Die Frage bleibt. Freda Meissner-Blau

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Die Frage bleibt - Freda Meissner-Blau


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Sie dachte nach, und dann fiel ihr zum Glück etwas ein: »Weil sie Läuse haben. Sie dürfen nicht mit uns essen, weil sie Läuse haben.« Sie hatte nicht den Mut zu sagen: »Weil sie nicht unsere Klasse sind.« Immerhin, sie hat sich ein wenig dafür geniert, das mit den Läusen zu sagen.

      Dennoch: Sie war mir ein Vorbild dafür, dass man etwas tut, wenn’s anderen schlecht geht, dass man andere nicht hungern lässt. Wenn man selber etwas zu essen hat, dann gibt man auch. Das verdanke ich ihr – auch wenn es für sie eher Almosen waren, und für mich war es eine Frage der Gerechtigkeit. Aber es geht ums Tun, und sie hat etwas getan.

      2IM ELTERNHAUS

       Zuvor haben Sie über die Reichenberger Großeltern erzählt. Von Ihren Eltern war bislang noch nicht so viel die Rede. Wie waren Ihre Mutter, Ihr Vater? Und wie erlebten Sie Ihre Kindheit im Hause Meissner zunächst in Linz und dann in Wien, wo Sie in den 1930er Jahren gelebt haben?

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       Meine Mutter, »Mimikatz« von Stiepel

      Meine Mutter kam aus diesem Reichenberger bürgerlichen Milieu. Ich habe schon erzählt, dass meine Großmutter eigentlich meine Stiefgroßmutter war. Denn die Mutter meiner Mutter ist an Krebs gestorben, als meine Mutter drei Jahre alt war. Dann hat mein Großvater für die Mimikatz, wie meine Mutter genannt wurde, eine zweite Mutter gesucht und ist bei einer Rechtsanwaltsfamilie in Wien gelandet. Das ist sicher eine arrangierte Sache gewesen. Meine Stiefgroßmutter hat fünf weitere Kinder gekriegt, das waren die Halbgeschwister meiner Mutter und die Tanten und Onkel, von denen ich bereits erzählt habe.

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       Sie war eine leidenschaftliche Alpinistin.

      Meine Mutter hing enorm an ihrem Vater. Der hatte ihr die Welt geöffnet, er ist mit ihr nach Südtirol gefahren, nach Meran, und hat ihr die Dolomiten gezeigt. So ist sie zu einer leidenschaftlichen Alpinistin geworden. Dann hat sie einige Jahre in England verbracht, »finishing school« hieß das damals, wo sie auf ein bürgerliches Leben vorbereitet wurde. Ansonsten hat sie noch mit Privatlehrern studiert, sie durfte in kein Knabengymnasium gehen, das war noch ein Tabu. Sie war wahnsinnig ehrgeizig und hat dann jährlich die Prüfungen vor den Professoren in der Bubenschule mit Auszeichnung gemacht. Sie konnte Altgriechisch und fing alles Mögliche an, interessierte sich für Archäologie und studierte schließlich Kunstgeschichte.

      Ihr vieles Lernen war aber auch Kompensation. Denn für meine Mutter wird’s nicht lustig gewesen sein. Ihre leibliche Mutter hatte sie kaum gekannt. Sie hat sie nur als Sterbende in einem dunklen Zimmer gesehen, in das sie von der Gouvernante einmal in der Woche geführt wurde. Sie hat sie nie umarmt, da stand das kleine Mädchen und wurde wieder rausgeführt. Und dann bekam sie eine Stiefmutter, diese strenge Frau, die fünf eigene Kinder bekam, und sie als Große wurde kaum beachtet. Mutterliebe hat meine Mutter nie gekannt. Und wenn man Mutterliebe nicht empfangen hat, kann man sie auch nicht geben. Das ist unmöglich. Da bin ich aber erst später als Erwachsene in meiner Psychoanalyse draufgekommen. Ich habe innerlich immer etwas von ihr sehnsüchtig gefordert, was sie ratlos machte, und ich wusste nicht genau, was das ist, was ich erwarte. Das blieb als Spannung zwischen uns bis in ihr Alter.

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       Mein Vater, Ferry von Meissner

      Und was meinen Vater betrifft: Dem war ich eigentlich tief verbunden. Ich habe ihn sehr verehrt, bewundert und hätte nur eines gewollt: dass er mich beachtet und dass ich Anerkennung von ihm bekomme. Aber mein Herr Papa war immer viel zu sehr mit sich befasst. Stets war er weg, war fast nie zu Hause. Eine Tante in Linz hat gesagt: »Den Ferry, den trifft man nur am Bahnhof, entweder fährt er in die Berge oder er kommt vom Gebirge.« Durch meine Mutter war er nämlich vom Alpinismus angesteckt worden. Und als er wieder einmal übersiedeln und irgendetwas anderes machen wollte, sagte meine Mutter: »Ferry, so denk doch an die Kinder!« Er hat angeblich geantwortet: »Die Kinder können mir jetzt nichts bedeuten.« Mein Vater war eigentlich immer auf der Flucht, meist wohl vor sich selbst. Ich bin ja später auch zu einer Flüchtenden geworden.

       Aus welchem Milieu kam denn Ihr Vater?

      Er war der jüngere von zwei Söhnen eines k. u. k. Obersten, dann Generals im Ersten Weltkrieg, und der sogenannten Güldenen Mitzerl, die dieses »epitheton ornans« in der Armee bekam, weil sie so wunderhübsch gewesen sein soll. Der erste Sohn, mein Onkel Rudi, war ein sehr sanftes, liebes Kind, der zweite, der Ferry, also mein Vater, war ein aufbegehrendes Kind und wurde später rebellisch, unendlich attraktiv, interessant, klug, eigentlich mit viel zu viel Hirn. Er wurde für mich unbewusst damals zum Sinnbild des Mannes.

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       V. l. n. r.: Großmama Meissner und ihre Söhne Rudi und Ferry

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       Die Prager Großeltern Maria und Rudolf von Meissner von Hohenmeiss

      Meine Mutter und er hatten sich beim Studium der Kunstgeschichte in Prag kennen- und einander lieben gelernt. Prag war eine aufregende Stadt damals, kurz vor dem Ersten Weltkrieg, es gab viele künstlerische und avantgardistische Strömungen, Freundschaften mit Schriftstellern und Komponisten, für meine späteren Eltern eröffnete sich die große Welt. So ist meine Mutter in den Semesterferien bei ihren Eltern in Reichenberg angerückt und hat ihnen erklärt, dass sie sich mit dem Ferry von Meissner verloben möchte. »Kommt nicht infrage! Nie erlauben wir eine derartige Mesalliance!«, war die barsche Antwort. Aber siehe da, meine brave, wohlerzogene Mutter hat anders entschieden. Zurück in Prag sorgte sie höchst entschlossen für eine Schwangerschaft und kehrte nach Hause zurück, um zu erklären: »Jetzt muss ich heiraten!« Worauf die ach so kultivierte Mutter zornig befand: »Wenn du einen Funken Ehre hättest, gingest du mit deiner Schande ins Wasser!« Ein liebevoller Rat, den Mami klugerweise nicht befolgte. Auch war gerade der Erste Weltkrieg ausgebrochen, und sofort gab es Schwierigkeiten, denn mein Vater rückte als Einjährig-Freiwilliger ein. Doch der Kaiser hatte schon ein Dekret herausgegeben, welches jungen Offizieren die Ehe verbot: Er brauchte sie ja als Kanonenfutter. Jetzt herrschte bei meinen Großeltern große Aufregung, und Großmutter nützte die Bekanntschaft ihrer Wiener Familie mit Frau Schratt, der Hofschauspielerin und Gefährtin des Kaisers. Sie bat sie inständig, beim Kaiser einen Heiratsdispens für meinen Vater zu erwirken, was auch geschah. Es war angeblich eine besonders bescheidene und stille Hochzeit. Später kam Vater an die italienische Isonzofront, die er mehrere Jahre durchlitt. Die »Schande«, in der Person meiner Schwester Marianne, hat 1915 in Oberdrauburg in Kärnten das Licht der Welt erblickt.

      Mein Bruder Peter kam 1920 in Leipzig, wo unser Vater Nationalökonomie studierte und 1926 promovierte, auf die damals auch recht unruhige Welt; meine Schwester Doris schließlich 1925 in Prag. Mit ihr hätte die Familie komplett sein sollen. Doch als Papa seine erste Stelle in Dresden bei General Motors (!) annahm, war meine Mutter ein viertes Mal schwanger. Mein Vater fand, dieses Kind sollte nicht geboren werden. So hat es mir jedenfalls meine Mutter später erzählt – verbunden mit einer ziemlich drastischen Beschreibung, wie sehr sie sich bemühte, mich abzutreiben. Ich war in diesem sehr frühen Stadium offensichtlich schon rebellisch genug, mich dem Willen der Eltern nicht zu fügen: Ich blieb frech vorhanden. Schließlich kam auch ich zur Welt, das war im März 1927, und enttäuschte meine Eltern gleich ein zweites Mal: Ich war nicht der – zumindest – erwartete Bub, der Thomas hätte heißen sollen, sondern ein dünnes, rothäutiges Mädchen mit Haarbüscheln auf den Ohren. »Das ist doch kein Kind«, soll meine verehrte Erzeugerin gesagt haben, »das ist ja ein abgehäuteter Hase«! Die Freude war also nicht überwältigend. Aber der Mensch ist doch ein Wesen der Möglichkeiten und alles fließt: Noch bevor ich erwachsen werden sollte, sagte meine Mutter mir, wie herzinniglich froh sie sei, dass es mich gibt.


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