Die Todesstrafe I. Jacques Derrida
Читать онлайн книгу.Gegnern der Todesstrafe vorgebrachte Einwand oft der Versuchung unterliege, der maschinenhaften, vermittelten, technologisierten, mechanisierten kalten Vernunft eher polizeilichen und männlichen Anscheins das unmittelbare Gefühl, das Herz, die Affektivität eher weiblichen Anscheins gegenüberzustellen, den Schrecken, den die Grausamkeit der Vollstreckung beziehungsweise Hinrichtung [exécution] auslöst.
Wir werden sehen, dass das Motiv der Grausamkeit in diesem Dispositiv von Argumenten zugunsten der Abschaffung der Todesstrafe eine wichtige Rolle spielen wird, in seiner Logik und in seiner Rhetorik, insbesondere, und zwar auf durchaus komplexe Weise, in den Vereinigten Staaten, so als ob weniger das Prinzip der Todesstrafe in Frage stünde als vielmehr die Grausamkeit ihrer Anwendung, so sehr, dass, wenn man ein Mittel fände, die Grausamkeit abzumildern, ja gar zum Verschwinden zu bringen (im doppelten Sinne des Wortes „verschwinden“ [disparaître]: im Sinne von annullieren oder im Sinne von unsichtbar, nicht-wahrnehmbar, nicht-phänomenal, nicht-erscheinend [non apparaissant] machen, „verbergen“), dass also, wenn man die Grausamkeit der Szene zum Verschwinden bringen könnte, die Todesstrafe, das Prinzip der Todesstrafe aufrechterhalten werden könnte: Man bräuchte nur dafür zu sorgen, dass die Todesstrafe nicht wahrnehmbar, dass sie anästhesiert wird, es würde genügen, sowohl den Verurteilten als auch die Akteure und die Zuschauer zu anästhesieren. Diese anästhetische, anaisthetische oder anästhesiale1 Logik, die also das allgemeine philosophische Problem der Beziehungen zwischen der Sinnlichkeit und der Vernunft, dem Herzen und der Vernunft aufwirft (in seiner absolut unbegrenzten Verästelung, bis hinein in die raffiniertesten Zonen der philosophischen Problematik Kants oder Husserls bezüglich einer transzendentalen Ästhetik, einer Theorie der reinen Sinnlichkeit), diese anästhesiale Logik bestimmter Diskurse zugunsten der Abschaffung der Todesstrafe begibt sich in Wirklichkeit – und sei es, um sich ihr scheinbar zu widersetzen – in die Axiomatik des Rechts auf die Todesstrafe hinein, das die Rationalität der Todesstrafe setzt oder voraussetzt. Diese anästhesiale Logik der Bewegung für die Abschaffung der Todesstrafe kann oft jener Logik in die Hände spielen, die das Prinzip der Todesstrafe aufrechterhält. Wir werden das noch verifizieren. Das anästhesiale Argument bestreitet diese Rationalität nicht, es plädiert nur für eine weniger grausame, weniger schmerzhafte Umsetzung besagter Rationalität. Wir werden gleich oder vielleicht auch etwas später sehen, wozu die Entfaltung dieser anästhesialen Logik im nationalen oder internationalen Recht unserer Moderne führt. Sie bewirkt zum Beispiel, dass man in den Vereinigten Staaten Anhänger der Todesstrafe unter der Bedingung sein kann, dass diese mittels einer tödlichen Injektion und nicht mittels Gaskammer, Hängen oder Erschießen oder mit Hilfe des Elektrischen Stuhls verabreicht [administrée] wird. Das ist auch der Grund für neuerliche spektakuläre Inszenierungen im Kino, woraus sich heute ein ganzes Genre entwickelt, wie zum Beispiel bei jenem Film, der, wenn ich mich recht entsinne, den typischen Titel True Crime2 trägt, in dem ein Journalist zu sehen ist, der den Verdacht eines Justizirrtums hegt, der zu einem Todesurteil geführt habe, und welcher deshalb, nicht aus Gerechtigkeitsliebe, sondern aufgrund seiner Leidenschaft als Nachrichtenjournalist, eine minutiöse Gegenermittlung führt – die die gesamte Dauer des Films einnimmt, die der Film ist – und schließlich die Unschuld des Angeklagten, also den Justizirrtum beweisen kann, wobei er den Beweis just in der Sekunde zu erbringen vermag, da die Exekution bereits im Gange ist und das tödliche Gift bereits begonnen hat, in die Adern des Verurteilten, man könnte fast sagen des Patienten, eines bereits anästhesierten Verurteilten zu fließen; der Telefonanruf des Gouverneurs, der vom Journalisten aus dem Schlaf gerissen worden war, unterbricht die im Gange befindliche Exekution und rettet den unschuldig Verurteilten (einen Weißen übrigens, während der wahre Schuldige wie durch Zufall ein Schwarzer ist3), mit all der Suspense, deren kinematographische Ausbeutung Sie sich vorstellen können, indem alle Vorgänge gezeigt werden, sämtliche Phasen des fortschreitenden Einfließens des Giftes, der Telefonanruf des Gouverneurs in der letzten Sekunde, denn es gibt heute immer ein Telefon, um, wie eine Nabelschnur des Lebens oder des Todes, den Ort der Exekution mit der Exekutivmacht des Souveräns zu verbinden, hier des Gouverneurs, der Gnade gewähren oder die Exekution im letzten Moment, bis zum Augenblick des Todes hin, unterbrechen kann. So dass in zahlreichen Filmen oder Büchern dieses Typs, die scheinbar von der gerechten Sache eines erschrockenen Widerstands gegen die Todesstrafe bewegt werden, das, was zur Schau gestellt wird, eben gerade das ist, was in den medikamentös raffiniertesten Tötungsverfahren an Grausamkeit bleibt, womit die ambivalente voyeuristische Lust des Zuschauers, des Kinobesuchers ausgebeutet wird, der bis zur letzten Sekunde zittert, wenn er dabei zusieht, wie die Flüssigkeit in die Adern des Verurteilten vordringt. Dieses Argument eher gegen die Grausamkeit als gegen das Prinzip der Todesstrafe, ist stark und schwach zugleich, stark, weil es emotional bewegt und also motiviert, eine gute psychologische Motivation zur Abschaffung der Todesstrafe abgibt; aber auch schwach, weil es nur die Modalität der Anwendung, und nicht das Prinzip der Todesstrafe betrifft, und weil es machtlos wird angesichts der angeblich fortschreitenden Abmilderung, einer tendenziell allgemeinen Anästhesie, ja einer Humanisierung der Todesstrafe, die die Grausamkeit sowohl dem Verurteilten als auch den Zeugen ersparen würde, während gleichzeitig das Prinzip der Todesstrafe aufrechterhalten wird.
Das ist der Grund für die unendlich ambivalente, bisweilen scheinheilige Rolle, die dieser Appell an das Gefühl angesichts der Grausamkeit spielt. Er spielt diese Rolle sowohl in der besten Rhetorik unzähliger Plädoyers gegen die Todesstrafe als auch – auf im Grunde entscheidendere, weil noch ambivalentere Weise – in Gesetzestexten+, die in der laufenden Geschichte der Abschaffung der Todesstrafe eine wichtige Rolle gespielt haben werden. Für beide Gebrauchsweisen werde ich einige Beispiele anführen, auf teils begründete, teils willkürliche Weise, denn man könnte auch so viele andere nehmen.
Das erste Beispiel, das ich anführe, da wir uns nun einmal in Frankreich befinden, in einem Land, das die Todesstrafe vor weniger als zwanzig Jahren auf parlamentarischem Wege abgeschafft hat, während die öffentliche Meinung, in Umfragen befragt, in ihrer Mehrheit für die Todesstrafe war und vermutlich immer noch ist, für die sie stimmen würde, falls man ein Referendum organisieren würde oder falls die europäische Gesetzgebung dies erlauben würde, eine doppelte Möglichkeit, die fortan im Prinzip ausgeschlossen ist. Dieses erste Beispiel wähle ich also aus allergrößter Nähe, nämlich das des großen Rechtsanwalts und damaligen Justizministers, des vehementen und erfolgreichen Kämpfers für die Abschaffung der Todesstrafe: Robert Badinter. Robert Badinter hat nicht nur sämtliche Abgeordnete und ganz Frankreich mit seiner Beredsamkeit bewegt, als er bei der Präsentation des Gesetzesvorschlags zur Abschaffung der Todesstrafe im Parlament ihren Schrecken und ihre Grausamkeit konkret vor Augen führte. Er ist auch der Autor, unter anderem, eines Berichts mit dem Titel L’Exécution (1973).4 Ich betone das Datum, 1973, aus einem Grund, der gleich noch erhellt werden wird. In diesem Buch erzählt Badinter also von der Verurteilung zum Tode und von der Exekution zweier Verurteilter, Buffet, eines ehemaligen Fremdenlegionärs, und Bontems5, eines ehemaligen Fallschirmjägers, wobei Buffet von Thierry Lévy und Bontems von Badinter verteidigt worden war. Die beiden wurden damals die Mörder von Clairvaux genannt und beschuldigt, gemeinsam gehandelt zu haben. Ebendies war eine der problematischen Dimensionen der Anklage: Konnte man die beiden Anklagen und die beiden Angeklagten, die angeklagt waren, während eines Überfalls mit Geiselnahme einen Wärter und eine Krankenschwester, die als Geiseln genommen worden waren, ermordet zu haben, voneinander trennen oder nicht. Die Hoffnung und das Plädoyer von Badinter, der seinen Mandanten, Bontems, retten wollte, gründeten auf dieser möglichen Trennung der beiden Angeklagten, Buffet und Bontems. Badinter schreibt:
Wenn wir im Laufe der Verhandlung festhalten könnten, dass Bontems nicht mit dem Messer zugestochen hat, dann würde er nicht nur nicht mehr als ein Geiselmörder erscheinen, sondern seine Opposition zu Buffet würde ihn auch von diesem trennen. Von diesem Moment an wären alle Hoffnungen erlaubt. Selbst das Talionsgesetz käme dann nicht ins Spiel – wer nicht getötet hat, darf nicht getötet werden. Nun denn, voran, wir könnten Bontems Kopf retten.6
Den Kopf, weil es um die Guillotine geht. „Selbst das Talionsgesetz“, sagt Badinter, womit er untergründig zu verstehen gibt, dass er