Du gehörst mir. Peter Middendorp
Читать онлайн книгу.in die Scheune ging, wo es steht, ein schwarzes Modell mit Sattel, Handgriffen und Reifen in Beige. In der Frauenvariante nennt man es auch Omarad; der Name Oparad hat meines Wissens nie Anklang gefunden.
Ich bog sofort in die Dorfstraße ein und fuhr über das Klinkerpflaster ins nächste Dorf.
Ich fuhr in die Felder, kam ins Naturschutzgebiet, das Überlaufgebiet.
Bei klarem Wetter konnte man schon die Stadt sehen, eine große Halbkugel aus orangefarbenem Licht am Horizont, wie eine untergehende Sonne; das Versprechen von Freiwilligkeit.
«Dreißig Kilometer hin und dreißig zurück», sagte der Ermittlungsbeamte. Es war der Anfang eines neuen Verhörs, der Morgen war noch frisch. «Mitten in der Nacht, dazu immer dieser Wind.» Er schaute schnell nach links und nach rechts, als würde er etwas suchen. «Warum haben Sie nicht einfach das Auto genommen?»
«Weil ich Fahrrad gefahren bin», sagte ich. «Ja, tut mir leid, aber das ist einfach die beste Antwort. Ich bin mit dem Rad gefahren. Ich bin ein Radfahrer, ich fahre gern Rad.»
«Hatten Sie Angst, man könnte ihr Nummernschild erkennen?»
«Nein», sagte ich. «Wieso? Warum sollte jemand mein Nummernschild erkennen? Warum sollte ich das nicht dürfen? Zu den Huren zu gehen, ist doch nicht verboten!»
«Wenn man etwas vorhat», sagte er, «das das Tageslicht scheut, kann es manchmal praktisch sein, wenn nicht jeder das Nummernschild sieht.»
«Ich hatte nichts vor», sagte ich. «Nichts anderes als ich schon gesagt habe. Nichts, was nicht erlaubt wäre jedenfalls. Ich fahre gern Fahrrad. Es macht mich ruhig, dann kann ich meine Gedanken ordnen. Echt, eine halbe Stunde tüchtig in die Pedale getreten und man fühlt schon, wie sich das ganze Herz-Lungensystem entspannt. Wenn ich zurückkomme, sieht die Welt schon wieder ganz anders aus.»
Sie tauschten einen Blick.
«Radfahren», sagte ich. «Das kennen Sie doch?» Ich lachte. «Schwerer Tag, der Kopf ist voll, Ärger, Lärm, nirgends Ruhe im Haus. Dass man mal kurz raus muss, an die frische Luft?»
Ich fuhr überall hin.
Ich radelte über alle Dörfer in der Umgebung.
Zum Asylbewerberheim, und weiter noch an der Dorfkneipe De Dorelaer vorbei – manchmal bin ich dem Wasser gefolgt, bis ich das Watt riechen konnte.
Die Ermittler begriffen nicht, dass es mir um das Radfahren zu tun war. Sie haben darüber gelacht. Der Spott ist mir nicht entgangen, der Sarkasmus, der harte, ausgehärtete Unglaube. Aber sie lachten mit langen Gesichtern, flach und tonlos, als hätte jemand einen Witz gemacht, der bei näherem Hinsehen doch nicht so witzig war.
5
EIN UNGEÜBTES AUGE SIEHT AUF EINER KOPPEL MIT KÜHEN KEINE ORDNUNG. Man muss erst eine Weile mit ihnen arbeiten, bevor man die Verhältnisse zueinander erkennt, die Unterschiede im Verhalten, und allmählich auch entdeckt, dass in dieser augenscheinlich so lahmen Reihe von Tieren, die jeden Tag in dem gleichen fast willenlosen Tempo zur Weide unterwegs sind, tatsächlich so etwas wie eine Hierarchie existiert.
Manchmal möchte man an dieser Rangordnung etwas verändern. Dann läuft es nicht rund, dann geht alles durcheinander. Man kann aber selbst viel dazutun. Man kann einige absondern und sie aus dem offenen Stall gegenüber ein paar Tage den anderen zusehen lassen. Man kann sie in die gewünschte Reihenfolge zwingen, wenn man das will, wenn es nötig ist, was fast nie vorkommt.
In der Schweiz hängen sie den Tieren in solchen Fällen nach dem Winter andere Glocken um. Eine Dame, die etwas weniger vorlaut sein soll, bekommt eine kleinere, leichtere als sie gewohnt ist; eine junge Kuh, noch etwas schüchtern in der Gruppe, bekommt eine große, schwere.
Wieder auf der Weide kommen die Tiere durch den frustrierenden Klangbrei, den sie selbst fabrizieren, aus dem Tritt. Darum arbeiten sie wieder zusammen, sie müssen ja, sonst werden sie verrückt. So wie ich Fahrrad fahre, laufen sie voreinander her. Sie bewegen den Lärm fort, bis er Musik geworden ist.
In der Küche stand jetzt eine tüchtige Frau, eine Mutter, eine Storkema, mit neben sich in derselben Küche noch einer Frau, noch einer Mutter, noch einer Storkema, alt, aber ungebrochen über eine Einkaufsliste gebeugt, die die andere nicht sehen durfte.
«Wollen wir nicht mal Fisch essen?», versuchte es Ada. «Fisch? Ist gesund, Fisch. Jeden Tag Fleisch ist auch nicht gut, oder?»
Ada konnte sich nicht an unser Kalbfleisch gewöhnen, die Tiere taten ihr immer noch leid, obwohl ich ihr erklärt hatte, dass die andere Option für Stierkälber das Vergastwerden war, so wie bei den männlichen Küken von Legehennen. Was sollte man sonst damit machen? So hatten die Kälbchen noch ein kleines Leben, wenn auch nicht viel, und man selbst hatte auch noch etwas davon. Alle redeten immer von den armen Kälbchen, aber über die männlichen Küken verlor keiner ein Wort.
«Nein», sagte sie, «die männlichen Küken, nach denen kräht kein Hahn.» Und sie fing an zu lachen, was ich mir gemerkt habe, nicht wegen des angeblichen Witzes, sondern weil ich zum allerersten Mal sah, dass jemand etwas verstehen und gleichzeitig nicht verstehen konnte.
Mutter gab keine Antwort.
Vielleicht, dachte ich, war das Haus nicht groß genug für zwei Ehepaare – es waren ja auch noch zwei Kinder hinzugekommen. Es gab zu viele Männer im Haus, zu viele Frauen, zu viele Leiber, Gliedmaßen. Jeden Abend gab es Streit um die Fernbedienung.
«Ich wüsste eigentlich auch noch ein paar Auflaufrezepte», sagte Ada, aber Mutter zog schon den Mantel an, nahm ihre Tasche und ging zur Tür hinaus.
Es war Frühjahr, die Zeit von Amseln, Gänseblümchen; die erste Mäharbeit im Jahr. Am Morgen hatte sich eine Kuh aus der Reihe gelöst. Sie schaute mich an, ich schaute zurück. War es Zuneigung? Dankbarkeit?
Manche Leute sagen, Kühe würden die Bauern lieben wie Geiseln ihre Geiselnehmer, aber wenn das stimmt, kann man von Bauern das Gleiche sagen.
Macht das einen Unterschied?
Aufmerksamkeit ist Aufmerksamkeit, Liebe ist Liebe. Wenn Liebe nicht schon aus Abhängigkeit geboren wird, dann stirbt sie darin.
Liebe wird aufgebaut, Tag für Tag.
Vielleicht ist es Vertrauen.
Jeden Tag Aufmerksamkeit, jeden Tag neues Futter, jeden Tag wieder ein nettes Wort. Die guten Erfahrungen stapeln sich. Jeden Tag kommt wieder ein bisschen Vertrauen obendrauf. Die Kuh fühlt sich immer besser bei dem Bauern, je mehr die Zeit voranschreitet. Am letzten Tag vor der Schlachtung ist ihre Liebe dadurch auf dem Höhepunkt.
Das ist das Verrückte, das Widersprüchliche: In dem Moment, wenn die Gefahr am größten ist, fühlen sich die Kühe am sichersten.
Ada kam und stand hinter mir, eine Hand auf meiner Schulter. Ich frühstückte erst dann, wenn die erste Arbeit getan war, wenn ich ruhig sein konnte, was die Arbeit anging, wenn das Haus auch ruhig war. Durch das Fenster sahen wir Mutter ins Dorf radeln, ohne dass sie sich umdrehte oder winkte.
Eine Weile blieb es still.
Ich versuchte zu kauen, ohne Geräusche zu machen; eine Aufgabe, die umso schwieriger wird, je länger man sie durchzuhalten versucht.
«Dieses Haus», sagte sie. «Dieser Tisch allein schon. Wie lange steht dieser Tisch jetzt schon hier?»
«Lange», sagte ich. «Sehr lange. Schon immer, wenn du mich fragst.»
Der Tisch war braun und robust, mit massiven, quadratischen Beinen. Unter diesem Tisch hatte ich einen Teil meiner frühen Kindheit verbracht. Mutter hörte Platten in dieser Zeit, wir hatten einen Plattenspieler. Das Ave Maria am liebsten. Immer das Ave Maria. Ich kenne den Text noch größtenteils auswendig.
Der Tisch würde noch eine Weile halten, wenn man mich fragt. Ihn zu ersetzen, war noch längst nicht an der Reihe.
«Ja», sagte sie, «das