CLOWNFLEISCH. Tim Curran
Читать онлайн книгу.Als sie an die Stelle zurückkommt, wo sie ihr Telefon fallenlassen hat, tritt sie auf etwas Hartes.
Toll, diese beschissene Nacht wird echt immer besser!
Sie durchwühlt den Schnee und findet schließlich ihr Handy. Na super. Mit ihrem eigenen Gewicht hat sie Schnee zwischen die Tasten gedrückt und das Display hat jetzt einen Sprung. Sie versucht den Schnee aus den Ritzen zu kriegen, hat aber mit ihren betäubten Fingern nicht viel Erfolg damit. Die Knöpfe reagieren nicht und auf dem Bildschirm ist nur noch eine wirre Ansammlung von Pixeln zu erkennen. Sie fällt auf die Knie und würde am liebsten losheulen. Der Wind bläst ihr unaufhörlich Schnee ins Gesicht und die Kälte kriecht immer tiefer in ihre Kleidung. Sie kann sich keine hoffnungslosere Situation vorstellen. Doch dann macht sie sich bewusst, dass sie in zehn Minuten im Ort sein könnte, wenn sie jetzt losgeht.
Tja, wenn …
Aber sie weiß, dass sie den Unfallort nicht verlassen kann, ohne zumindest kurz nach der Person zu suchen, die sie überfahren hat, denn die Schuldgefühle würden sie zerstören.
Du hast gesehen, was es war.
Und das ist es, was ihr wirklich zu denken gibt. Ein Clown? In einem Blizzard? Allein die Idee ist absurd. Sie muss dabei sofort an durchgeknallte Massenmörder denken, denn abgesehen von irgendwelchen psychischen Störungen kann es keinen Grund geben, in diesem Unwetter in einem solchen Kostüm unterwegs zu sein. Und das macht ihr letzten Endes noch viel mehr Angst als der Sturm.
Das Wichtigste ist aber, dass ihr arschkalt ist. Entweder sie läuft jetzt sofort los, oder sie schaut nach der Leiche. Wie immer gewinnt bei dieser Entscheidung der verdammte Helferkomplex der Familie Keller.
Mit der Taschenlampe in der Hand quält sie sich durch die Schneewehen. Sie muss allerdings gar nicht allzu weit gehen, maximal fünfzehn bis zwanzig Meter. Die Spuren des Toyotas verschwinden zwar bereits, doch sie kann immer noch sehen, wo sie ins Schlingern gekommen ist.
Dann sieht sie das Blut.
Es ist zwar schon teilweise von Schnee bedeckt, aber im Schein der Taschenlampe sieht sie dennoch genug, um zu wissen, dass hier jemand schwer verletzt wurde.
So viel Blut … das kann niemand überlebt haben.
Trotzdem sieht sie keine Leiche. Aber bei diesem Wetter sieht man sowieso nicht viel.
Der Schnee tobt um sie herum und scheint nach und nach alles zu verschlucken. Einige der Schneewehen sind schon fast einen Meter hoch. Darunter könnte locker eine Leiche liegen. Mit ihrem Stiefel bohrt sie vorsichtig in einen der großen Haufen, doch da ist nichts. Es ist einfach nur eine riesige Schneemasse, und ähnliche Ansammlungen sind überall. Es könnten ein Dutzend tote Clowns um sie herum liegen.
Denk doch nicht so einen Blödsinn!
Es gibt also keine andere Möglichkeit, als nach Craw Falls zu laufen, um den Sheriff und seine Leute zu holen.
Die werden schon wissen, wie man mit so einer Situation umgeht. Sie macht ein paar Schritte und hält dann sofort wieder inne, denn sie hört etwas, das nicht hierher gehört.
Was ist das?
Der Wind pfeift über die leeren Felder und der Schnee scheint förmlich zu flüstern, während er um sie herumtanzt. Die ganze Welt wirkt wie ein weißer Friedhof.
Doch da ist das Geräusch schon wieder … ein seltsames Klappern … so als würde man eine Babyrassel schütteln. Scheiß drauf, denkt Gina.
Sie macht sich wieder auf den Weg in Richtung der Ortschaft und weigert sich, weiter über das Geräusch nachzudenken. Sie will einfach nur einen Schritt vor den anderen setzen, doch dann wird sie auf einmal von panischer Angst erfüllt, denn etwas hat sie am Fußknöchel gepackt!
Sie stößt einen entsetzten Schrei aus, als sie sieht, was genau sie da festhält: Es ist eine wulstige, missgebildete, weiße Hand. Im Schein der Taschenlampe sieht es fast wie ein Handschuh aus, doch es ist keiner. Denn Handschuhe haben keine pulsierenden Venen, und was sie erst recht nicht haben, sind lange, gelbe Krallen.
Gina fällt schreiend in den Schnee.
Der Griff der Hand ist fest wie ein Schraubstock. Sie wird durch den Schnee gezogen und das Nächste, was sie mitbekommt, ist, dass sie fliegt. Kurz darauf stürzt sie mit dem Kopf voran in eine Schneewehe. Wie von Sinnen gräbt sie sich heraus und kämpft sich dann auf allen vieren aus dem Graben zurück auf die Straße. Ihr Kragen ist voller Schnee und sie wischt sich hektisch das Gesicht ab. Ihr Knöchel schmerzt in pulsierenden Wellen.
Sie schaut panisch nach links und rechts.
Doch sie sieht niemanden.
Der Schnee peitscht weiter auf sie ein und bleibt an ihrem Parka kleben. Der Wind jault durch die Bäume. Getrieben von der Angst, schaut sie sich weiter um, doch sie sieht niemanden.
Dennoch weiß sie, dass sie nicht allein ist.
Sie rappelt sich mühsam auf, wobei ihr das Herz bis zum Hals schlägt, und stellt dann erschrocken fest, dass sie ihren schmerzenden Knöchel kaum belasten kann. Ein stechender Schmerz schießt bei jedem Versuch eines Schrittes bis in ihr Knie hinauf. Aber was hat sie für eine Wahl? Wenn sie hier draußen bleibt, wird sie entweder erfrieren oder dieses Ding wird sie kriegen. Also humpelt sie gequält los. Wenn sie Glück hat – was sie kaum glaubt – kann sie vielleicht einen Schneepflug anhalten.
Mach schnell!
Sie konzentriert sich ganz und gar auf ihren Überlebenssinn und marschiert weiter. Alles, was sie jetzt tun kann, ist einen Fuß vor den anderen zu setzen, auch wenn sich ihr Knöchel dabei anfühlt, als würde er in Flammen stehen. Sie versucht so viel Gewicht wie möglich auf ihren anderen Fuß zu verlagern.
Sie weigert sich, an die Gefahr zu denken, in der sie sich gerade befindet. Das kann sie später immer noch machen. Immerhin kann sie schon die Lichter des Ortes sehen. In fünf Minuten wird sie dort sein, wenn Fortuna ihr hold ist. Doch da ertönt wieder dieses klappernde Geräusch.
Oh nein, bitte nicht!
Vor ihr sieht sie jetzt eine verschwommene Bewegung und macht deshalb erschrocken einen Satz nach hinten, wobei sie fast das Gleichgewicht verliert. Schnee stäubt um sie herum auf, dann wird sie plötzlich geschubst. Sie geht zu Boden, steht aber sofort wieder auf. Doch der Clown steht nun direkt vor ihr.
Er ist riesig und deformiert, sein blau-weißer Anzug ist mit verkrustetem Blut befleckt. Sein Gesicht ist blass wie das einer Leiche, seine Nase rot und wulstig, seine Wangen und die Stirn sind mit einem Netzwerk pulsierender, pinker Venen überzogen. Ein paar Strähnen grüner Haare stehen von seinem Schädel ab wie riesige Federn.
Sie hat gerade noch genug Zeit, all das zu erfassen, bevor die gelben Krallen in ihr Gesicht sausen und sie mit solcher Wucht treffen, dass sie in eine fast zwei Meter entfernte Schneewehe geschleudert wird.
Schreiend wischt sie sich den Schnee aus dem Gesicht, doch sie kann immer noch nichts sehen. Die messerscharfen Klauen des Clowns haben ihr Gesicht vom Haaransatz bis zum Kinn zerfetzt und vier klaffende, blutende Gräben hinterlassen. Ihre Unterlippe ist beinahe abgerissen, die Nase aufgeschlitzt und ihre Augen nur noch klaffende Löcher, die sich rasch mit Blut füllen.
Bis die Schmerzen und die Angst in ihrem Gehirn ankommen, ist auch schon eine lähmende Schockstarre eingetreten. Gina geht zu Boden und steht nicht mehr auf. Als der Clown seine Zähne in ihrer Kehle versenkt, ist sie dankenswerterweise bewusstlos.
Kapitel 7
Zwanzig Minuten später ist Sheriff Teague zu der Überzeugung gelangt, dass er die Situation ganz gut im Griff hat. Natürlich hat ihn jeder einzelne dieser nutzlosen Besoffenen im Broken Bottle an seine verfassungsmäßigen Freiheitsrechte erinnert und ihn darüber in Kenntnis gesetzt – ohne bei der Wortwahl allzu zimperlich zu sein – dass er bei der nächsten Wahl keine Chance