Die Todesstrafe I. Jacques Derrida

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Die Todesstrafe I - Jacques  Derrida


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mort11), dass aufgrund dieses Gesetzes zum Beispiel rückwirkend gerechtfertigt wurde, dass in Virginia ein schwarzer Landarbeiter im Alter von 37 Jahren hingerichtet worden war (auf dem Elektrischen Stuhl), während psychiatrische Gutachter ihm den Geisteszustand eines Achtjährigen bescheinigt hatten. Gleichzeitig gilt es, da wir uns gerade mit diesem Kapitel der jüngsten Geschichte der USA beschäftigen, daran zu erinnern, dass derselbe Gerichtshof 1986 schwarzen Angeklagten erlaubt hat, gegen den Ausschluss von Schwarzen aus einer Geschworenenjury Einspruch zu erheben. Amnesty International, das die Vereinigten Staaten diesbezüglich unentwegt anprangert, spricht von einer „schrecklichen Lotterie“, da in Florida, Texas, Georgia oder Kalifornien die Wahrscheinlichkeit, für dasselbe Verbrechen die Todesstrafe zu erhalten, für einen Schwarzen zehn Mal größer ist als für eine weiße Frau. Dazu muss man wissen, dass in einer aktuellen Umfrage 79 % der Amerikaner die Todesstrafe befürworten. 1981 hatte ein Mitglied des Senats oder des Abgeordnetenhauses – ich weiß es nicht mehr genau – erklärt: „Unsere Funktion besteht darin, dem Willen der Wähler zu folgen“, und der Oberste Gerichtshof bezog sich im Jahre 1989 auf „das Fehlen eines nationalen Konsenses“, um sich zu weigern, geistig Behinderte von der Verhängung der Todesstrafe auszuschließen.12 Wenn man diese Situation mit der in Frankreich vergleicht, wo eine Mehrheit der Parlamentarier (einschließlich solcher von der Rechten, Jacques Chirac zum Beispiel) 1981 für eine Abschaffung < der Todesstrafe > gestimmt haben, von der sie wussten, dass sie zur Mehrheit einer öffentlichen Meinung im Gegensatz stünde, falls diese auf dem Wege einer Umfrage oder eines Referendums konsultiert werden würde, nun, so haben wir da zwei Konzepte oder zwei Umsetzungen der demokratischen Repräsentation. Soll ein Repräsentant den gegenwärtigen Stand der öffentlichen Meinung der Mandanten repräsentieren im Sinne von widerspiegeln [refléter] oder reproduzieren, oder trägt er eher Verantwortung dafür, einer noch formbaren und schlecht geformten oder schlecht informierten Meinung mittels Reflexion und Entscheidung Orientierung zu bieten? Und wenn dieses gewaltige Problem auch über das Gebiet des Strafrechts und der Todesstrafe hinausgeht, so ist es gleichwohl nicht unwichtig, dass diese Differenz gerade in Bezug auf die Todesstrafe derart klar und deutlich zutage tritt. Diese Frage der, sagen wir, parlamentarischen Demokratie (diese Frage des demos zwischen Demokratie und Demagogie) darf, vor allem in Bezug auf die Todesstrafe, nicht nur innerhalb der Grenzen des Nationalstaats betrachtet werden. Die nationalen Entscheidungen werden stets, wir werden es sehen, durch internationalen Druck universeller Art oder in Form der Universalität der Menschenrechte induziert, sei es direkt oder indirekt. Selbst in Frankreich wurde das Votum des Parlaments schon allein dadurch in eine bestimmte Richtung gelenkt, dass in der im Entstehen begriffenen Europäischen Union die Todesstrafe bereits abgeschafft oder auf dem Wege zu ihrer fortschreitenden und tendenziell unumkehrbaren Abschaffung war.

      Bevor wir die USA verlassen, um einen bestimmten historischen Chiasmus zu datieren, nämlich, dass im Jahre 1972, als Badinter L’Exécution schrieb, die Todesstrafe in Frankreich noch in Kraft war und in den Vereinigten Staaten soeben abgeschafft wurde, während sie zehn Jahre später in Frankreich abgeschafft und in den USA wiedereingeführt worden sein wird, bevor wir also die USA verlassen, hier noch einige Präzisierungen hinsichtlich der Fakten: Aktuell halten 38 von 50 Bundesstaaten der Vereinigten Staaten an der Todesstrafe für Mord unter erschwerenden Umständen fest. Je nach Bundesstaat wird der Tod mittels Elektrischem Stuhl, Giftinjektion, Gaskammer, Hängen oder Erschießen verabreicht [administrée]. Von diesen 38 Bundesstaaten, die die Todesstrafe 1977 wiedereingeführt haben, wenden nicht alle sie an, nur 27, wenn man so sagen kann, tun dies, doch tendenziell nehmen die Hinrichtungen zu (1990 per Elektrischem Stuhl in Arkansas, jenem Staat, dessen merciless13 Gouverneur Bill Clinton war, der in dieser Sache überaus hart blieb; 1992 per Giftspritze in Wyoming, 1992 per Gaskammer in Arizona und Kalifornien)14. Innerhalb von 20 Jahren, zwischen 1977 und 1997, zählte man 385 Hinrichtungen (im Durchschnitt 20 pro Jahr, mehrheitlich von armen Schwarzen, dasselbe Verhältnis findet sich unter den circa 3000 zum Tode Verurteilten, die in den Death Rows, jenen Abteilungen des Todes oder Hochsicherheitstrakten warten. Eine annäherungsweise vergleichende Statistik würde uns das entsprechende Bild von 5 Hinrichtungen pro Jahr in Frankreich liefern).

      Ich kehre nun zu L’Exécution zurück, und zum historischen Chiasmus, der Unzeit15 des „zu früh“ oder „zu spät“: der wesentlichen Anachronie der Todesstrafe. 1972 hatte Badinter eine Stunde, nachdem er sein Plädoyer beendet hatte, erfahren, dass in den USA soeben die Todesstrafe abgeschafft worden war und dass, ein Mal mehr, das Geschehen in den USA besondere Auswirkungen auf die ganze Welt haben würde, dass nichts mehr so sein würde wie zuvor. In den Zeilen, die ich gleich vorlesen werde, werden Sie sehen, welche Bedeutung dabei dem öffentlichen Raum, dem neuen öffentlichen Raum zukam, der vom Radio und den – mächtigen und machtlosen – internationalen Medien der bereits im Gange befindlichen Globalisierung geprägt war, einer Globalisierung, die in dieser Debatte so ungleichförmig und heterogen war. Das ist der Grund, weshalb ich hier darauf insistiere. (L’Exécution, S. 158-160, lesen)

      Als ich den Schwurgerichtssaal betrat, schwirrten zwei Journalisten aufgeregt um mich herum. „Wissen Sie schon das Neueste?“ Ich starrte sie verständnislos an. „Der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten hat gerade die Todesstrafe abgeschafft. Es ist soeben im Radio gekommen.“ Ich blickte auf die große Wanduhr. Weniger als eine Stunde war vergangen, seit die Verhandlung beendet war. Hätte ich die Nachricht eine Stunde früher erfahren, welch ein letztes Argument hätte die Verteidigung daraus machen können! Jetzt war es zu spät. Die Jury, die sich zu ihrer abschließenden Beratung zurückgezogen hatte, war gleichsam vor der Welt verschanzt. In meiner Erbitterung kam mir in den Sinn, ein Transistorradio zu nehmen und es vor dem geschlossenen Fenster jenes Saales abzustellen, in dem die Jury versammelt war, und es zur Nachrichtenzeit in voller Lautstärke aufzudrehen. Vielleicht würde diese Nachricht den Geschworenen, wenn sie ihnen zufällig und beinahe überfallsweise zu Ohren kam, wie ein Wink des Schicksals erscheinen, ein Hinweis darauf, dass die Todesstrafe nur das Nachleben einer Epoche war, die andernorts zu Ende ging und auch in Frankreich zu Ende gehen konnte. Ich ermaß aber rasch die Schwierigkeiten und die Gefahren einer solchen Unternehmung, die den Gerichtshof im Gegenteil auch verärgern könnte. Schließlich waren wir in Troyes und man urteilte über die Mörder von Clairvaux. Der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten war in diesem Augenblick weit weg. Ich ging zur Verteidigerbank zurück. Ich dachte an Bontems, an das, was er empfinden musste. Auch ich konnte nicht mehr tun als auf meinem Platz zu warten.

      Es dauerte im Übrigen nicht allzu lange. Viel weniger lang als ich vermutet hatte. Die Glocke ertönte und bald darauf kehrte das Gericht in den Saal zurück. Jeder nahm seinen Platz wieder ein, in einem gewissen Durcheinander, das auch noch andauerte, als der Vorsitzende, sich uns zuwendend, anordnete, die Angeklagten hereinzubringen. Ich blickte jedem Einzelnen der Geschworenen in die Augen, mit all meiner Kraft, um einen Blick zu erhaschen, eine Kommunikation herzustellen, ein Zeichen. Ich stieß nur auf verschlossene Gesichter. Eine Art Leere breitete sich um uns herum aus, ich spürte sie in mir. Das Verlesen der Antworten auf die gestellten Fragen begann. Bei der vierten, für uns entscheidenden Frage, hielt der Vorsitzende inne: „Ist Bontems, unter denselben Umständen von Zeit und Ort, schuldig, Madame … getötet zu haben?“ Antwort: „NEIN, nach Mehrheit der Stimmen.“ Ein Seufzer der Erleichterung im Saal. Ein befreundeter Journalist lächelte mir zu. Bontems hatte seinen Kopf gerettet. Der Vorsitzende fuhr fort: „Hat Buffet Madame … getötet?“ Antwort: „JA.“ – „Ist Bontems der Komplize von Buffet?“ „JA.“ – „Gibt es mildernde Umstände für Buffet?“ „NEIN.“ Buffet wurde zum Tode verurteilt. „Gibt es mildernde Umstände für Bontems?“ Als Antwort kam: „NEIN, nach Mehrheit der Stimmen.“ Das hieß Todesstrafe. Der Vorsitzende verkündete sie bereits. Im Saal, um den Justizpalast herum, durch die geöffneten Fenster zu hören, ertönten Applaus und Bravorufe. Der Vorsitzende zeigte sich vergeblich indigniert. Die Menge schrie aus einer Mischung von Freude und Hass. Ich drehte mich zu Bontems um. Ich packte ihn am Arm und sagte mit fester Stimme, mit aller Kraft, die ich aufzubringen vermochte: „Bontems, Sie werden begnadigt werden. Man hat anerkannt, dass Sie nicht getötet haben. Sie werden begnadigt werden. Das ist gewiss. Der Präsident der Republik wird Sie begnadigen, das ist gewiss.“ Philipp Lemaire gab ihm bereits Anweisungen, um seinen Revisionsantrag zu stellen. Er


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