Die Todesstrafe I. Jacques Derrida

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Die Todesstrafe I - Jacques  Derrida


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betrat den Hof. Da war die Guillotine.

      Ich war nicht darauf gefasst gewesen, sie sofort vor mir vorzufinden. Ich hatte mir vorgestellt, dass sie irgendwo verborgen wäre, in einem Hinterhof. Doch sie war’s, so wie ich sie, wie jeder von uns sie auf so vielen alten Photographien und Drucken gesehen hatte. Ich war jedoch überrascht über die sehr hohen, sehr dünnen Pfosten, die sich von der Glasscheibe hinter ihr abhoben. Im Gegensatz dazu erschien mir der Körper der Maschine klein, wie eine ziemlich kurze Kiste. Aber so, wie sie mit ihren beiden großen mageren Armen dastand, brachte sie den Tod derart gut zum Ausdruck, dass sie der Tod selbst zu sein schien, der in diesem nackten Raum zu einem Ding geworden, materialisiert worden wäre. Der Eindruck wurde noch verstärkt durch den riesigen schwarzen Baldachin, der wie ein Sonnensegel oder eine Zirkuskuppel über den gesamten Hof gespannt war. Auf diese Weise verbarg er die Guillotine vor den Blicken, die man von oben her auf sie hätte werfen können. Dieser Baldachin, der den ganzen Himmel verdeckte, verwandelte den Hof in eine Art riesigen Saal, in dem sich allein die Guillotine wie ein Götzenbild oder ein Unheilaltar erhob. Um sie herum machten sich die Gehilfen zu schaffen. Das Symbol war auch Maschine. Dieser mechanische, nützliche Aspekt, vermischt mit dem Tod, den sie derart gut zum Ausdruck brachte, machte die Guillotine widerlich und erschreckend.

      Ich ging an ihr vorbei, wobei ich mich weigerte, meinen Schritt zu verlangsamen oder zu beschleunigen, sie zu betrachten oder ihr auszuweichen.33

      Sie haben die Arme der Guillotine bemerkt. Sie haben bemerkt, was in diesen Armen der Tod bedeutet („Aber so, wie sie mit ihren beiden großen mageren Armen dastand, brachte sie den Tod derart gut zum Ausdruck […]“). Ich frage mich nun, inwieweit Badinter diesen Effekt absichtlich kalkuliert hat, und wenn ja, welchen Sinn er ihm gegeben haben mag (aber im Grunde kommt es darauf gar nicht an), wenn er, fünf Seiten weiter, als er gewissermaßen den religiösen, christlichen, ja an Christus gemahnenden Apparat dieses Films beschreibt, auch die Arme Christi oder des Kreuzes nennt: Hören Sie: (L’Exécution, S. 217-218, vorlesen)

      In einem Winkel des Hofs hatte der Anstaltsgeistliche den Altar aufgebaut. Christus streckte seine Arme nach den Gittern aus. Zwei Wärter haben jeweils seitlich neben dem mit einem Altartuch bedeckten Schreibtisch Aufstellung genommen, etwas zurückgezogen, eine merkwürdige Präsenz in diesem Augenblick. Der Anstaltsgeistliche erwartete Bontems. Er führte ihn hinter den Altar. Wir blieben stehen. Bontems stand ganz nahe beim Priester. Er beichtete vermutlich. Nun sprach der Priester zu ihm. Alles war still. Ich drehte mich um. Da waren Gefängniswärter, Polizisten, Gendarmen und der Henker, der seinen Hut auf dem Kopf behalten hatte. Und der Richter des Berufungsgerichts, dessen Lippen sich bewegten, er sprach vermutlich die Sterbegebete. Und dann noch weitere Leute. Ich schaute sie an. Alle, und ich selbst vermutlich ebenfalls, machten ein irgenwie verkniffenes Gesicht. Das elektrische Licht ließ ihre Gesichtszüge noch härter erscheinen. Sie alle hatten in diesem Augenblick Mördervisagen. Nur der Priester und Bontems, der die Absolution empfing, hatten noch menschliche Gesichter. Das Verbrechen hatte, physisch betrachtet, die Seite gewechselt.34

      Diese große Frage des Theaters der Strafjustiz, und nicht nur des christlichen Theaters, als Frage der Souveränität, und zwar einer Souveränität, die bald die mutmaßliche Souveränität des Volkes [peuple], der aus einfachen Bürgern aus dem Volk bestehenden Geschworenenjury [jury populaire] ist, bald die des Souveräns als Staatsoberhaupt, das in letzter Instanz über das Begnadigungsrecht verfügt (wir haben hier also die ganze Geschichte der Souveränität als eine Geschichte, die genauso christlich ist wie die des Gnadenrechts [droit de grâce], da merci, mercy35, vorherrschend eine christliche Sache ist), ich wäre nun versucht, eine Dimension dieses Theaterraums in Badinters Buch als Raum der Souveränität aufscheinen zu lassen oder aufscheinen zu sehen, und zwar buchstäblich an mindestens zwei Stellen – die ich aus Gründen bevorzuge, die Sie im Vorüberzug sofort wiedererkennen werden.

      1. Die erste Stelle, weil in ein und derselben Sequenz, in der von einer Anspielung auf Shakespeare zu einer Anspielung auf den Prozess des Sokrates übergegangen wird, die Aube/Morgendämmerung beim Namen genannt wird, l’Aube mit einem großen A, was mit dem zusammenklingt, was ich letzte Woche sagte, ohne zu wissen, dass ich in L’Exécution auf diese/s groß geschriebene Aube/Morgendämmerung stoßen würde.36 Was die Anspielung auf Shakespeare betrifft, so interessiert sie mich nicht nur aufgrund des Theaters, sondern auch aus einem zusätzlichen Grund, den ich gleich näher darlegen werde, nachdem ich diese Passage vorgelesen habe. Die Worte, die Sie hören werden, sind in erster Linie nicht nur die von Badinter selbst, sondern die seines Lehrmeisters, des großen Anwalts Henri Torrès, dem das Buch gewidmet ist und dessen Gestalt durch das ganze Buch geistert, als die des Meisters, der den jungen Robert Badinter ausgebildet und geformt hat, was bei Letzterem grenzenlose Bewunderung und Dankbarkeit hervorrief, die im Buch unablässig in Erinnerung gerufen werden. Laut jenen Worten, die Badinter berichtet oder rekonstruiert, hat der alte Lehrmeister eines Tages zu ihm gesagt, dass er die Demokratie im Justizwesen in Form der aus einfachen Bürgern aus dem Volk bestehenden Geschworenenjury liebe wie etwas von Shakespeare. Er habe den Eindruck, ein Stück von Shakespeare zu erleben, sagte er. Er nennt dann den King Lear, ich meinerseits denke aber an ein anderes Stück, zu dem ich gleich noch ein paar Worte sagen werde. (L’Exécution, S. 107-109 vorlesen)

      Die Franzosen lieben die Beamten nicht und die Gendarmen selten. Genauso wenig lieben sie, in der Tat, die Anwälte. Sie sind Romanen, und keine Angelsachsen. Der Kult um das Gesetz und um alles, was mit ihm zusammenhängt, ist ihnen unbekannt. Die Franzosen lieben jedoch die Beredsamkeit. Dann hat der Anwalt vor den Geschworenen alle Chancen. Wehe aber, wenn er sie langweilt.

      „Nur, an dem Tag, an dem Vichy beschloss, dass nun Schluss sei mit dieser lächerlichen Demokratie im Justizwesen, mit dieser durch die Geschworenen repräsentierten Allmacht des Volkes, dass man im Namen der Effizienz und der Autorität mit diesem Skandal aufräumen müsse, und dass von nun an die Richter gemeinsam mit den Geschworenen tagen und gemeinsam mit ihnen überlegen und abstimmen würden, an dem Tag hat sich alles geändert. Das große Zeitalter des Anwalts endete mit der Angst vor den Geschworenen. Jetzt ist neben ihnen überall der Großwesir anwesend, um ihnen den Weg zu weisen, auch um sie zur Vernunft zu bringen. Wie schön aber war jene Justiz, die akzeptierte, bisweilen unvernünftig zu sein, weil die Menschen es immer sind. Früher, mein Kleiner, hatte ich, wenn ich im Schwurgericht, allein vor den Geschworenen mir gegenüber, mein Plädoyer hielt, den Eindruck, ein Stück von Shakespeare zu erleben. Wenn ich sie jetzt anschaue, wie sie brav im Halbkreis um die Richter in roten und schwarzen Roben sitzen, wie gute Schüler um ihren Lehrer herum, dann glaube ich eine Rolle in einem Stück von Dumas dem Jüngeren zu spielen – in dem alles vernünftig ist, sogar die Leidenschaften, ja selbst die Huren. Manchmal schieße ich natürlich über das Ziel hinaus. Man hat nicht Jahre lang King Lear gespielt, um einfach Vater Duval zu werden…“ Mein Meister seufzte und schien melancholisch zu werden, bis ihn seine starke Natur, einem durstigen Trinker gleich, mit lauten Rufen Champagner bestellen ließ, um einen Toast auf die Jury auszubringen: „Auf all diejenigen, die in der Geschichte das doppelte Verdienst erworben haben, Sokrates zum Tode zu verurteilen und Madame Caillaux freizusprechen, womit sie im Abstand von zweitausend Jahren bewiesen haben, dass ein Philosoph in Freiheit für das Gemeinwesen gefährlicher ist als ein Luder im Gefängnis.“ Ich habe nie verstanden, warum mein Meister Madame Caillaux derart hasste, aber ich wusste um seine Leidenschaft für Sokrates, dessen Apologie er gern rezitierte, das schönste Plaidoyer, das je gehalten wurde.

      Wir waren zu der Stunde weit entfernt von Sokrates, von der Apologie und von den Geschworenen Athens. Außer in einem wesentlichen Punkt. Auch diese Männer und diese Frauen, die Geschworenen aus dem < Département > Aube, auch sie genossen diese unerhörte Macht: Sie hatten über das Schicksal zweier Männer zu entscheiden.37

      Denen, die dieses Seminar über die Vergebung seit drei Jahren38 verfolgen, mag diese Anspielung auf Shakespeare die lange Analyse in Erinnerung rufen, die wir dem Kaufmann von Venedig gewidmet hatten, insbesondere dem, was dort die Gnade [grâce] betrifft, „the quality of mercy“, in jener großen Rede Portias, die den Juden Shylock überzeugen will, die Schuld zu erlassen [faire grâce de la dette], woraufhin er vom überaus


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