Die Todesstrafe I. Jacques Derrida
Читать онлайн книгу.ihn bereits fort. Philippe ging ebenfalls, um noch ein wenig mit ihm zu sprechen. Ich hingegen blieb mitten im Tumult sitzen. Man hat uns Recht gegeben, man hat zugegeben, dass er nicht getötet hatte. Gleichwohl hat man diesen Menschen zum Tode verurteilt, bezüglich dessen man zugab, dass er nicht getötet hatte. Ich hielt meine Augen starr auf meine Papiere gerichtet, Notizen, die nun nutzlos geworden waren wie ich selbst. Ich wollte diese Gesichter nicht sehen.16
Kehren wir nun zum Motiv der Grausamkeit zurück, das für uns sowohl aufgrund seiner Bedeutung wichtig ist als auch aufgrund seiner Zweideutigkeit, die es, wie wir unentwegt verifizieren werden, in die Geschichte des Rechts und in die Geschichte der Todesstrafe eingeführt hat (vor allem deshalb, weil es, wir werden noch darauf zurückkommen, eben gerade die Grausamkeit der Hinrichtung [exécution] ist, die angeprangert wird, und zwar sowohl in den Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs als auch in den zahlreichen, überaus zweideutigen internationalen Erklärungen, die zwar zur Abschaffung der Todesstrafe ermuntern, aber ohne das Prinzip der Todesstrafe je zu benennen und zu verurteilen, wobei die Grausamkeit der Hinrichtung einfach zu einem Fall von „Folter“ wird. Man verurteilt also die Folter, nicht aber die Tötung)17. Wenn ich, immer noch in L’Exécution, wie auch später in Badinters Rede vor dem Parlament, diese Logik oder Rhetorik der Grausamkeit, des Theaters der Grausamkeit, hervorhebe, werde ich sie in bestimmten Passagen zum Vorschein bringen (unter so vielen anderen möglichen), in denen dieses Motiv der Grausamkeit sich mit anderen Motiven überschneidet, die wir bereits zu befragen, ja neu in Szene zu setzen begannen. Die Morgendämmerung, das Theater, sowie die Faszination und die Kälte der Maschine, sowie, um damit zu beginnen, das Paradox der Anästhesie.
Ich beginne mit Letzterem (mit dem Paradox der Anästhesie), und Sie werden sehen, wie es bereits von der Zeit zwischen Nacht und Morgendämmerung rhythmisiert wird. Hören Sie nun einen Abschnitt, in dem zum Ausdruck kommt, inwieweit es darum ging, den Verurteilten zu anästhesieren, ihn aber nur bis zu dem Punkt zu anästhesieren, einzuschläfern oder schlafen zu lassen, ja ihm beim Schlafen zu helfen, an dem er wach und wachsam bleiben musste, an dem er in dem Moment klar im Kopf sein musste, als er dabei war, ihn zu verlieren. (L’Exécution, S. 198, lesen)
In der Santé hat der Chefaufseher, der mich jeden Morgen mit einem rituellen „Gut geschlafen, Herr Anwalt?“ empfing, aus Sympathie oder Ironie, vielleicht sogar beidem, die Zeit als lang empfunden, und die Wärter mit ihm. Er hat es mir jeden Tag gesagt, wenn er mich den Flur entlang zurück begleitete. „Es ist hart für sie“. Buffet ging bis zur Morgendämmerung auf und ab. Dann schlief er vor Erschöpfung ein. Das Tier [animal] in ihm hatte noch nicht vor dem Tod resigniert, den er erwartete, den er verlangte. Bontems hingegen legte sich in der Abenddämmerung schlafen und holte dank der Schlafmittel, die ihm der Doktor erlaubte (in kleinen Dosen, um einen Selbstmordversuch zu verhindern), einige Stunden Schlaf heraus. Lange bevor der Morgen dämmerte, wachte er auf. Auf dem Bett ausgestreckt, rauchte er eine Zigarette nach der anderen. Schließlich wurde es Tag, bisweilen schlief er noch einmal ein.18
Dass dieses ganze Theater der Grausamkeit unter dem Zeichen der Faszination, der fascinatio, stand, das heißt dessen, was den Voyeurismus, den Schautrieb, das Theaterbegehren mit dem Zauber, der Verzauberung verbindet, was den Zuschauer ans Schauspiel kettet, ihn bindet (fascio bedeutet verbinden/bandagieren [bander]19, ver-/binden [lier], anbinden [attacher], und fasciola, das ist das Band, die Binde oder Bandage, um ein Bein zu umwickeln), was den voyeuristischen Zuschauer an das fascinum bindet, das sowohl den Zauber, die Verzauberung als auch das männliche Geschlechtsteil bezeichnet, dass dieses ganze Theater eine Erfahrung der Faszination ist, das wird in L’Exécution vielfach buchstäblich angezeigt. Sie erinnern sich, dass Badinter sagte, dass die Guillotine auf Buffet eine „offensichtliche Faszination“20 ausübte. Das sind Badinters Worte, um die Anziehungskraft zu beschreiben, die die Aussicht auf seine eigene Kastration-Enthauptung auf Buffets Sichtweise [vision] ausübte. Er ist fasziniert von dem, was ihm den Kopf abschneiden wird, was ihn von seinem Kopf abschneiden wird, von der Maschine, die ihn aufrichten [l’ériger] wird, indem sie ihn fallen lässt, und er begehrt diese Maschine, die Schneide der Guillotine, die im Grunde dasselbe ist wie sein Messer. (Es ist jedoch Bontems, der dem Generalstaatsanwalt zurufen wird: „Jetzt steht er dir aber [Alors, tu bandes]!“21 Man muss diese Logik der Erektion mit der Enthauptung verbinden, wie man sagt, dass sie bei Männern oft auf organische Weise mit der Erfahrung des Hängens verbunden ist). In der Passage, aus der ich vorhin vorgelesen habe, sprach Badinter vom „symbolischen Bündnis von Messer und Tod“ (dem seinen < i.e. Buffets > nicht weniger als dem seines Opfers: er ist sein eigenes Opfer), das „tief in ihm < Buffet > verankert“22 gewesen sei. Nun hat Badinter jedoch viele Seiten vorher seine eigene Faszination – es ist immer noch sein Wort – für das Theater der Justiz zugegeben; ich sage wohlweislich Faszination und ich sage wohlweislich Theater, mit all dem, was das Theater zugleich an Spektakel mit sich bringt, gewiss, aber auch an religiöser Sakralität; in dieser Hinsicht taucht das Beispiel der mittelalterlichen Mysterienspiele als gemeinschaftliche Erfahrung eines religiösen Theaters und der christlichen Passion oder Inkarnation keineswegs zufällig auf, Sie werden es hören. Man müsste jedes einzelne Wort dieser Seite von L’Exécution (S. 35) kommentieren, es möge hier aber genügen, jene Fäden miteinander zu verknüpfen, an denen ich bereits gezogen habe (Theater der Grausamkeit, Faszination, Spektakel, mittelalterliches christliches Mysterienspiel); eben davon ist in dieser Passage buchstäblich die Rede, während der darauffolgende Abschnitt, zu dem ich dann gleich kommen werde, den Blick auf die plötzliche Leere desselben Theaters freigibt. (L’Exécution, S. 35-36, lesen)
Seit zwanzig Jahren, seitdem ich Anwalt bin, üben die Orte, an denen Recht gesprochen wird, auf mich eine starke Faszination aus. So wie andere in der Provinz oder im Ausland die Museen, die Kathedrale oder Antiquitätenhändler besuchen, so versäume ich nie, mich zum Justizpalast zu begeben. Ich mische mich unter die Zuschauer hinten im Verhandlungssaal, wo über die banalsten Angelegenheiten, noch so kleine Delikte geurteilt wird. Ich höre zu, ich sauge alles in mich ein, ich versuche, die Bedeutung dieser speziellen Justiz zu erfassen. Die Justiz am Werk zu sehen ist für mich, wenn ich nicht als Akteur beteiligt bin, ein bevorzugtes Schauspiel. Wenn man die immer gleiche Tragikomödie der Justiz ablaufen sieht, lernt man mehr über ein Land, eine Kultur, über ihre Menschen als an jedem anderen Ort, und sei es an einem Markttag auf dem Hauptplatz. Ich sitze da, aufmerksam, gut unterhalten und von einer vagen Furcht ergriffen, vermutlich ein wenig einem mittelalterlichen Gaffer ähnelnd, der ein Mysterienspiel betrachtet. Ich spüre, dass sich da hinter dem Ritual, den Formen, den Reden der Protagonisten eine tiefer liegende Wirklichkeit abspielt, dass das, was für uns aufgeführt wird, eine Art missglückte, immer missglückte Verkörperung einer wesentlichen Forderung, einer unzerstörbaren Hoffnung darstellt: Gerechtigkeit. Selbst leere Gerichtssäle oder leere Zuschauerränge sind für mich wie aufgegebene Kirchen oder unbewohnte Schlösser, wo die eigenen Schritte widerhallen oder man instinktiv die Stimme senkt. Dort haben sich Dramen abgespielt, von denen die Geschichte keinerlei Spuren aufbewahrt hat, von denen aber, unsichtbar und drückend, noch etwas geblieben ist in diesen Mauern.
Als ich in Troyes den Justizpalast betrat, habe ich zu meiner Überraschung nichts dergleichen verspürt.23
Wir könnten in Badinters Argumentation noch eine andere Spur dieses Wortes und dieser Logik der Faszination verfolgen, lange vor, an die zehn Jahre vor seiner Rede vor der Nationalversammlung, denn was Badinter fürchtet, nachdem er die Faszination bemerkte, die die eigene Hinrichtung auf Buffet ausübte, oder zunächst auch seine eigene, Badinters Faszination für das religiöse Theater des Gerichtshofs, was er ebenfalls fürchtet, ist, dass die Hinrichtungen, weit davon entfernt, durch das Exempel, das sie statuieren, virtuelle Verbrecher zu entmutigen, auf perverse Weise (wobei man sich bei jeder Faszination im Grunde genommen virtuell in die Perversität, in die Perversion begibt) eine Faszination auf virtuelle Verbrecher, auf Geiselnehmer ausüben könnten, die im Grunde Buffet und Bontems nachahmen möchten. Die Logik der Faszination wäre im Grunde das beste Argument gegen den angeblichen exemplarischen Charakter der Strafe oder vielmehr das Gegenargument in Bezug auf die Perversion des behaupteten exemplarischen Charakters selbst: Das schlechte Beispiel läuft Gefahr, unter dem Effekt