Die Süßkirschenzeit. Lis Vibeke Kristensen

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Die Süßkirschenzeit - Lis Vibeke Kristensen


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wenn es um die anderen ging. Was sie selbst hinter der Fassade dachte, was sie fühlte, über das hinaus, was man direkt bemerken konnte, wenn sie im selben Bett lagen, davon hatte er keine Ahnung.

      Außerhalb ihrer Blase war die Landkarte weiß.

      Das Hemd folgte ihm auf der Flucht, es war sein Siegeshemd. Ein Mann mit einem Hemd von dieser Qualität ist unverwundbar, kein Grenzbeamter kann etwas anderes tun, als ihn durchzulassen, bitte sehr, mein Herr, hier entlang zur Freiheit. Er hatte es im Kopf geübt, sich selbst Mal für Mal wie eine Schachfigur über die Grenze bewegt, hinüber auf die andere Seite und jetzt verlässt der Zug Maribor und genau hier kann es schiefgehen, aber das Timing stimmt. Es ist nach Mitternacht, genau wie es sein soll und der jugoslawische Grenzbeamte ist sehr schläfrig, wirft einen Blick in seinen Fremdenpass, den Pass, den er am Strand in Bulgarien von jemandem gekauft hatte, der eine Art Freund geworden war. Das Bild im Pass ähnelt ihm nur teilweise. Die Augen sind ok, das ist das Wichtigste und Leute rasieren sich den Schnurrbart ab, das ist normal. Im Theater hätten sie reagiert, falls er sich plötzlich Gesichtsbehaarung zugelegt hätte. Der Österreicher ist wacher, aber nicht so sehr, dass er den Pass in Frage stellt. Es ist einfach so, dass er das Visum in Beograd hätte beantragen sollen. Kehren Sie nach Beograd zurück, sagt der Beamte, der jung ist und einen Pickel auf der Nasenspitze hat, beantragen Sie ihr Visum dort, sagt er, aber der Zug dampft schon Richtung Wien. Er wiederholte seine Losung, er hatte geübt und das saß wie die Replik einer Rolle. Transit, sagte er, Transit, sehen Sie hier, die Fahrkarte ist eine Retourfahrkarte, ich muss mich um meine Arbeit kümmern, Opernsänger, sagt er, selbst der Beamte mit dem Pickel kannte die Oper in Berlin. Ein paar Tage in der Hauptstadt, eine Vorstellung ansehen. Von der Leitung geschickt, um eine Vorstellung anzusehen, ein mögliches Gastspiel und dann zurück. Transit.

      Das Hemd beschützte ihn, oder so fühlte es sich zumindest an. Das Hemd erzählte ihm, dass alles möglich ist, man muss sich nur entschließen und eines Nachts war der Entschluss einfach da.

      Hier kann ich nicht leben. Es war, als hörte er sich selbst die Worte sagen, aber zum Glück war er stumm. Wenn man Fluchtpläne hat, darf nicht einmal man selbst dies kennen, sagte sein bulgarischer Freund. Hat man Freunde, ist es ausgeschlossen, das mit ihnen zu diskutieren, es könnte sowohl einen selbst als auch sie in Gefahr bringen. Man kann nur hoffen, dass man nicht im Schlaf spricht. Das Sicherste ist, mit niemandem das Bett zu teilen, aber das war keine Option und in dieser Nacht schlief Eva mit dem Gesicht ihm zugewandt, ihr Mund war halb geöffnet und entließ blubbernde Laute. Er lag lange wach und betrachtete die Sommersprossen auf ihren glatten Wangen, betrachtete das rotblonde Haar, das von der nächtlichen Wärme feucht war und sich ein wenig kräuselte und er dachte, dass es leicht war, sie zu verlassen.

      Es stand dasselbe in den Briefen, die er ihr und der anderen, sie, die etwas bedeutete, schickte: Es hat nichts mit dir zu tun, du hast keine Schuld. Vergib mir. Sicherheitshalber schickte er sie über den Freund in Bulgarien, ein Brief aus einem anderen Ostland hatte größere Chancen unbemerkt zu passieren. Keine von ihnen sollte wegen eines Briefes in Schwierigkeiten geraten, es war schon genug, dass sie mit einem Republikflüchtling näheren Kontakt hatten.

      Eva verführte ihn zu einem Zeitpunkt, als er pflückreif, unglücklich, im Stich gelassen war. Von dem einen Tag auf den anderen war er Teil eines Paares, kein gut verborgenes Geheimnis und das war eine Art Erleichterung, aber ob er jemals in sie verliebt gewesen war, weiß er nicht einmal heute. Sie war eine Oberfläche und falls mehr darunter war, zeigte sie es nie, sie war ein Körper, bei dem man liegen konnte, dem man die Arme um die Schultern legen konnte, wenn sie nach der Vorstellung nach Hause gingen, neben dem man am Kantinentisch sitzen konnte. Sie war das Schmiermittel, das die anderen still und ruhig dazu brachte, ihn endlich zu akzeptieren und zusammen mit ihr wurde sein Unglück kleiner. Auf der Bühne konnte er gut mit ihr arbeiten, privat funktionierte es. Ein Surrogat, ganz sicher, aber effektiv und es könnte weiterhin so sein. Eine Art Leben, weder schlechter noch besser, als viele andere, wenn nicht jemand entschieden hätte, eine Mauer zu bauen.

      Unter seinen Fenstern mischte ein ganzes Bataillon Arbeiter Zement, legte Mauerstein auf Mauerstein in rasendem Tempo, bis die Mauer so hoch war, dass man nicht über sie drüber klettern konnte und dann wurde sicherheitshalber Stacheldraht ausgerollt, weil sich die Leute an Laken herunterließen, Leute warfen Koffer raus und sich selbst hinterher. Seine Nachbarin, eine alte Frau, lag leblos dort unten, sie hatte gerade noch Kraft, eine Hand zu heben, als sie sie wegtrugen, aber er sah sie nie wieder und jemand sagte, sie sei im Krankenhaus gestorben. Dann mauerten sie die Fenster zu und die Türen, man musste durch den Hof reingehen und in diesen Tagen wurde das Gebäude in einen Käfig verwandelt und die Bewohner in Tiere, eingesperrt. Die, die nicht hinaussprangen und hofften, sie würden überleben und jemand auf der anderen Seite würde sie retten, zuckten mit den Schultern. Man gewöhnt sich daran, sagten sie, oder auch, dass es das war, was man erwarten konnte, wenn die Leute einfach aufbrachen und ihr Land verrieten, etwas musste ja geschehen, um den Strom aufzuhalten. Selbst sagte er nichts. Der Anblick der Mauer machte ihn stumm, stummer als der Löwe im zoologischen Garten, der hin und zurück wanderte, hin und zurück, ohne zu brüllen, aber drinnen in seinem Kopf arbeitete es und vielleicht arbeitet es ebenso im Kopf eines Löwen, dort drinnen im Käfig, ein einziger Gedanke, ich muss hier raus, koste es, was es wolle.

      Die Wohnung war nicht länger seine als er aufbrach. Eines Tages kamen sie und baten ihn, seine Sachen zu entfernen und zu diesem Zeitpunkt war er zu stolz, sie um Hilfe zu bitten, die Chefin, er hatte angefangen, sie in seinem Kopf so zu nennen, und einen Schlafsaal mit anderen Obdachlosen zu teilen, kam nicht in Frage. Er saß mit Sack und Pack in der Kantine, als Eva sich anbot. Bis du etwas anderes findest, hieß es, aber sie wussten beide, dass das rein pro forma war, sie übernachteten sowieso schon bei dem anderen, wenn es ihnen passte, wieso also nicht zusammenziehen, wenn die Dinge jetzt waren, wie sie waren.

      In dieser Nacht lag er mit offenen Augen und hämmerndem Herzen da und als die Sonne aufging, wusste er, was er zu tun hatte und auch wie. Als der Wecker klingelte, wachte Eva auf und lächelte ihn an, er erinnerte sich, dass er dachte, dass er sie vielleicht trotz allem vermissen würde. Aber als es soweit war, hinterließ sie nicht einmal eine Leere.

      Der weiche Stoff des Hemdes beruhigte ihn auf der Reise. Erst viele Jahre später machte er daraus Putzlappen, es beschloss seine Tage in einer Holzkiste in Gesellschaft der Dose mit dem Lederfett. Während dieser Jahre trug er Stiefel aus Kernleder, wie alle anderen, die Stiefel waren das Einzige an ihm, was nicht blau war, selbst die Socken waren blau, Badehose, Wintermütze, Fäustlinge. Blau war eine Erinnerung an das Wichtigste in seinem Leben. Für andere hätte es als Parenthese verbleiben können, für ihn selbst zog es Grenzen. Zwischen dem Wesentlichen und dem, was er verlassen konnte.

      Im Fernseher sprechen sie seine Sprache mit dem Berliner Akzent, den er nie hatte lernen können. Er hatte genug damit zu tun, seine ländlichen Betonungen zugunsten einer Theatersprache abzustellen, die von allen verstanden werden konnte, es sei denn, die Rolle forderte genau das, dass er wie ein Bauernrüpel klang.

      Sie rufen immer noch hurra. Sie umarmen einander und lachen und weinen, Wunderkerzen versprühen ihre Funken, Leute trinken Sekt direkt aus der Flasche. Die Menschen auf der Mauer sind die Gischt auf einer Flutwelle, die alles auf ihrem Weg mit sich spült, Bürokraten, Polizisten, Schäferhunde, Generäle mit Lametta aus Orden auf der Brust und dieses Land dort hat nicht genug Sandsäcke, um sie zu stoppen, oder jemand hat heimlich und aus Protest die Sandsäcke mit Zucker gefüllt und der Zucker löst sich auf und verwandelt die Welle in Sirup, Tod durch Ertrinken in voller Süße für das sauerste Land der Welt.

      Es klingelt an seiner Tür. Das passiert nicht oft, trotz all seiner Jahre im Land, hat er niemanden, den er einen Freund nennen könnte. In Dänemark gibt man vielleicht ein Bier aus und sitzt und schwatzt ein paar Stunden und danach passiert nichts weiter. Meistens ist es nur der Hausmeister, der an einem Hahn drehen oder einen Heizkörper entlüften muss, oder die Zeugen Jehovas, die ihn erlösen möchten. Ein seltenes Mal steht seine Nachbarin mit einem Schlüssel draußen und bittet ihn, die Topfpflanzen ein paar Tage zu gießen. Die Nachbarin ist eine knochige Frau in seinem Alter mit der Patina, die weibliche Alkoholiker nach vielen Jahren in Gesellschaft von Flaschen bekommen, eine grobe Haut, eine Schlaffheit unter den Augen, Haare, die nicht wie Haare aussehen, sondern wie die Füllung einer Matratze.


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