Pott. Erst als er seinen Kaffee umgerührt hatte, konzentriert, als gäbe es keine anspruchsvollere Aufgabe, und der erste Schluck brennend die Speiseröhre passiert hatte, erwiderte er Lükkas Blick.

      Jetzt einfach sagen: Mir hat einer das Fahrrad geklaut. Verlegen grinsen, Lükkas gutmütigen Spott ertragen. Ostfriesischer Volkssport und so. Wohl bei Urlaubsbeginn nicht genug Akten von den Kollegen aus der Soko Rad auf den Tisch gekriegt. Wär schön.

      »Nein. Nicht gegrillt. Und ja. In den Klamotten geschlafen irgendwie schon.« Er nahm noch einen Schluck Kaffee, dann schob er einen Stapel der staubgrauen, pissegelben und schnitzelrosa Pappendeckel beiseite, die seine Kollegen vor Urlaubsantritt beim ihm deponiert hatten. Sie würden sich nicht freuen, wenn sie all ihre Pappendeckel unbearbeitet wieder zurückbekämen, das war sicher. Aber ebenso sicher hätten sie sich eh nicht bedankt und ohnehin hatte der Brand die Langeweile des ostfriesischen Sommers verzehrt und damit die Pflicht, Ordnung in die unerledigten Papiere der Kollegen zu bringen. Wenigstens etwas.

      Roman platzierte die linke Hinterbacke auf der Ecke seines überfüllten Schreibtischs. Dabei sah er an sich hinunter. Kein Wunder, dass Lükkas Augenbrauen fast im Haaransatz verschwanden. Er sah selbst für seine Verhältnisse übel aus. Die knielange Hose war zerknittert und fleckig, auf dem kaffeebraunen Schienbein schillerte ein flächiger Bluterguss. Er drehte seinen Fuß. Aua, deshalb feuerten seine Füße so – die Zehen schienen nur noch aus Brandblasen zu bestehen. An feste Schuhe brauchte er in den nächsten Tagen nicht zu denken. Das war ein Problem, denn mit seinen Sandalen war nicht mehr viel Staat zu machen. Die Sohlen waren angeschmolzen, die vorderen Ränder von der Hitze gewellt. Roman klammerte sich einige Augenblicke an diesen Gedanken, aber es half nichts und er riss sich zusammen.

      »Ich war im Zollhaus«, sagte er endlich und wunderte sich, dass seine Stimme halbwegs vertraut klang.

      Wenn das möglich war, wanderten Lükkas Augenbrauen noch ein paar Zentimeter höher.

      »Da war doch gestern gar kein Programm.« Informiert wie immer, wenn es um Action ging. »Die nächste Party ist am Freitag.«

      »Die wird wohl abgesagt«, entgegnete Roman trocken. Er gab ihr eine Kurzversion der Ereignisse.

      Lükkas hörte ernüchtert zu, notierte sich hin und wieder Stichpunkte in ihrer sauberen, kleinen Schrift, effizient wie immer.

      »Und ihr habt keinen Hinweis darauf gefunden, wer diese Kinder sind?«, fragte sie, als Roman seinen Bericht abgeschlossen hatte. Sie ging hinüber zu dem niedrigen Regal, um sich einen frischen Kaffee zu holen, und schob unterwegs automatisch Romans Schreibtischschublade zu, die mal wieder zwei Fingerbreit offen stand.

      Roman schüttelte den Kopf. »Nichts bisher. Außer, dass sie anscheinend keine Deutschen sind, sondern Türken, Kurden oder so. Was unter dem Schutt noch an Hinweisen zum Vorschein kommt, müssen wir abwarten.«

      Allzu viel würde es vermutlich nicht sein. Nach dem Einsturz des Gebäudes hatten die Flammen den frischen Sauerstoff gierig aufgesogen und sich mit neuer Wut auf Holz, Papier und Stoff gestürzt. Ahrend Berghaus und seine Kollegen hatten es glücklicherweise geschafft, das Haus zu verlassen, ehe die gusseisernen Stützen der Innenkonstruktion der Hitze nachgegeben hatten und das Zollhaus in sich zusammengefallen war. Aus den Trümmern hatten sie die Leiche eines älteren Jungen geborgen, vielleicht zwölf Jahre alt. Auch für das Mädchen war Romans Hilfe zu spät gekommen.

      »Hoffentlich kommt der Kleine durch, den Ahrend zuerst im Treppenhaus gefunden hat. Dann erfahren wir wenigstens, wer er ist und wo seine Eltern sind.«

      Erwachsene hatten sie trotz gründlicher Suche nicht entdeckt. Roman rieb sich die stoppelige Wange und fuhr sich mit den gespreizten Fingern durch die Haare. Ascheflöckchen rieselten auf den Schreibtisch, die Spitzen der gut schulterlangen Strähnen waren gekräuselt und verschmolzen.

      Er wühlte in der großen Hosentasche nach seinem Haargummi, um die versengte Mähne in einem Pferdeschwanz zu bändigen, und hielt das Plüschtier in der Hand, das er im Zollhaus gefunden und nach dem Umziehen zusammen mit der Taschenlampe in die geräumige Tasche seiner Shorts geschoben hatte. Ein kleiner Eisbär war es, knapp zwanzig Zentimeter lang, mit einer blauen Schleife um den Hals und leicht verpeiltem Gesichtsausdruck, als hätte ihm gerade einer die Eisbärin unter dem pelzigen Bauch weggeklaut. Fürsorglich pustete Roman die Asche aus dem weichen Fell. »Schwer entflammbar«, las er mit schiefem Grinsen vor, ehe er das Spielzeug auf den obersten Aktendeckel setzte. »Unser bisher wichtigster Zeuge. Möchten Sie zur Sache aussagen? Ich würde gerne ein Tonband mitlaufen lassen.«

      Lükka atmete verstohlen auf und erwiderte das Lächeln. Kriminalkommissar Roman Sturm war auf dem Weg der Besserung.

      3.

      »Über zehn Jahre Arbeit – alles zum Teufel.« Die kräftige Frau mit den kurzen braunen Haaren war sichtlich erschüttert. »Sie glauben gar nicht, was wir hier alles an Arbeit reingesteckt haben. Und an Geld natürlich auch.«

      Roman Sturm glaubte es durchaus, denn er hatte das Zollhaus gesehen, als die Sanierung nach fünfzehn Jahren Leerstand eben erst begonnen hatte. Hunderttausende waren verbaut worden, bis man das Dach neu gedeckt, Klos und Bühnen eingebaut und überhaupt alles so weit hergerichtet hatte, dass in dem denkmalgeschützten Gründerzeitbau gefahrloses Leben


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