Die Frage bleibt. Freda Meissner-Blau
Читать онлайн книгу.und froh, dass es die Au noch gibt. Was heißt stolz? Sie vergessen, ich war doch nicht die Einzige, wir waren Tausende.« Als ob ich eigenhändig mit der linken Hand die Au gerettet hätte!
Also, was war in meinem Leben markant? Weiß ich gar nicht. Es gab viele Hochs und viele Tiefs – als Teile, die ein Ganzes ausmachen.
1WURZELN
Um uns dem ein wenig anzunähern, wer oder was Freda Meissner-Blau vielleicht ist, lassen Sie uns einen Blick werfen auf Ihre sozialen und kulturellen Wurzeln. Wenn Sie an das Herkunftsmilieu zurückdenken, in das Sie vor 87 Jahren hineingeboren worden und in dem Sie aufgewachsen sind: Woran erinnern Sie sich?
An das Haus meiner Großeltern mütterlicherseits. Wenn ich mich daran zurückerinnere, denke ich an Solidität, eine selbstverständliche Beständigkeit, auch an hohe Bildung und Kultur. Ich bin mir immer wie ein Halbidiot vorgekommen, weil ich ja kein perfektes Latein konnte. Latein und Französisch waren selbstverständlich. Und die griechischen Götter schwirrten auch immer durch die Zimmer. Jeder wusste genau, wer der unehelich Gezeugte von irgendeinem Halbgott ist. Auch kunsthistorisch war man gebildet, man war weltoffen, mein Onkel Harry zum Beispiel fuhr nach Ägypten zu Ausgrabungen. Man war sehr an der Vergangenheit orientiert, eigentlich immer an der Vergangenheit, von der Gegenwart wurde wenig gesprochen. Wissen Sie, wenn ich an dieses Milieu zurückdenke, ist das für mich sehr ambivalent.
Das Haus meiner Großeltern mütterlicherseits in Reichenberg
Mein Großvater Wilhelm von Stiepel
Ambivalent?
Ja, und ich muss zunächst über meinen Großvater sprechen, der dabei eine ganz maßgebliche Rolle spielte. Dieser Großvater mütterlicherseits wäre jetzt 160 Jahre alt, er wurde 1854 geboren. Seine Vorfahren waren von Westfalen nach Reichenberg, ins heutige Liberec, in Nordböhmen gezogen. Mein Großvater hatte aus einer kleinen Druckerei eine große Druck- und Verlagsanstalt gemacht. Und als Industrieller trug er stets eine starke innere Verantwortung gegenüber seinen circa achthundert Arbeitern. Das war überhaupt nicht gönnerhaft nach dem Motto »Sei gütig und spende«, sondern er fühlte sich einfach verantwortlich. Er baute ihnen Häuser, die Kinder der Arbeiter wurden zu Weihnachten neu eingekleidet. Man kann so etwas natürlich auch Patriarchentum nennen. Aber er war hoch geachtet und angeblich ein gütiger, auch bescheidener und eher schweigsamer Mensch. Als ich ihn kennenlernte, war er schon sehr schwerhörig, sodass man kaum mit ihm sprechen konnte. Er war schon unerreichbar für mich geworden.
Mein Großvater in seinem Comptoir
Großmutters Biedermeiersalon
So war es für mich ein großer Moment, als er mich eines Tages in sein Comptoir, wie das damals hieß, rief. Ich sehe das wie heute: Der Großvater sitzt in diesem Raum mit lauter dunklen Möbeln an einem großen Schreibtisch unter einer grünen Lampe. Ich sehe seine knochigen Finger unter der Lampe. Plötzlich streicht er mir übers Haar. Das war wie eine Auszeichnung, mir ist ganz warm geworden. In diesem Moment habe ich mich sehr behütet, zugehörig, eigentlich zu Hause gefühlt – ein Gefühl, das ich sonst kaum kannte.
Das Esszimmer
Der Aufgang ins Musikzimmer
Diese Verpflichtung und Verantwortung meines Großvaters gibt es vielleicht heute kaum mehr in dieser Form. Heute gibt’s »hire and fire«, es wird nicht gefragt, ob jemand fünf Kinder hat oder nicht, sondern man fragt, ob jemand genug Profit bringt, sonst raus mit ihm! Für den Preis eines Älteren könnten wir uns doch zwei Jüngere leisten, und dann schmeißen wir auch einen der beiden Jungen raus, und schon haben wir wieder Geld gespart. Dazu diese krasse Individualisierung in unserer heutigen Gesellschaft! Nicht, dass ich möchte, dass wir alle dauernd zusammenhocken, das fände ich anstrengend, regelrecht schrecklich. Aber dieses natürliche Verantwortungsbewusstsein für den Nachbarn, für den Nächsten und Übernächsten scheint mir verloren zu gehen.
Die gute alte Zeit?
Nein, nein, nein. Dieses Milieu empfinde ich wie gesagt rückblickend als unglaublich ambivalent. Mein Großvater ist im Ersten Weltkrieg ein Kriegsgewinnler gewesen. Neben der Druckerei und dem Verlag hatte er noch eine Kofferfabrik. Und als es im Krieg kein Leder mehr gab, fabrizierte er Tornister für Soldaten aus besserem Papiermaché. Das waren Riesenaufträge, und dadurch ist er zu großem Vermögen gekommen. Ich erröte nicht, denn ich hab’s ja nicht gemacht, aber ein bissel peinlich ist mir das schon im Nachhinein. Ich denke an den grausigen Russlandfeldzug, den hat es im Ersten Weltkrieg ja auch schon gegeben: Die Soldaten erfroren, die Tornister weichten auf und zerfielen. Das war für mich keine »Gnade der späten Geburt«, dass ich es erst zwanzig Jahre später erfuhr.
Meine Stiefgroßmutter Anna von Stiepel
Aber wenn ich nochmals an das Haus meiner Großeltern zurückdenke: Jeden Donnerstag gab es ein Hauskonzert im Musiksalon. Meine Großmutter, die eigentlich meine Stiefgroßmutter war, war eine ausgezeichnete Pianistin. Sie kam aus einer Zeit, in der Frauen nichts anderes gelernt haben als Sticken, Tanzen, Musizieren und Singen. Das war’s. Sie gehörte der letzten Generation von Frauen an, die noch nicht an die Universitäten durften, weil man ihnen geistig nichts zutraute. Meine Mutter war dann schon eine der frühen Studentinnen, aber die Stiefgroßmutter noch nicht. Dafür hat sie eben ganz ausgezeichnet Klavier gespielt. Und donnerstags kam der Stadtchirurg dazu, der Geige spielte, und zwei andere »Honoratioren« kamen mit ihren Cellos. Dieser Musiksalon war wunderhübsch, es hingen Gobelins an den Wänden, dort standen auch gobelinüberzogene Bänke mit Goldfusserln, und das Klavier war natürlich ein Steinway. Aber: Bei den Hauskonzerten durften wir Kinder nicht dabei sein. Überhaupt galt im Großelternhaus: »Children should be seen, not heard!«
Die »Alm«, unser Sommerhaus
Für uns Kinder war die sogenannte Alm da. Meine Großeltern hatten für ihre fünf Söhne und Töchter eine wunderhübsche Holzvilla am Waldrand auf einem Hügel bei Reichenberg gebaut, mit einer Aussicht, die ich heute noch vor meinem inneren Auge habe, mit viel Land drum herum. Es gab eine große Kiesterrasse vorm Haus, die mit Rhododendron zugewachsen war. Wie diese Hecken im Frühjahr blühten, habe ich nie vergessen. Es gab eine abschüssige Wiese, mit zwei Felsen am unteren Ende, auf die wir raufklettern konnten; sie hießen die Mimi-Felsen. Die Mimi war meine Mutter. Sie liebte es als junges Mädchen auf die Felsen zu klettern. Wir haben schon bald in Linz und dann in Wien gewohnt, aber wir kehrten in den Ferien immer wieder auf die Alm nach Reichenberg zurück, auch meine Cousins und Cousinen. Hier auf der Alm, auf der Wiese konnten wir herumtoben und laut sein.
Aber sonst musste immer alles so liebenswürdig sein. Es durfte nie Streit geben. Gefühle wurden nicht gezeigt, über Gefühle wurde nicht gesprochen, schon gar nicht über negative Gefühle. Einfach undenkbar! Und als Kind hattest du zu bitten. Wir durften nicht einfach etwas zu essen nehmen – so wie später meine Kinder. Die sind reingekommen und haben sich eine Banane genommen, ganz selbstverständlich. Nein, damals musste man um alles bitten. Die Küche war im Untergeschoß, gegessen wurde im Obergeschoß.