Die Süßkirschenzeit. Lis Vibeke Kristensen

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Die Süßkirschenzeit - Lis Vibeke Kristensen


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keinen Appetit. Die Scheibe Roggenbrot liegt auf dem Schneidebrett neben dem Glas Rote Beete und sieht wie ein normales Butterbrot aus und er schafft es nicht einmal, es in Folie zu wickeln und es in den Kühlschrank zu legen, das sieht ihm nicht ähnlich.

      Er ist zu müde, um müde zu sein und sich wieder vor den Fernseher zu setzen und zu sehen, wie seine Landsleute betrunkener und betrunkener und lauter und lauter werden, schafft er nicht. Draußen ist es nasskalt, ein strömend nasser, anthrazitgrauer Donnerstag, an dem ihn niemand erwartet. Die Tournee war am Wochenende zu Ende und die ersten Tage der Woche haben sie gebraucht, um aufzuräumen, die Dekoration auseinanderzupflücken und das, was nicht wieder verwendet werden kann, auf die Müllhalde zu bringen. Nun bummelt er bis Mitte nächster Woche die Zeit ab. Zeit abbummeln ist das Schlimmste, was er kennt, direkt nach Ferien und Feiertagen, wenn das Theater geschlossen hat und ihn niemand braucht.

      Er geht am Weinkeller vorbei, wo die Leute zu diesem Zeitpunkt entweder leicht angetrunken und sentimental oder latent aggressiv sind oder dabei sind, sich zu entscheiden, nach Hause zu Frau und Fernseher zu gehen, bevor sie es werden.

      Im Theater sind die heutigen Proben vorbei, die nächste Premiere ist am zweiten Weihnachtstag und erst am Montag beginnen die Abendproben. Die Fassade des viereckigen Gebäudes liegt im Dunkeln und er lässt sich durch die Kellertür rein und stellt den Alarm auf Null. Unten in der Teeküche der Techniker stehen die Becher noch auf dem Tisch, die Lampe der Kaffeemaschine leuchtet rot, nicht immer denkt jemand daran, sie auszustellen. Der letzte, bittere Kaffee füllt einen halben Becher und er verbrennt sich an ihm, ehe er ihn ins Waschbecken kippt, alle Becher abspült und sie ins Abtropfgestell stellt. Das Kalendermädchen an der Wand lächelt ihn an, sie hat eine Wichtelmütze auf und große Brüste und sie ist unter der Gürtellinie glattrasiert, es sieht aus, als hätte man einen erwachsenen Oberkörper auf den Unterleib eines kleinen Mädchens transplantiert, ein durch und durch missglücktes Experiment.

      Der Aschenbecher ist wie gewöhnlich übervoll. Jeglicher Versuch hier unten ein Rauchverbot einzuführen, stößt auf die massivste Form zivilen Ungehorsams. Freie Menschen fordern freies Rauchen und solche wie er müssen sich einfach damit abfinden. Er findet sich damit ab, er hat nicht einmal Lust, sich zu beschweren, wenn sie im Tourneebus rauchen, er passt sich an, wie er es von Anfang an getan hat und warum sollte er das auch nicht? Er hatte es selbst entschieden, sein Land und die Karriere, die gerade aus den Startlöchern gekommen war, zu verlassen, er hatte sich entschieden, seine Sprache zu verlassen und was ist ein Schauspieler ohne Sprache, für etwas so abstraktes wie Freiheit. Die Freiheit zu denken, zu sagen, für die Partei zu stimmen, wie er Lust hat, mit der Gewissheit in eine Wahlkabine zu gehen, dass niemand erfahren wird, wo er sein Kreuz setzt. Freiheit, denen zu sagen, die es hören wollen, dass der Ministerpräsident einem Parfümhändler ähnelt und das Prinz Henrik schwul ist, welche Freude er auch daran haben sollte. Meinungsfreiheit heißt das und er schaut sich in dem unordentlichen Raum um und weiß, welche Gespräche bei Kaffee und Zigaretten geführt werden, beim Freitagsbier. Wozu die Meinungsfreiheit an diesem Theater gebraucht wird, in diesem Land.

      Die Nationalhymne, die seine Kindheit und Jugend begleitet hat, hallt durch seinen Kopf und er nickt im Takt zu der schlechten Poesie, Auferstanden aus Ruinen Und der Zukunft zugewandt Laß uns dir zum Guten dienen Deutschland, einig Vaterland!

      Auferstanden aus Ruinen. Das war sein Land und es war nur Ärmel hochkrempeln und wegräumen und neu bauen. Für Frieden und Sozialismus, gegen Krieg und Nationalsozialismus. Er hörte den Lehrern zu, den Jugendleitern, all den Erwachsenen, die wie aus einem Mund sprachen und er glaubte, dass sie es so meinten. In der Tiefe seiner naiven Seele glaubte er an den faktisch existierenden Sozialismus. Glaubte daran, dass er Teil von etwas Wichtigem war und das alles nur besser und besser werden würde und dass das Theater ein Teil des Kampfes war. In der Amateurgruppe, in der er mit ein paar anderen aus der Fabrik begonnen hatte, stand er mit Menschen zusammen auf der Bühne, die dasselbe glaubten. Dass sie gemeinsam die Welt verändern könnten und dass es nur eine Frage der Zeit war, bis alles besser werden würde. Bis alles gut werden würde.

      Seine Mutter bekam im Textilkombinat Arbeit und nähte Hemden, das eine hässlicher als das andere, alle aus Kunststoff, der einen dazu brachte, nach wenigen Minuten aus allen Poren zu schwitzen. Sie kamen mit dem Lohn aus. Es gab auch nicht so viel zu kaufen, dass es etwas ausgemacht hätte und es gab viel, das umsonst war. Alle Frauen an den Nähmaschinen hatten ihre Männer verloren oder die Männer saßen zu Hause am Küchentisch und tranken und wurden innerlich von Verbitterung über ihr Schicksal und das eine Bein, das der Krieg ihnen gelassen hatte, zerfressen. Sein eigener Vater war eine schlanke Figur auf einem Bild. Die Uniform stand ihm und auch wenn das Bild in Schwarzweiß war, konnte man sehen, dass seine Augen trotz des schwarzen Haares, das unter der Mütze hervorschaute, blau und hell waren.

      Seine Mutter kränkelte als er nach Berlin fuhr, aber solch eine Chance konnte er sich nicht entgehen lassen, das dachte sie auch. Einmal besuchte er sie, nachdem er umgezogen war und da hatte sich der Krebs bereits ausgebreitet, Lunge, Knochen, Leber und einen Monat später war Schluss. Er konnte sich nicht vorstellen, darum zu bitten, frei zu bekommen, um zu der Beerdigung zu gehen. Schauspieler nehmen sich nicht frei, nicht einmal, um auf die Beerdigungen ihrer Mütter zu gehen, niemand will eine abgesagte Vorstellung auf dem Gewissen haben. The show must go on. Die Worte dafür lernte er erst im Westen, aber sie sind ihm in Fleisch und Blut übergegangen und seine Mutter war tot und es konnte ihr egal sein.

      Was sollte er auch mit einer Mutter? Er war 20 Jahre alt und das Leben war ein Abenteuer, wie er, Tölpel-Hans, es auf seinem Ziegenbock durchritt und unterwegs nicht nur das halbe Königreich eroberte oder eine dämliche Prinzessin, sondern die Königin selbst. Ein übermütiger Bursche, der das Glück im Schoß der Angebeteten schmeckte und der dumm genug war zu glauben, dass es ewig anhalten würde, oder was ewig eben ist, wenn man 20 Jahre alt ist. Es wird ewig dauern, aber nicht auf die Art, wie er glaubte.

      Im Pausenraum riecht es nach altem Tabak, Farbe und Fußschweiß. Ein halbleeres Buttertöpfchen, in dem ein Messer steckt, steht neben dem Waschbecken, wo jemand Pinsel ausgespült hat und vergessen hat, hinterher sauber zu machen. Er wischt die Flecken mit einer Handvoll Küchenpapier weg. Ganz oben in dem großen Mülleimer liegt das Endstück eines Weißbrotes und dann holt der Hunger ihn ein und er kann nicht hungrig sein, er kann nie hungrig sein. Hunger schmerzt, sodass er jedes Mal denkt, er habe ein Magengeschwür, dass er in einem Augenblick Blut spucken, verbluten und sterben würde. Er bürstet den Kaffeesatz vom Brot, schmiert Butter auf ein Stück und beißt ab. Noch eine dicke Scheibe, er kaut und schluckt. Er hatte Glück, dass es überhaupt etwas zu essen gab. Es gehört nicht mehr dazu, als dass er vor einer Blutabnahme nichts essen darf, bis das Wartezimmer mit seinen Menschen in dicken Jacken und mit besorgten Blicken verschwindet und er ist 30 Jahre jünger und steht auf einer Straße in Wien mit grummelndem Magen, die Fassaden der Geschäfte sind eine Reihe blinder Augen.

      Es ist ein Feiertag, Allerheiligen, sagt der Junge, den er fragt, ein großer Bursche mit ernstem Gesicht und einem Strauß in der Hand, auf dem Weg zu einem Friedhof zusammen mit einem steten Strom in Pelz gekleideter Frauen, mit kleinen Kränzen, mit Blumensträußen. Feiertag, begreift er, bedeutet, dass alles geschlossen hat, dass er kein Geld wechseln kann, nichts zu essen kaufen kann. Der Magen schmerzt, aber sein kleines Kapital im Jackenfutter ist nutzlos. Er erbettelt die notwendigen Münzen bei einer Frau auf der Straße und sie bekommt Angst, als er fragt und gibt sie ihm aus Angst, nicht einmal seine blauen Augen sind eine Garantie dafür, dass er nicht zu Handgreiflichkeiten übergehen könnte.

      Er ruft von einer Telefonzelle aus an und er hat mehr Glück, als Verstand. Sie, deren Telefonnummer er in seinem rechten Schuh versteckt hatte, muss zur Schicht, sie steht bereits mit dem einen Bein in der Tür, aber sie kann ihn nicht abweisen, nicht ihn, den sie kennt, seit sie Kinder waren und dieselben Fahnen geschwenkt haben und vielleicht wäre aus ihnen ein Paar geworden, sie gingen zusammen ins Kino und badeten im Fluss. Sie war mit ihrer Krankenschwesternausbildung in vollem Gang, als er nach Berlin zog und am Theater anfing und sie schrieben sich Briefe. Bis einer ihrer Briefe einen fremden Poststempel hatte. Da hörte es auf. Sie steht unten auf der Straße, als er ankommt, außer Atem, nachdem er nach ihren Anweisungen durch die Straßen gelaufen ist, aber glücklicherweise hat er nur seine Schultertasche, er wird ja bloß ein paar Tage weg sein, eine Vorstellung sehen


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