Die Süßkirschenzeit. Lis Vibeke Kristensen

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Die Süßkirschenzeit - Lis Vibeke Kristensen


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Der Gedanke lässt ihn lachen und das ist das erste Mal, seit er seine Zugfahrkarten gekauft hat, dass er sein eigenes Lachen hört. Vielleicht ist es in Wirklichkeit mehrere Monate her, dass er gelacht hat und das Lachen überrumpelt ihn, aber er kann es nicht zurückhalten. Eine ältere Frau sieht ihn aus ihrer Koupéecke missbilligend an, aber das Lachen ist zu stark, es brodelt hysterisch in seiner Kehle und je mehr er es zu unterdrücken versucht, umso mehr brodelt es. Bis es nicht mehr brodelt. Bis das Lachen kein Lachen mehr ist.

      Seit er klein war, traten ihm schnell Tränen in die Augen. Zusammen mit ihr, die nie ganz aus seinem Kopf verschwunden ist, konnten die Tränen kommen, wann auch immer, und sie küsste sie weg, wiegte ihn in ihren Armen, in ihren schlanken, starken Armen, presste ihn an ihre Brust, als wollte sie ihn nie wieder loslassen, bis sie ihn losließ und er frei schwebte, bis er bei Eva landete, eine Zwischenstation, wo kein Platz für Tränen war, sondern nur für Zähne zusammenbeißen und versuchen, sie, die etwas bedeutete, zu vergessen. Eine Unmöglichkeit, wenn kein Tag verging, an dem er sie nicht sah, wenn alles um ihn herum an sie erinnerte, im Theater, in seiner Wohnung.

      Die Kaffeekanne ist leer. Er spült sie und den Becher aus und stellt sie in das Gestell, vergewissert sich, dass das Licht überall aus ist. Draußen an der Kellertür stellt er den Alarm wieder an und hört, wie die schwere Tür hinter ihm zufällt, als er die Treppe hoch geht. Eine Prostituierte mit dunklem Teint geht an der Ecke zu seiner Straße an ihm vorbei, want fun, good price, aber er wird sich hüten, er hat noch nie für Sex bezahlt. Sein Bedarf hat auch mit den Jahren abgenommen und im schlimmsten Fall hat er seine rechte Hand, die weder ansteckend ist noch Ansprüche auf Nähe erhebt. Ob es Prostituierte in seinem alten Heimatland gab, weiß er nicht, das war nie aktuell. Hier gibt es viele von ihnen, in den Massagesalons in Kellern und geschlossenen Friseursalons und hier im Viertel stehen sie in ihren kurzen Röcken, dünnen Strümpfen und auf absurden Absätzen auf der Straße, ein paar von ihnen tauchen in regelmäßigen Abständen im Kellercafé auf, stehen plötzlich in der Tür und wenn kein Publikum dort ist, werden sie ins Warme gelassen. Sie frieren, haben einen blauen Fleck oder einen ausgeschlagenen Zahn vorzuzeigen, ihre Zuhälter halten sie an der kurzen Leine und sie haben keinen Ort, wo sie hingehen können, sie sind unter ständiger Kontrolle, nicht einmal ihr Geschlechtsorgan gehört ihnen. Tut ihr Verstand es?

      Das war das Schlimmste. Nicht die Mauer, nicht die zugenagelten Fenster, sondern dass der eigene Verstand nicht einem selbst gehörte. Dass man ohne es zu wissen, ohne es bewusst zu wissen, irgendein Relais hinter der Stirn entwickelte, das an- oder ausging, wenn sich ein verbotener Gedanke meldete. Bevor er den Mund erreichte, bevor er den Bleistift in jemandes Hand erreichte.

      Die Tür zur Wohnung klemmt leicht, das tut sie seit ein paar Wochen. Der November ist dieses Jahr feucht, es ist bestimmt deshalb, aber er will trotzdem mit dem Hausmeister darüber reden. Der Hausmeister hat seine Rolle zu spielen und wird es ihm übel nehmen, wenn er Werkzeug vom Theater mitnehmen und selber beginnen würde, daran herumzuwerkeln.

      Das Brot mit Leberpastete liegt auf dem Schneidebrett, er verschlingt eine Scheibe Rote Bete und nimmt einen Bissen vom Butterbrot. Durch die Wand kann er den Fernseher der Nachbarin hören, ein Musikprogramm mit schweren Bässen lässt die dünne Wand vibrieren. Er sieht sie vor sich, das Glas und die Flasche stehen vor ihr auf dem Sofatisch, es ist nur noch ein Schlückchen übrig und sie döst leicht, oder vielleicht ist sie auch schon in diesen Zustand geglitten, in dem einen nichts erreicht. Keine Erinnerungen, nichts, was wehtut, er hat es ausprobiert, aber das ist nichts für ihn. Sein eigenes Mittel gegen die Erinnerungen ist, das Fahrrad zu nehmen und einfach dahinzurasen, bis er nicht mehr kann, es ist passiert, dass er in Helsingør oder Hundested gelandet ist, aber alles ist besser, als zu Hause zu sitzen und an das zu denken, was seit langem tot und begraben ist. Sein letztes Fahrrad wurde vor ein paar Tagen gestohlen, in dem Viertel hier gibt es einen schnellen Umschlag an Fahrrädern, aber er hat immer ein Fahrrad gehabt. In Berlin sparte er sich von seinem Lohn eines zusammen und kaufte das Beste, Diamant hieß es. Sein Herz blutete, als er es dem Praktikanten aus Hamburg verkaufte, aber von den D-Mark, die er im Gegenzug bekam, kaufte er die Zugfahrkarten für seine Flucht.

      Als er sich damals in den Zug setzte, wusste er nicht, wie schwer es war, sich nicht umzusehen, aber nicht einmal in dem staubigen Lokal der Postsortierung, wo er die ersten Jahre arbeitete, entkam er dem. Die Briefe, die seine Hände passierten, hatten Poststempel und handgeschriebene Adressen, die an etwas erinnerten, selbst die Maschinenschrift ähnelte etwas, das er kannte. Die Studenten, die ihr Studium durch einen Zusatzjob bezahlten, gingen ins Theater und unterhielten sich über die Stücke, die sie gesehen hatten, Stücke, die er kannte und sie diskutierten Politik. Ein paar von ihnen glaubten an den Kommunismus und waren Mitglieder der Partei und er sah, wie ihre Augen leer wurden, wenn ihnen jemand widersprach. In ihren Augen war er ein Paria, ein Abtrünniger und sie mieden ihn, aber als sie allmählich ihre Examen gemacht hatten und ausgetauscht wurden, hörte er auf zu erzählen, wo er herkam. Sein Vorname konnte genauso gut dänisch sein und sein Akzent ist minimal. Wenn jemand fragte, war er Südschleswiger. Dänisch gesinnt, hörte er jemanden sagen, sodass er es durchblicken ließ und das war wichtig. Das gab ihm einen gewissen Status. Niemand erwartete, dass man etwas Privateres von sich erzählte, man schwatzte, erzählte Geschichten, zog sich gegenseitig auf. Das erste Mal, als er den Ausdruck hörte, dachte er, er hätte sich verhört, aber es stimmte, die Dänen sind ein unbekümmertes Volk. Sie, die er versuchte zu vergessen, hatte hier einige Jahre gelebt, als sie selbst auf der Flucht gewesen war. Dänemark ist ein Teddybär, sagte sie. Jetzt weiß er, dass sie recht hatte.

      Der Kaffee vom Theater brennt in seinem Magen, das Herz hat es eilig in seiner Brust. Der Fernseher nebenan läuft immer noch, jetzt sind es Männerstimmen, die durcheinanderreden, und das Publikum lacht. Wie würde sie reagieren, wenn er bei ihr klopfte? Würde sie ihn hereinlassen, ihm eine Nacht in ihrem Bett anbieten, ihn hätscheln, bis er dem entkam, was ohrenbetäubend in seinem hellwachen Kopf polterte? Der Gedanke, was der Rest des Schnapses mit ihr gemacht hat, lässt ihn die Idee aufgeben.

      Die Erinnerungen sind eine Infektion. Die Vergangenheit ist ein Entzündungszustand und gerade jetzt hat er keine Medizin dagegen.

      Kopenhagen 1991

      Impfstoffe stellt man aus Krankheitserregern her, das weiß jeder. Man spritzt die Krankheit, gegen die man sich schützen will, in den Körper und der Körper mobilisiert alle Streitkräfte zur Selbstverteidigung, baut einen Panzer auf, der einen beschützt, wenn die Gefahr das nächste Mal angreift.

      Eines nachts zwischen zerknitterten, sommerverschwitzten Laken weiß er es. Kehrt er nicht zurück, werden ihn die Bilder den Rest seines Lebens verfolgen, seine wachen Stunden verpesten, ihn in seinen Träumen verfolgen. Gegen Morgen dämmert er dahin und als er aufwacht ist Sonntag. Ein Sonntag mitten in den Ferien, die kein Ende nehmen wollen und wo er sich unaufhörlich dabei erwischt, sehr laute Selbstgespräche zu führen.

      In dem Sommer, als er es mit einer Charterreise versuchte, hatte er nicht vorhergesehen, wie er auf eine Grenze reagieren würde, auf die Uniformen der Beamten, auf den Gedanken, jemandem, der ihn zurückhalten könnte, seinen Pass vorzeigen zu müssen. Anstelle einen neuen Versuch zu wagen, bemüht er sich, jeden Tag ein neues Ziel für seine Fahrradtour zu finden, um sich nicht zu Tode zu langweilen. Heute aber muss das Fahrrad im Keller bleiben, wo das geringste Risiko dafür besteht, dass es jemand stiehlt. Stattdessen muss er einen Plan schmieden, solange das Eisen noch heiß ist und bevor er selbst kalte Füße bekommt.

      Heute Nacht wusste er es und jetzt am Morgen ist es weiterhin eine Tatsache, die er nicht ignorieren kann. Viele Monate konnte er den Fernseher nicht einschalten, ohne es an den Kopf geworfen zu bekommen. Eine jubelnde Versammlung nach der anderen, aber auch Enthüllungen, Rechtsverfolgungen, der beschämende Zusammenbruch eines beschämenden Systems und eines Tages befindet sich sein altes Land nicht bloß in Auflösung, es ist verschwunden. Sein Vaterland existiert nicht mehr und paradoxerweise macht die Nationalhymne erst jetzt irgendwie Sinn. Er singt, während er sich sein Sonntagsbrötchen schmiert und die erste Tasse Kaffee des Tages kocht, das ganze Lied, alle drei Strophen und die Poesie ist immer noch hilflos, aber als er ans Ende kommt, sind die Worte wenigstens keine Lügen mehr.

      Deutsche Jugend bestes Streben unsres Volks in dir vereint wirst du Deutschlands neues Leben Und die Sonne schön wie


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