Guy de Maupassant – Gesammelte Werke. Guy de Maupassant

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Guy de Maupassant – Gesammelte Werke - Guy de Maupassant


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die­ser trau­ri­gen Stadt; und kaum sind wir hier, so bist Du, die sonst kei­nen Schritt vor die Türe ging, von ei­ner sol­chen Renn­wut er­grif­fen, dass Du am heis­ses­ten Tage des Jah­res quer­feld­ein läufst. Er­su­che doch d’A­gre­val um sei­ne Beglei­tung; der fügt sich bes­ser Dei­nen Lau­nen. Ich für mei­ne Per­son gehe ins Haus und hal­te mei­ne Sies­ta.«

      »Kom­men Sie mit mir?« wand­te sich Ma­da­me de Ca­dour an ih­ren al­ten Freund.

      Er ver­beug­te sich lä­chelnd, mit et­was alt­mo­di­scher Höf­lich­keit, und sag­te:

      »Ich fol­ge Ih­nen, wo­hin Sie ge­hen.«

      »Nun, so ho­len Sie sich einen Son­nen­stich«, sag­te Herr de Ca­dour und ging wie­der ins Ho­tel des Bains hin­ein, um sich ein oder zwei Stünd­chen aufs Ohr zu le­gen.

      So­bald sie al­lein wa­ren, be­ga­ben sich die alte Dame und ihr Freund auf den Weg. Ihm die Hand drückend sag­te sie sehr lei­se:

      »End­lich! … End­lich!«

      »Sie sind tö­richt«, mur­mel­te er, »ich ver­si­che­re Ih­nen, es ist der rei­ne Wahn­sinn. Den­ken Sie, was Sie. ris­kie­ren. Wenn die­ser Mensch …«

      »O Hen­ri«, sag­te sie zu­sam­men­zu­ckend, »sa­gen Sie nicht ›die­ser Men­sch‹, wenn Sie von ihm spre­chen.«

      »Nun ja!« ant­wor­te­te er ziem­lich rück­sichts­los, »wenn un­ser Sohn ir­gend eine Ver­mu­tung fasst, wenn er miss­trau­isch wird, so hat er Sie, hat er uns in der Ge­walt. Sie ha­ben es ganz gut aus­ge­hal­ten, ihn seit vier­zig Jah­ren nicht zu se­hen; warum muss es denn ge­ra­de heu­te sein?«

      Sie wa­ren der lang­ge­dehn­ten Stras­se ge­folgt, wel­che von der Stadt aus an die See führt, und wand­ten sich jetzt rechts, um nach der Küs­te von Etre­tat her­auf­zu­ge­hen. Die wei­ße Stras­se lag vor ih­nen in der ko­chen­den Glut der Son­nen­strah­len.

      Sie gin­gen bei der glü­hen­den Hit­ze lang­sam mit kur­z­en Schrit­ten. Ma­da­me de Ca­dour hat­te den Arm ih­res Freun­des er­grif­fen und sah im­mer ge­ra­de­aus mit ei­nem ir­ren, su­chen­den Blick.

      »So ha­ben Sie ihn nie­mals wie­der ge­se­hen?« frag­te sie ihn.

      »Nein, nie­mals.«

      »Ist es mög­lich?«

      »Lie­be Freun­din, fan­gen wir die­se alte Ge­schich­te nicht wie­der von Neu­em an. Ich habe Frau und Kin­der, wie Sie einen Gat­ten ha­ben; also Grund ge­nug für uns bei­de, die öf­fent­li­che Mei­nung zu re­spek­tie­ren.«

      Sie ant­wor­te­te nicht; sie dach­te an ihre Ju­gend zu­rück, an ver­gan­ge­ne trau­ri­ge Din­ge.

      Sie war ver­hei­ra­tet wor­den, wie so man­che an­de­re, ohne ih­ren Bräu­ti­gam, einen Di­plo­ma­ten, ei­gent­lich ge­kannt zu ha­ben, und sie hat­te spä­ter mit ihm zu­sam­men ge­lebt, wie alle Frau­en aus der Ge­sell­schaft zu le­ben pfle­gen.

      Ein jun­ger Mann, Herr d’A­gre­val, gleich­falls ver­hei­ra­tet, lieb­te sie lei­den­schaft­lich, und wäh­rend ei­ner län­ge­ren Ab­we­sen­heit Herrn de Ca­dour’s, den eine po­li­ti­sche Mis­si­on nach In­di­en führ­te, er­lag sie sei­nem stür­mi­schen Drän­gen.

      Hät­te sie ihm wi­der­ste­hen, ihn zu­rück­wei­sen kön­nen? Hät­te sie die Kraft ge­habt, ihm nicht nach­zu­ge­ben, wo sie ihn gleich­falls lei­den­schaft­lich lieb­te? Nein, in der Tat nicht! Es wäre zu schmerz­lich ge­we­sen; sie hät­te zu sehr ge­lit­ten. Wie ist doch das Le­ben hart und grau­sam. Ge­wis­sen Schick­sals­fü­gun­gen kann man nicht ent­ge­hen, man kann sich ih­rer Be­stim­mung nicht ent­zie­hen. Kann eine al­lein­ste­hen­de Frau, de­ren Gat­te in der wei­ten Fer­ne weilt, die kei­ne Zärt­lich­keit ge­niesst, den Kin­der­se­gen ent­behrt, auf die Dau­er ei­ner Lei­den­schaft ent­flie­hen, die ihr gan­zes We­sen be­herrscht? Ge­wiss eben­so­we­nig wie man im­stan­de wäre, dem Lich­te der Son­ne zu ent­flie­hen, um bis zu sei­nem Tode in tiefs­ter Fins­ter­nis zu le­ben.

      Wie gut er­in­ner­te sie sich noch jetzt al­ler Ein­zeln­hei­ten, sei­ner Küs­se, sei­nes Lä­chelns, mit dem er an der Tür ste­hen blei­bend sie an­blick­te, ehe er bei ihr ein­trat. Wel­che Tage des Glückes und der Süs­sig­keit, die­se ein­zi­gen schö­nen, lei­der nur so schnell ver­gan­ge­nen Tage.

      Dann fühl­te sie, dass sie Mut­ter war. Wel­che Angst!

      Ach, die­se Rei­se nach dem Sü­den, die­se lan­ge Rei­se, die­se Lei­den, die­ser fort­wäh­ren­de Schre­cken, die­ses ver­bor­ge­ne Le­ben in dem klei­nen ein­sa­men Häu­schen an der Mit­tel­meer-Küs­te, im Hin­ter­grun­de ei­nes Gar­tens, den sie nicht zu be­tre­ten wag­te.

      Wie gut er­in­ner­te sie sich der lan­gen Tage, die sie un­ter ei­nem Oran­gen­baum lie­gend zu­brach­te, die Au­gen zu den run­den Früch­ten em­por­ge­wen­det, de­ren Rot sich von dem Grün des Blät­ter­werks ab­hob. Wie sie so gern aus­ge­gan­gen wäre bis ans Meer, des­sen fri­scher Hauch über die Mau­er her zu ihr hin­weh­te, des­sen kur­ze Schlä­ge an den Strand sie ver­nahm, von des­sen Ober­flä­che sie träum­te, wie sie bläu­lich im Lich­te der Son­ne er­glänz­te, wäh­rend wei­ße Wol­ken und ein Ge­bir­ge den Hin­ter­grund bil­de­ten. Aber sie wag­te nicht, aus dem Tore zu ge­hen. Wenn man sie er­kannt hät­te, so un­förm­lich, so un­fä­hig, bei ih­rer Fi­gur noch ihre Schan­de zu ver­ber­gen.

      Und dann die Tage der Er­war­tung, die letz­ten qual­vol­len Tage! Die dro­hen­den Lei­den, end­lich die schreck­li­che Nacht. Wie viel Elend hat­te sie doch aus­hal­ten müs­sen!

      War das eine Nacht! Wie hat­te sie ge­seufzt und ge­schri­en! Sie sah noch vor sich das blei­che Ant­litz ih­res Lieb­ha­bers, der ihr je­den Au­gen­blick die Hand küss­te, die be­hä­bi­ge Ge­stalt des Arz­tes, die wei­ße Müt­ze der Wär­te­rin.

      Und wel­chen Riss gab es ih­rem Her­zen, als sie die­ses schwa­che Wim­mern, die­ses Kla­gen des Kin­des, die­sen ers­ten An­satz ei­ner mensch­li­chen Stim­me ver­nahm.

      Und der nächs­te Tag! Ach ja, der nächs­te Tag, der ein­zi­ge ih­res Le­bens, wo sie ihr Kind se­hen und an ihr Herz drücken konn­te, denn nie­mals seit die­sem Tage hat­te sie auch nur eine Spur von ihm be­merkt. Welch öde lan­ge Zeit hat­te sie dann ver­bracht, wäh­rend die Ge­dan­ken an die­ses Kind ihr im­mer und im­mer wie­der vor die See­le tra­ten. Sie hat­te es nicht wie­der ge­se­hen, nicht ein ein­zi­ges Mal, die­ses klei­ne We­sen, dem sie das Le­ben ge­schenkt, ih­ren Sohn. Man hat­te ihn ihr ge­nom­men und ir­gend­wo an einen un­be­kann­ten Ort ge­bracht. Sie wuss­te nur, dass Bau­ers­leu­te in der Nor­man­die ihn auf­ge­zo­gen hat­ten, und dass er selbst ein Land­mann ge­wor­den war, dass er sich ver­hei­ra­tet und von sei­nem Va­ter, des­sen Na­men er nicht kann­te, eine reich­li­che Mit­gift er­hal­ten hat­te.

      Wie kam sie nur plötz­lich auf den Ge­dan­ken, zu ihm rei­sen zu wol­len, um ihn zu se­hen und an ihr Herz zu drücken? Sie ver­gass, dass er in­zwi­schen ein Mann ge­wor­den war. Sie sah nur im­mer die­ses klei­ne Men­schen­we­sen vor sich, dass sie einen Tag in ih­ren Ar­men ge­hal­ten und an ihr klop­fen­des Herz ge­legt hat­te.

      Wie oft hat­te sie spä­ter zu ih­rem Lieb­ha­ber ge­sagt:

      »Ich


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