H. G. Wells – Gesammelte Werke. Herbert George Wells
Читать онлайн книгу.fuhr unter einer leichten Berührung zusammen und sah, wie mir ein dünnes Blatt fahler Flechten über den Schuh schlug. Ich trat danach und es zerfiel zu Pulver, und jedes Fleckchen begann zu wachsen.
Ich hörte Cavor scharf aufschreien und sah, dass ihn eines der festgewachsenen Bajonette des Strauchwerks gestochen hatte.
Er zögerte, feine Augen suchten unter den Felsen um uns. Ein plötzlicher rosiger Schein war einen rauen Felspfeiler emporgekrochen. Es war ein ganz merkwürdiges Rosa, ein fahles Magenta.
»Sehn Sie!«, sagte ich und drehte mich um, aber siehe, Cavor war verschwunden.
Einen Moment stand ich gebannt. Dann tat ich einen hastigen Schritt, um über den Rand des Felsens zu blicken. Aber in meiner Überraschung über sein Verschwinden vergaß ich von neuem, dass wir auf dem Monde waren. Der Druck meines Fußes, den ich zum Schritt ausübte, hätte mich auf der Erde einen Meter weit getragen, auf dem Monde trug er mich sechs – gute fünf Meter über den Rand hinaus. Im Moment hatte das etwa die Wirkung jenes Albs, in dem man fällt und fällt. Denn während man auf der Erde in der ersten Sekunde eines Falls sechzehn Fuß fällt, fällt man auf dem Monde zwei, und mit nur einem Sechstel seines Gewichts. Ich fiel, oder ich sprang vielmehr zehn Meter hinab, denke ich. Es schien eine ganze Zeit zu dauern, fünf oder sechs Sekunden, sollte ich meinen. Ich schwebte durch die Luft und fiel wie eine Feder, knietief in eine Schneetrift auf dem Boden einer Rinne aus blaugrauem, weißgeädertem Fels hinein.
Ich blickte mich um. »Cavor!«, rief ich; aber kein Cavor war zu sehen.
»Cavor!«, rief ich lauter, und die Felsen warfen mir ihr Echo zurück.
Ich wandte mich wild, zu den Felsen und kletterte auf ihre Gipfel. »Cavor!«, rief ich. Meine Stimme klang wie die Stimme eines verlorenen Lammes.
Auch die Sphäre war außer Sicht, und einen Moment bedrückte mir ein furchtbares Gefühl der Verlassenheit das Herz.
Dann sah ich ihn. Er lachte und gestikulierte, um meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Er stand auf einem nackten Felsstück zwanzig oder dreißig Meter entfernt. Seine Stimme konnte ich nicht hören, aber seine Gesten sagten: »Springen Sie!« Ich zögerte; die Entfernung schien enorm. Aber ich überlegte mir, ich müsse doch sicher imstande sein, eine größere Entfernung zu nehmen als Cavor.
Ich tat einen Schritt zurück, nahm mich zusammen und sprang mit aller Macht. Ich schien geradewegs in die Lust emporzuschießen, als sollte ich nie wieder herunterkommen …
Es war furchtbar und reizvoll, und so wild wie ein Alb, auf diese Art davonfliegen. Ich sah gleich, dass mein Sprung viel zu heftig gewesen war. Ich flog glatt über Cavors Kopf weg, und sah eine stachlige Wirrnis in einem Spalt meinem Fall entgegenstarren. Ich stieß einen Schreckensschrei aus. Ich streckte die Hände vor mich hin und spannte meine Beine.
Ich schlug auf eine pilzartige Masse, die rings um mich aufspritzte und nach allen Richtungen hin eine Masse orangefarbener Sporen fortschleuderte und mich mit orangegelben Pulver bedeckte. Ich überschlug mich sprudelnd und kam, von atemlosem Lachen geschüttet, zur Ruhe.
Ich sah Cavors kleines, rundes Gesicht über eine borstige Hecke spähen. Er rief eine matte Frage. »Eh?«, versuchte ich zu rufen, konnte es aber vor Atemmangel nicht. Er arbeitete sich zu mir hin, indem er vorsichtig durch die Büsche kam.
»Wir müssen uns in acht nehmen«, sagte er. »Dieser Mond hat keine Zucht. Er wird uns noch zerschmettern lassen.«
Er half mir auf die Füße. »Sie haben sich zu sehr angestrengt«, sagte er, indem er mit der Hand auf das gelbe Zeug klopfte, um es von meinem Anzug zu entfernen.
Ich stand passiv und keuchend da und ließ ihn mir die Gallerte von Knien und Ellbogen schlagen und über mein Missgeschick predigen. »Wir berücksichtigen die Gravitation nicht genug. Unsere Muskeln sind noch kaum erzogen. Wir müssen ein wenig üben, wenn Sie wieder zu Atem gekommen sind.«
Ich zog mir zwei oder drei kleine Dornen aus der Hand und blieb eine Zeit lang auf einem Felsblock sitzen. Mir bebten die Muskeln, und ich hatte jenes Gefühl der persönlichen Enttäuschung, das auf der Erde den befällt, der beim Erlernen des Radfahrens den ersten Fall tut.
Plötzlich fiel es Cavor ein, die kalte Luft in dem Spalt könne mir nach dem Sonnenglanz ein Fieber geben. So kletterten wir in den Sonnenschein zurück. Wir fanden, dass ich von meinem Sturz außer ein paar Abschürfungen keinerlei ernste Beschädigung davongetragen hatte, und auf Cavors Vorschlag blickten wir uns dann nach einem sicheren und leichten Landeplatz für meinen nächsten Sprung um. Wir wählten eine Felsenplatte in etwa zehn Meter Entfernung, die durch ein kleines Dickicht von olivengrünen Dornen von uns getrennt war.
»Stellen Sie sich vor, es wäre da!«, sagte Cavor, der die Miene eines Trainers annahm, und er zeigte auf eine Stelle, die von meinen Zehen etwa vier Fuß entfernt war. Diesen Sprung brachte ich ohne Schwierigkeit fertig, und ich muss gestehen, ich fand eine gewisse Befriedigung darin, dass Cavor um einen Fuß oder so zu kurz sprang und die Dornen des Gestrüpps zu kosten bekam. »Man muss sich in acht nehmen, sehen Sie!«, sagte er und zog sich die Dornen heraus, und damit hörte er auf, mein Mentor zu sein und wurde mein Mitlehrling in der Kunst der Bewegung auf dem Monde.
Wir wählten einen noch leichteren Sprung und taten ihn ohne Schwierigkeit; dann sprangen wir wieder zurück, und so mehrmals hin und her, indem wir unsere Muskeln an den neuen Maßstab gewöhnten. Ich hätte es nie geglaubt, wenn ich es nicht ausprobiert hätte, wie schnell diese Anpassung vor sich gehen würde. In ganz kurzer Zeit, sicher nach weniger als dreißig Sprüngen, konnten wir die für eine Entfernung nötige Anstrengung mit fast irdischer Sicherheit beurteilen.
Und noch während all der Zeit wuchsen die Mondpflanzen um uns, immer höher und dichter und wirrer, jeden Augenblick dicker und größer, dornige Pflanzen, grüne Kaktusmassen, Pilze, fleischige und flechtenartige Dinge, die seltsamsten strahligen und gewundenen Gestalten. Aber wir waren so mit unserm Springen beschäftigt, dass wir eine Zeit lang nicht auf ihre unentwegte Entfaltung achteten.
Eine außerordentliche Gehobenheit hatte uns ergriffen. Zum Teil glaube ich, war es das Gefühl der Befreiung aus dem Gefängnis der Sphäre. Hauptsächlich aber war es die dünne Frische der Luft, die, wie ich sicher glaube, einen viel höheren Bruchteil Sauerstoff enthielt als unsere irdische Atmosphäre. Trotz der Fremdartigkeit unserer ganzen Umgebung fühlte ich mich so abenteuerlich und experimentell, wie sich ein Cockney fühlen würde, den man zum ersten Mal unter die Berge stellte; und ich glaube nicht, dass es einem von uns einfiel, obgleich wir dem Unbekannten von