Guy de Maupassant – Gesammelte Werke. Guy de Maupassant
Читать онлайн книгу.Atem ging schnell und gepresst, und manchmal stieß er einen Seufzer aus, als ob er fühlbar machen wollte, wie krank er wäre.
Seine Frau sah, dass er nicht mehr sprechen würde; sie lehnte sich an das Fenster, wies mit einer Kopfbewegung nach dem Horizont und sagte:
»Schauen Sie, ist das nicht herrlich?«
Der von Villen verdeckte Bergabhang senkte sich vor ihnen bis zur Stadt hinunter, die im Halbkreis die Bucht umgab, rechts vom Hafen mit der Altstadt, über der ein alter Wartturm thronte, bis links zur Landspitze de la Croisette gegenüber den Inseln von Lerins; diese Inseln waren wie zwei grüne Flecke, die auf dem tiefblauen Wasser schwammen, und von oben gesehen, schienen sie flach zu sein wie zwei riesige Blätter.
Und ganz in der Ferne, jenseits der Bucht und des alten Turmes, zeichnete sich auf dem flammend roten Himmel eine lange Reihe bläulicher Berge ab, bald mit runden Gipfeln, bald mit Spitzen, Zähnen und Zacken, die in einen hohen, pyramidenförmigen Berg ausliefen, der mit seinem Fuß mitten in das Meer tauchte.
»Das ist der Esterel«, sagte Frau Forestier.
Hinter den dunklen Gipfeln flammte goldenrot der Himmel. Der Glanz war so feurig, dass das Auge es kaum ertragen konnte.
Duroy empfand unwillkürlich die Pracht dieses Sonnenunterganges. Da er keinen bildlichen Ausdruck für seine Bewunderung fand, murmelte er:
»O ja, es ist fabelhaft!«
Forestier hob jetzt ein wenig den Kopf und sagte zu seiner Frau:
»Ich will etwas frische Luft!«
Sie antwortete:
»Nimm dich in acht; es ist spät, die Sonne geht unter. Du wirst dich erkälten, du weißt doch, wie schädlich das bei deinem jetzigen Gesundheitszustande ist.«
Er machte mit der Hand eine zitternde, schwache Bewegung, die ein Faustschlag auf die Lehne des Sessels sein sollte. Er brummte und sein Gesicht verzerrte sich vor Zorn; es war das Gesicht eines Sterbenden; dabei traten die dünnen Lippen, die eingefallenen Backen und die hervorstehenden Knochen noch mehr hervor.
»Ich sage dir doch, ich ersticke. Was macht dir das aus, ob ich einen Tag früher oder später sterbe, mit mir ist es doch aus.«
Sie öffnete ganz, weit das Fenster.
Der Windzug, der plötzlich hineindrang, umfing sie alle drei wie eine Liebkosung; es war ein milder, weicher, warmer Lufthauch, ein berauschender Hauch des Frühlings, erfüllt von dem Duft der Bäume und Blüten, die dort an der Küste gedeihen. Besonders stark und intensiv machte sich der Harzgeruch und der Duft des Eukalyptus geltend.
Forestier sog die Luft mit kurzen, fieberhaften Atemzügen ein. Er krallte seine Nägel in die Lehne des Armstuhles und sagte mit zischender, wütender Stimme:
»Mach das Fenster zu. Das tut mir weh. Lieber will ich in einem Keller krepieren.«
Langsam schloss die Frau das Fenster. Dann lehnte sie die Stirn an die Scheibe und blickte in die Ferne.
Duroy fühlte sich unbehaglich. Er hätte dem Kranken ein paar tröstende Worte gesagt, um ihn zu beruhigen, aber ihm fiel nichts Passendes ein und er sagte nur:
»Es geht dir also nicht besser, seitdem du hier bist?«
Der andere zuckte verzweifelt und ungeduldig die Achseln:
»Du siehst ja doch!«
Und der Kopf sank ihm wieder auf die Brust.
Duroy fuhr fort:
»Es ist hier übrigens im Vergleich zu Paris einfach wunderbar. Da ist man noch mitten im Winter. Es schneit, hagelt, regnet, und es ist so dunkel, dass man um drei Uhr schon die Lampen anzünden muss.«
»Gibt es was Neues auf der Zeitung?« fragte Forestier.
»Nichts. Man hat als Ersatz für dich den kleinen Lacrin genommen, der vom ›Voltaire‹ kommt. Aber er kann nicht viel. Es ist höchste Zeit, dass. du wiederkommst.«
Der Kranke stammelte:
»Ich? Ich werde bald sechs Fuß unter der Erde Artikel schreiben.«
Immerzu kam ihm diese fixe Idee wie ein Glockenschlag wieder, sie tauchte in jedem Gedanken, in jedem Satze von Neuem auf.
Es folgte nun ein langes, tiefes und schmerzliches Schweigen. Die feuerrote Glut des Sonnenunterganges erlosch nach und nach, und die Berge am Horizont wurden allmählich schwarz unter dem rötlichen Himmel, der immer dunkler wurde. Farbige Schatten, der Beginn der Nacht, über die noch die letzten Lichter des Sonnenscheines zuckten, drangen in das Zimmer und schienen die Wände, Bezüge, Möbel und alle Winkel mit einer aus Tinte und Purpur gemischten Farbe zu überziehen. Der Spiegel über dem Kamin, der den Horizont zurückstrahlte, glich einer blutigen Scheibe.
Frau Forestier rührte sich nicht. Sie stand noch immer mit dem Rücken zum Zimmer, das Gesicht gegen die Fensterscheibe gelehnt.
Forestier begann zu reden, mit abgerissener, keuchender, langsamer Stimme, die sich entsetzlich anhörte.
»Wie viel Sonnenuntergänge werde ich wohl noch erleben? … achtzehn … fünfzehn oder zwanzig … vielleicht auch dreißig, aber nicht mehr. Ihr habt Zeit, ihr anderen … mit mir ist es vorbei … Und alles wird weitergehen … auch nach mir, als sei ich gar nicht fortgegangen.«
Ein paar Minuten blieb er still, dann sprach er weiter:
»Alles, was ich sehe, mahnt mich daran, dass ich es in wenigen Tagen nicht mehr sehen werde … Es ist entsetzlich … Ich werde nichts mehr sehen … nichts von dem, was da ist … nicht die kleinsten Dinge, die man in die Hand nehmen kann … die Gläser, die Teller … die Betten, in denen man so angenehm ruht … die Wagen. Es ist doch so schön, im Wagen abends spazieren zu fahren! … Wie liebte ich das alles.«
Er machte mit den Fingern beider Hände leichte, nervöse Bewegungen, als ob er auf den Armlehnen seines Sessels Klavier spielte. Und jedes Schweigen, das seinen Worten folgte, war noch furchtbarer; man spürte deutlich, dass er währenddessen an die entsetzlichsten Dinge dachte.
Duroy musste plötzlich daran denken, was ihm Norbert de Varenne vor wenigen Wochen gesagt hatte:
»Ich sehe jetzt oft den Tod so nahe vor mir, dass ich die Arme ausstrecken will, um ihn zurückzustoßen. Ich entdecke ihn überall. Die kleinen Tierchen, die auf den Wegen zertreten werden, die fallenden Blätter, das weiße Haar im Bart eines Freundes, alles zerreißt mir das Herz und ruft mir zu: »Da ist er!«
Damals hatte er ihn nicht verstanden, jetzt, wo er Forestier sah, verstand er