Die Todesstrafe I. Jacques Derrida
Читать онлайн книгу.bestehenden Geschworenenjury [jury populaire], daran glaubt und man ihr letztlich selbst die Chance nehmen müsse, diese schlechte Logik zu verwenden. Bevor ich zu den beiden Punkten komme, die ich in Bezug auf, sagen wir, das Argument oder die Logik der Grausamkeit hervorheben möchte, will ich Ihre Aufmerksamkeit in jenem Buch, das ich Sie zu lesen bitte, auf einige Züge lenken, in denen widerklingt oder die zusammenklingen mit dem, was ich letzte Woche vorgebracht hatte. Sie erinnern sich, dass ich bei der Lektüre einer bestimmten Passage aus dem Gesellschaftsvertrag, „Vom Recht über Leben und Tod“, meine Perplexität, in Wahrheit tiefgreifende Zweifel zum Ausdruck brachte hinsichtlich dessen, wovon Rousseau vorsichtig sagte, dass man es „anzunehmen“ beziehungsweise „nicht anzunehmen“ habe, nämlich dass, ich zitiere noch einmal, „es […] nicht anzunehmen [ist], daß dabei einer der Vertragschließenden die Absicht hat, sich hängen zu lassen.“7 Was, Rousseau zufolge, „nicht anzunehmen“ sei, besteht darin, dass ein Bürger, der diesem Gesellschaftsvertrag, im Grunde genommen diesem Versicherungsvertrag, dem, was die Sicherheit und das Leben gewährleistet, beitritt, nicht seinen eigenen Tod beabsichtigen könne; er kann nicht, wenn Sie das so übersetzen wollen, Selbstmörder oder einem Todestrieb, einem gegen ihn selbst gerichteten Todestrieb unterworfen sein. Nun besteht aber eines der Motive, die in Badinters Buch häufig wiederkehren, eben darin, dass einer der beiden Angeklagten, und zwar nicht der, den er verteidigt, Bontems, sondern der andere, Buffet, von ebendiesem selbstmörderischen Trieb angetrieben wurde, dass er mit dem Tod bestraft werden wollte und also riskierte, seinen Komplizen, der nicht mit eigener Hand getötet habe und nicht habe sterben wollen, mit in den Tod zu reißen. Ich werde eine Passage vorlesen, in der sich, wie Sie sehen werden, dieser Frage des Todestriebs eine Geschichte des Eides, und also des Nicht-Eidbruchs, der Loyalität gegenüber einem geschworenen Eid aufpfropft. (L’Exécution, S. 89-91 vorlesen)
Für Buffet war der Tod aktuell das sicherste Mittel, um dem Gefängnis zu entgehen, dieser Welt der Internierung, die er verachtete und hasste. Der Todestrieb hatte von Buffet Besitz ergriffen, er zog und drängte ihn zur Guillotine. Sie übte eine offensichtliche Faszination auf ihn aus. Buffet hatte seinen Opfern stets die Kehle durchgeschnitten. Das symbolische Bündnis von Messer und Tod war tief in ihm verankert. Jetzt war die riesige glitzernde Klinge der Guillotine da, ganz nah vor ihm aufgerichtet, als Abschluss seines Horizonts. Sie wartete scheinbar seit einer Ewigkeit, zumindest jener Ewigkeit, die das eigene Leben für jeden von uns darstellt. Nach dem Rasiermesser, dem Dolch, mit dem er getötet hatte, sollte das große Messer seinerseits mit einem scharfen Schnitt seine eigene Kehle durchschneiden. Das war die geheime und erwartete Apotheose.
Da war aber auch noch jener, den er seinen Kameraden nannte. Dieses Wort musste für den ehemaligen Fremdenlegionär seine ganze Bedeutung entfalten, die unauflösliche Verbindung von Männern zum Ausdruck bringen, die gemeinsam gekämpft hatten. Ein Kamerad verrät einen nicht. Ein Kamerad lässt einen nicht allein. Einsamkeit ist Verrat. Vor allem wenn man geschworen hat, gemeinsam zu siegen oder zu sterben. Es war also notwendig, ja zwingend, dass der Kamerad bis zum Letzten geht, wenn er der Kamerad von Claude Buffet war. Allein schon dieses Wort wirkte, häufig wiederholt, wie ein Peitschenknall in jenen seltenen Momenten, in denen Buffet sich von einer Art schrecklichem mörderischem Furor fortreißen ließ, der gegen Bontems gerichtet war.
Als ich die beiden ansah, dachte ich, dass sie sich wohl gegenseitig einen kindischen und tragischen Eid geleistet haben. Ich stellte mir den ehemaligen Fremdenlegionär Buffet und den ehemaligen Fallschirmjäger Bontems vor, wie sie flüsterten: „Scheitern oder Erfolg, gemeinsam, bis ans Ende. – Schwöre es. – Ich schwöre es.“ Für Buffet konnte eine solche Verpflichtung nur absoluten Wert besitzen. Es kam nicht darauf an, worin wirklich wessen Rolle bestand. Bontems musste das Wort, das er Buffet gegeben hatte, halten – auch dann, wenn er selbst nicht getötet hat, wenn er noch eine Chance hätte, seinen Kopf zu retten. Das ist es, was Buffet ausdrücken wollte, als er stehend mit metallischer Stimme ausrief: „Was ich nicht ertragen kann, ist, dass mein Kamerad nicht seine Verantwortung übernimmt.“ Seine Richter übersetzten „Verantwortung gegenüber der Justiz“ und sahen in Bontems – so stark war die Faszinationskraft Buffets – einen Schwächling, der sich davonstahl, und in Buffet einen Mann, der den Mut zu seinen Verbrechen besaß. Diese logische Interpretation wurde den Obsessionen und Wahnvorstellungen Buffets übergestülpt. Bontems sollte sehr wohl seine Verantwortung übernehmen, aber ihm, Buffet, gegenüber. Bontems sollte das feierliche Versprechen, das sie sich gegenseitig gegeben hatten und das sie in einem gemeinsamen Schicksal aneinander band, bis zuletzt halten. Für Buffet war der Gedanke, dass Bontems sich im letzten Moment entziehen und es nach dem Scheitern ihres tragischen Unternehmens vorziehen könnte, zu leben statt mit ihm zu sterben, zuweilen unerträglich. Dann wieder schien er völlig indifferent und gleichgültig zu sein. Er wurde wieder zum Fremden – zum Zuschauer.8
Der andere Zug, den ich hervorheben möchte, betrifft das Datum des Buches und des Prozesses, der Exekution. Es handelt sich um das Jahr 1972, ein historisches Datum von virtuell weltweiter Dimension, denn während des Prozesses, aber zu spät, nach Badinters Plädoyer, spricht sich der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten (am 29. Juni 1972) für die Abschaffung der Todesstrafe aus – oder fällt jedenfalls ein Urteil, das man, mit einigen Zweideutigkeiten, über die ich noch sprechen werde, in eine Abschaffung de facto, wenn nicht de jure, der Todesstrafe übersetzt. Eine Abschaffung, die nicht von Dauer sein wird, wir werden noch darauf zurückkommen, da die Todesstrafe 1977 praktisch wiedereingeführt werden wird. Der Abschaffung der Todesstrafe werden in den Vereinigten Staaten nur fünf Lebensjahre beschieden gewesen sein, wenn man so sagen kann. Es stimmt jedoch, dass am 29. Juni 1972, mit fünf zu vier Stimmen, mit der kleinstmöglichen Mehrheit, der Oberste Gerichtshof erklärt (und da haben wir nun das Argument, das ich mit dem Übernamen Argument der Grausamkeit versehe, in diesem Theater der Grausamkeit9, das die Geschichte der Todesstrafe, die Geschichte als Geschichte der Todesstrafe darstellt) [dass also der Oberste Gerichtshof erklärt], dass in den drei Einzelfällen, die ihm zur Prüfung vorgelegt wurden (Vergewaltigung in Texas, Vergewaltigung und Mord in Georgia), dass in diesen drei Fällen – der Gerichtshof äußert sich zu Einzelfällen, sein Urteil besitzt aber verallgemeinerbare Bedeutung für die Rechtsprechung –, der Gerichtshof die Todesstrafe nicht abschafft, sondern erklärt, dass in diesen drei typischen Fällen die Todesstrafe eine „grausame“ und unangemessene Bestrafung sei, die gegen den achten und den vierzehnten Zusatzartikel der Verfassung verstoßen würde. Mit anderen Worten: Der Gerichtshof äußert sich nicht zum Prinzip der Verurteilung zum Tode, sondern zur Grausamkeit ihrer Vollstreckung (das ist das berühmte Urteil Furman gegen Georgia, auf das wir noch zurückkommen werden). Die Ambivalenz dieser Entscheidung, die umso fragiler war, als sie mit einer Stimme Mehrheit erfolgte (fünf Richter gegen die vier von Nixon ernannten), diese Ambivalenz erklärt die Fragilität, die Prekarität und die geringe Dauerhaftigkeit dieser Rechtsprechung. In Anbetracht dessen, dass diese Entscheidung von 1972 fünf Jahre lang vorbereitet und erwartet worden war, so dass von 1967 bis 1972 alle Hinrichtungen in den Vereinigten Staaten ausgesetzt worden waren, ist die letzte, eben im Jahre 1967, die eines Mannes aus Colorado gewesen, der seine Frau und seine Kinder getötet hatte, und der in einer Gaskammer erstickt wurde; in Anbetracht auch der Tatsache, dass nach 1972 die Quasi-Abschaffung der Todesstrafe bis 1977 fortbestand, einem Datum, zu dem einige Bundesstaaten, die man bisweilen als „todbringende“10 bezeichnet, ihre Gesetze geändert haben, um die Todesstrafe und ihre Vollstreckung angeblich weniger „grausam“ und also mit dem achten und dem vierzehnten Verfassungszusatz kompatibel zu machen (weniger grausame, weniger willkürliche und weniger diskriminierende Gesetze); und nicht zuletzt in Anbetracht der Tatsache, dass derselbe Oberste Gerichtshof anschließend diese revidierten Gesetze 1976 für gültig befunden hat (Urteil Gregg gegen Georgia), nun, < in Anbetracht all dessen > wird die praktische Abschaffung der Todesstrafe, oder zumindest die allgemeine Aussetzung ihrer Anwendung, nur zehn Jahre gedauert haben (1967-1977), und weitere zehn Jahre später, 1987, hat der Oberste Gerichtshof die Verfassungsmäßigkeit der Todesstrafe erneut bestätigt, und zwar zu einem Zeitpunkt, da ein Schwarzer einen Polizisten getötet hatte. Die Dinge noch schlimmer machend, hat derselbe Oberste Gerichtshof, immer noch mit fünf zu vier Stimmen, 1989 entschieden, dass der Hinrichtung von zum Tode Verurteilten, die zwischen 16 und 18 Jahr alt sind (Minderjährigen zum Zeitpunkt des Verbrechens), oder die geistig behindert sind, von nun