Du gehörst mir. Peter Middendorp

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Du gehörst mir - Peter Middendorp


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unsere eigene Familie?»

      «Du weißt, was du dann zu hören bekommst», sagte ich.

      Sie hob den Kopf. «Ich entkleide mich nicht früher, als bis ich zu Bette gehe!»

      «Ja, ich entkleide mich nicht früher, als bis ich zu Bette gehe», sagte ich. In der Familie wurde dieser Spruch vom Vater an den Sohn weitergereicht, ich weiß nicht, seit wie vielen Generationen schon. Nicht den Hof konnten die Söhne nach einem halben Arbeitsleben auf demselben bekommen, sondern diesen Spruch. Opa hatte ihn auch gerufen. Bis ins Pflegeheim hatte er es gerufen, obwohl da schon alles auf Vaters Namen überschrieben war.

      «Ich entkleide mich nicht früher, als bis ich zu Bette gehe?», sagte sie. «Sie werden doch wohl hoffentlich verstehen, dass wir wirklich nicht mehr so lange warten können.»

      Ich legte meine Hand auf ihren Schenkel und zwickte sie leicht.

      «Ach, Tille», sagte sie. Sie fasste meine Hand und führte sie mit an ihren warmen Hals. «Ich weiß, woran du denkst. Und du hast sogar recht. Wirklich. Das muss auch anders werden, das ist mir durchaus klar. Aber weißt du, ich halte es manchmal wirklich nicht mehr so richtig aus. Du bist immer draußen, aber ich habe diese Leute den ganzen Tag am Hals.»

      Ich schaute sie an, sie hatte recht, aber was war zu tun? Man konnte meine Eltern nicht mit Gewalt vor die Tür setzen, das heißt, man konnte schon, aber dann gehörte einem der Laden immer noch nicht.

      «Man sollte meinen», sagte sie, «dass es den Leuten gefallen würde, Großeltern zu sein. Dass sie den Kindern mal etwas Aufmerksamkeit zukommen ließen. Etwas Schönes mit ihnen unternähmen, mal auf sie aufpassten. Und wenn es nur deswegen wäre, um mir ab und zu etwas Arbeit abzunehmen.»

      «Sie sind keine Kindernarren», sagte ich. «Kleine Kinder haben ihnen noch nie viel gesagt.»

      «Alles wird irgendwann noch gut, echt», sagte sie. «Mit allem, mit uns. Wenn wir hier erst einmal allein sein könnten.»

      Ada machte mich darauf aufmerksam, dass Vater schwächer wurde. Auf einem Bein habe er sich schon immer sehr behelfen müssen, sagte sie. «Ohne dich hätte er längst keinen Hof mehr.» Aber jetzt war der restliche Körper so alt geworden, dass man das, was er tat, eigentlich nicht mehr arbeiten nennen konnte. «Die Dieselrechnung», sagte sie mitunter, wenn sie ihn auf dem Traktor vorbeikommen sah, mehr Vergnügungsfahrer als Bauer, «dazu trägt er noch bei.»

      Am Nachmittag waren wir mit dem Zaun beschäftigt gewesen. Ich setzte einen Pfahl mit der Spitze in ein Loch. Junge Frauen radelten vorbei, Jungen auch, Mädchen vom Asylbewerberheim. Ein Stück weiter, etwas höher im Land, kam der Pendlerverkehr aus der Stadt in Gang.

      Vater stand zwei Meter von mir entfernt, verbissen, konzentriert vielleicht. Er hob den Hammer hoch, ließ ihn hinter seinem Kopf und Rücken nach unten sinken, unterschätzte jedoch dessen Gewicht und schwankte auf seinen ungleichen Beinen.

      Nachdem er sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte, schaute er mich an. «Ja? Bist du soweit?»

      Suze kam, es sich auch ansehen. Sie trug ein rosa Kleidchen mit Puffärmelchen, darunter eine weiße Bluse. Die runden Wangen, die fleischigen Ärmchen und Beine, das Bäuchlein, das sie immer so wunderbar herausstreckte, der kleine Popo, sie war zum Auffressen.

      Sie stellte ihr Laufrad gegen die Beinprothese ihres Großvaters und schaute zu dem schwankenden Mann mit dem Hammer hinauf.

      Von drinnen klopfte es ans Fenster. Ada stand in der Küche, Friso auf einer Hüfte. Sie winkte, schüttelte den Kopf, gestikulierte und sprach, aber wir verstanden nicht, was sie meinte, und wollten schon weitermachen, doch sie gebärdete sich noch heftiger.

      Meine Mutter hatte sich neben sie gestellt, aber sie gestikulierte nicht, sondern stand einfach da.

      Vater hatte den Hammer im Gras abgestellt, den Stiel nach oben, nahm ihn jetzt aber wieder zur Hand, hob ihn mühsam über seinen rot gewordenen Kopf und ließ ihn wieder hinter seinen Rücken sinken, worauf er abermals zu schwanken begann. «Ja? Kann ich? Bist du soweit?»

      Wieder das Klopfen ans Fenster, viel lauter diesmal.

      Kurz daraufkam Ada nach draußen.

      Von der Auffahrt aus sagte sie: «Was soll das? Jetzt sei nicht verrückt. Das Ding ist viel zu schwer. Überlass das doch Tille. Gleich fällst du noch, oder du verletzt dich. Und schickt Suze da weg. Suze, komm hierher, für Kinder ist es da zu gefährlich!»

      Schon seit Wochen war die Luft spannungsgeladen, es war die Anspannung des Mannes, der weiß, dass sein Abgang vom Sohn und von dessen Frau erzwungen wird, dieser Außenstehenden ohne Gefühl für den bäuerlichen Betrieb. Die Anspannung des Mannes, der diesen Betrieb aufgebaut hatte, über den Zeitpunkt seines Abgangs aber nicht selbst entscheiden durfte.

      «Verdammt», sagte Vater und spuckte sich in die Hände.

      «Jetzt gib das Ding schon Tille», sagte Ada. «Ich will, dass du es ihm auf der Stelle gibst!»

      Mein Vater hatte noch nie ein Wort von Ada an sich herankommen lassen und würde es auch diesmal nicht tun. Er packte den Hammer und schaute zu mir; ich beugte mich vor zu dem Pfahl und versuchte, ihn nur mit meinen Fingerspitzen an Ort und Stelle zu halten.

      «Suze, komm her!», rief Ada. «Tille, nimm die Hand da weg! Sei du wenigstens vernünftig. Gleich passiert noch ein Unglück. Muss es erst ein Unglück geben?»

      Er holte aus.

      Der Hammer landete neben dem Pfahl im Boden, viel niedriger als erwartet, und er ließ den Stiel nicht los, sodass er über den Hammer hinweg fast langsam ins Gras geworfen wurde.

      Beim Essen erzählte Ada ganz beiläufig, dass neue Häuser gebaut würden, auch eigens für Senioren, in dem Neubauviertel direkt am Einkaufszentrum. «Nicht irgendwas», sagte sie, «sondern schöne Häuser. Alles ebenerdig – ideal.»

      Vater schaute sie sprachlos an.

      Ada fiel sofort aus der Rolle. «Ja, tut mir leid», sagte sie. «Tut mir echt leid, aber irgendwann werden wir doch darüber reden müssen. Ich meine jetzt, jetzt, wo alles noch gut geht, wo es auch noch nicht nötig ist.» Sie schaute in die Runde, aber niemand erwiderte ihren Blick. «Nicht wahr? So heißt es doch immer! Dass man die Dinge vereinbaren muss, wenn es noch gut geht!»

      «Mein Papa hat zwei Schniedel», sagte Suze.

      Alle blickten wir zu ihr, der kleinen Suzanne, stolz auf sich und ihre neue Beobachtung. Die dünnen Härchen, weiß noch und fast durchsichtig, hatte sie von Ada, die Augenfarbe von mir. Es war das blasseste, hellste Blau.

      Sie hatte mich auf der Wiese pinkeln sehen.

      Ich hatte ihr die blaue Jacke angezogen. Entlang des Reißverschlusses hatte die Jacke so eine rote Linie, eine Paspel, auch um die Kapuze. Ich weine nie, Ada macht sich manchmal Sorgen deswegen, aber als ich diese kleine Kapuze mit den nass gesabbelten Kordeln um ihr Gesichtchen strammzog, so rosa, rund und weich, da musste ich die Zähne zusammenbeißen.

      Sie hatte die Augen nahe an den Strahl gehalten, als ob es da etwas Besonderes zu sehen gab. Ich ließ sie gewähren. Ein Kind lernt von seinen Eltern, auch was den Körper angeht. Meinetwegen durfte sie sehen, was sie sehen wollte, lernen, was sie lernen wollte, wenn ihr das nötig oder spannend erschien. Von wem sonst sollte sie solche Dinge lernen? Das Tempo bestimmte das Kind selbst.

      Nach dem Pinkeln zog ich meine Vorhaut zurück und schob sie wieder vor, und ich wiederholte diese Handlung einige Male, wobei ich auf dem Weg nach vorn immer leicht zudrückte, damit das Nass nach vorn getrieben wurde und abgeschüttelt werden konnte.

      Da war sie kurz zurückgezuckt. Vor Schreck. Kinderschreck. Sie hatte meine Eichel erblickt. Die hatte sie da noch nie gesehen, es war immer Haut davorgewesen. Sie hatte da nichts mehr erwartet.

      «Das ist eine Eichel», hatte ich ihr erklärt. «Einfach nur eine Eichel. Nichts Besonderes.» Ich hielt es nicht für nötig, das jetzt am Tisch zu wiederholen.

      «Ich entkleide mich nicht früher», sagte


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