Die Frage bleibt. Freda Meissner-Blau

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Die Frage bleibt - Freda Meissner-Blau


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der gerade seine Frau verloren hatte, mit der Änni befreundet gewesen war. Der Herr Regierungsrat war gewöhnt, dass seine Brötchen gewärmt werden und sein Ei gerade richtig ist. Er brauchte wieder eine Frau. So hat er meine Tante Änni geheiratet. Das war schlimm für sie, jetzt wurde sie wirklich eingeengt. Sie verlor nun endgültig ihr strahlendes Lächeln.

      Änni hatte mich immer »Dächslein« genannt, von Dachs. Das mochte ich so gern. Eine Tante, die aber nur eine Nenn-Tante war, nannte mich übrigens »Friedrich«. Das liebte ich. Ich wäre ja so gerne ein Junge gewesen. Aber die Änni war ein Vorbild für mich: Mit ihrem Die-Welt-Umarmen, sie hat immer die Welt umarmt. Die Natur hat sie umarmt, sie konnte in Entzücken geraten über eine Heidelbeer- oder Erikahalde. Sie erstrahlte ganz von innen, sobald sie glücklich war, und sie war oft glücklich. Sie hatte so was ungeheuer Freies. Ich habe sie geliebt dafür. Aber sie hat in ihrem Leben leider nie, wie ich später, die Chance bekommen, wirklich sie selbst zu sein, sondern eigentlich immer nur Schläge. Wissen Sie, ich habe jetzt Jahrzehnte nicht an die Tante Änni gedacht, ich freue mich, dass ich sie jetzt wieder vor Augen habe. Sie hätte sich auch gefreut. »Ah, mein Dächslein!« Sie war ein toller Mensch, und sie war eigentlich die Einzige in der Familie, die ich richtig gerne hatte. Nein, das stimmt nicht …

       Wer war da noch?

      Mein liebster Onkel, einer der beiden Halbbrüder meiner Mutter, der Onkel Harry. Ihn habe ich auch sehr bewundert. Er war Junggeselle und lebte sein Leben. Er hatte im großen Stadthaus der Großeltern zwei große Zimmer unter dem Dach, die er sich sehr fesch eingerichtet hatte. In diesem Appartement hatte er einen Boxsack aus Leder, mit dem er trainierte. Onkel Harry selbst war auch sehr fesch, sportlich und modern. Er hatte damals schon einen Flitzer, eine »décapotable«, also ein Cabrio, das war eindrucksvoll. Er war in Ägypten und Amerika gewesen. Damals war das ja noch was, und das hat mir alles sehr imponiert. Dieser Onkel Harry hatte eine Eigenschaft, die ihn von allen anderen unterschieden und die mich tief berührt hat: Er hat meine Schwester Doris und mich, wir wurden ja immer zu zweit genommen, nicht wie kleine Kinder, sondern wie Menschen behandelt. Ich muss so acht oder neun Jahre alt gewesen sein, er hatte Doris und mich in sein Appartement eingeladen. Wir sitzen in den Fauteuils, er bietet uns Likör und eine Zigarette an – ägyptische Zigaretten mit bunten Mundstücken. Wir waren hingerissen! (beide lachen)

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       Onkel Harry

       Die große, weite Welt …

      Ja, und die Freiheit. Er verkörperte für mich die Idee der Freiheit. Aber dieser Onkel Harry bringt sich plötzlich mit 27 Jahren um, er schießt sich in den Kopf. Das hat mich als Kind, das ich damals war, sehr nachdenklich gemacht. Zuerst einmal war ich geschockt, denn das war ja eigentlich meine erste Konfrontation mit dem Tod. Ich habe natürlich mit niemandem darüber reden können; wie immer hat man die Dinge mit sich selbst ausmachen müssen. Ich habe gestaunt, wie leise das alles in dem Haus vor sich ging. Das muss doch ein Zusammenbruch gewesen sein: Dieser strahlende Jüngling, mit dieser Zukunft, die er als Erbe hatte, die kaum jemand in der Welt hat, der bringt sich um. Aber es wurde alles korrekt abgewickelt. Natürlich gab es Tränen, wie sich das gehört, aber es war eigentlich mehr ein stilles Entsetzen darüber, dass das geschehen war, als dass wirklich Emotionen da gewesen wären. Auch in Momenten der Krise wurde Haltung bewahrt, eigentlich unglaublich! Bei meiner Großmutter, die ja seine Mutter war, hatte ich damals immer den Eindruck, dass sie ein steinernes Herz hat.

      Ich habe mir damals gedacht: Dieser Harry war doch so ein Prachtbursche. Wie ist das möglich? Warum denn, warum? Bis endlich einmal meine Mutter sagte: »Ja, er wollte die Sine Holdinghausen heiraten, und die Großmama hat Nein gesagt, obwohl sie aus einer guten Reichenberger Familie stammt.« Das habe ich damals nicht verstanden: Bringt man sich deshalb um? Dann heiratet man sie doch trotzdem, ist doch ganz einfach, wenn man sie heiraten will. So folgsam war der nicht. Der machte doch sonst auch, was er wollte, Großmama hin, Großmama her. Jetzt, vor wenigen Jahren, habe ich einen uralten Herrn, der muss weit über neunzig gewesen sein, in Wien getroffen, einen ehemaligen Freund von meinem Onkel Harry. Von ihm habe ich erfahren, dass Harry homosexuell war. Er ist immer wieder in düsteren Lokalen gesehen worden; anderswo konnten Homosexuelle damals nicht hingehen. Und heute denke ich mir: Da hat er sich lieber umgebracht als in einer Welt zu leben, in der man die eigene Homosexualität verbergen muss. Oder ist er möglicherweise wegen seiner Homosexualität erpresst worden?

       Wenn ich Ihnen so zuhöre, entsteht bei mir das Bild, dass Sie sich schon sehr früh gerade mit denen, die sich aufgelehnt oder dem Mainstream nicht entsprochen haben, verbunden fühlten.

      Ja, das stimmt schon, aber es war noch mehr. Ich spürte damals bereits so etwas wie Empörung. Bei dieser Geschichte mit dem Gärtnerburschen war ich ja furchtbar zornig auf die Großmama. Vielleicht liegt da eine der Ursachen für mein späteres Rebellieren. Aber als Kind habe ich mich in meiner Empörung oft hilflos gefühlt. Wenn mein Bruder mich immer wieder im Schwitzkasten hielt, war ich zwar wütend, konnte mich aber nicht wehren. Erst sehr viel später bin ich draufgekommen, dass man sich wehren und etwas verändern kann.

      Dazu erzähle ich Ihnen noch eine Geschichte aus Reichenberg: Ich erinnere mich noch gut daran, als im Sommer 1939 mein Großvater gestorben ist. Da war ich zwölf Jahre alt. Bei seiner Beerdigung gab es einen Zug zum Familiengrab, der durch ganz Reichenberg zum Friedhof führte. Alle weinten, nur ich nicht; und ich dachte mir, alle weinen, ich müsste eigentlich auch weinen. Aber ich konnte keinen Grund finden, ich konnte nicht weinen. Na, hab ich halt nicht geweint. Der Großvater war schon so entfernt, ich habe das nicht als schlimm empfunden. Er war ja schon sehr alt, weit über achtzig, und das war damals extrem alt. Und wie wir auf dem Weg zum Familiengrab sind, sind plötzlich alle achthundert Arbeiter der Fabrik aufgereiht Spalier gestanden. Am Beginn des Beerdigungszuges wurde der Sarg von Pferden gezogen, dann kamen die Großmama, die Onkel und Tanten und dann wir Enkelkinder. Als wir an den Arbeitern mit ihren abgearbeiteten Händen vorbeigehen, verbeugen die sich alle tief. Mir wurde richtig heiß vor Unwohlsein. Ich vergesse nie dieses Gefühl, das ich damals hatte. Ich war empört, und ich habe mich geschämt vor ihnen. Ich habe mich richtig geschämt, dass ich da durchtanze und die sich verbeugen. Ich kannte ja einige von ihnen aus der Fabrik. Da war zum Beispiel der Eduard, der immer das große Fabriktor aufmachte und so eine Art Hausmeister war. Er war eigentlich Friseur, ein g’spaßiger Bursche, den mochte ich. Der stand auch da, und ich hatte das Gefühl, die dürfen sich doch nicht vor uns Kindern verbeugen.

       Also Sie hatten schon früh so etwas wie ein soziales Gewissen?

      Kann schon sein, das muss wohl sehr tief sitzen, denn ich weiß nicht, woher das wirklich gekommen ist. Es muss etwas sein, an das ich mich nicht erinnern kann, oder gibt’s so etwas wie eine Genetik des sozialen Gewissens? Meine Mutter hatte das übrigens auch, aber in einer Art und Weise, gegen die ich ein bissel rebellierte. Die Mami war ungeheuer »charitable«, so typisch wohltätig. In den 1930er Jahren gab es noch zahlreiche Invaliden aus dem Ersten Weltkrieg. Viele hatten nur mehr ein Bein. Ich sehe heute noch diese Holzprothesen vor mir, die Stöcke, mit denen sie gegangen sind. Und die meisten hatten nur eine abgefetzte Kriegsuniform; sie hatten seither nichts Neues bekommen. Ausgesteuert hieß das damals. Sie wissen, was ausgesteuert ist? Wenn überhaupt nichts mehr an sie gezahlt wird. So sind sie betteln gegangen, konnten auch nichts anderes tun als betteln oder mit dem Leierkasten spielen.

      Die Kriegsinvaliden waren klarerweise oft in der Villengegend in Linz, wo wir damals gewohnt haben, unterwegs, obwohl ich glaube, sie hätten bei den einfachen Leuten wahrscheinlich mehr gekriegt. Mich schickte die Mami immer, um ihnen eine Suppe und Brot zu bringen. Ich habe das gerne gemacht, habe die Männer auch stets beobachtet, ob sie essen. Eines Tages sage ich zur Mami: »Warum lässt du sie nicht hier bei uns essen?« Da war sie verlegen. Schließlich erlaubte sie es aber doch, dass welche zu uns essen kommen, zwei Bauernmädel aus der Nähe. Die Bauern hatten ihre ganze Ernte abgeben müssen; und die beiden waren nun unsere Esskinder und kamen regelmäßig, um zumindest eine warme Mahlzeit zu bekommen. Aber auch die mussten sie in der Küche einnehmen und nicht mit uns zusammen. Ich mochte die beiden und wollte mit ihnen spielen, sie waren


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