Die Süßkirschenzeit. Lis Vibeke Kristensen

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Die Süßkirschenzeit - Lis Vibeke Kristensen


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Es ist mitten in den Sommerferien und er läuft kaum ein größeres Risiko, jemanden zu treffen, den er kennt. Er kann ruhig dort rübergehen und einen Blick auf die Fassade und die Plakate werfen, die der vergangenen Saison oder der kommenden und dann einfach weiter seines Weges gehen, damit zufrieden, endlich den Schritt getan zu haben. Seinen Schrecken vor Grenzen überwunden zu haben und zurückgekehrt zu sein, einen Blick auf seinen alten Arbeitsplatz geworfen und konstatiert zu haben, dass er immer noch dort liegt und dass ihm das Wiedersehen nichts getan hat, weder Gutes noch Schlechtes.

      Ein paar Männer auf Leitern sind dabei, die Reste des Repertoires des vergangenen Jahres aus den Rahmen an der Fassade zu entfernen. Die Rahmen sind größer, als zu seiner Zeit, wo man keine Werbung machen brauchte, sondern nur darauf warten konnte, dass die Betriebe Karten für ihre Angestellten bestellten. Sie hatten immer volles Haus. Die Arbeiter wurden mit Bussen zu den Vorstellungen gefahren, Studenten kamen in Gruppen, Gymnasiasten klassenweise, von Leitungen weggeschickt, die Wert darauf legten, ihnen die notwendige Dosis Kunst zu geben. Die Kunst war ein Teil der Erziehung und Werbung war unnötig und außerdem vulgär. Wenn er es nicht besser wüsste, könnte er es als etwas Positives sehen, eine Gesellschaft, die auf Qualität setzte und daran glaubte, dass man nicht zu billigen Mitteln und geschmackloser Manipulation greifen musste, um das Volk dazu zu bewegen, das Richtige zu wählen.

      Die Schranke zum Hof ist unten und der Glaskasten des Pförtners ist leer. Ein Aushang am Fenster teilt mit, dass die, die ihre Garderobe nicht vor der Renovierung geleert haben, ihre Sachen in der Kantine abholen können. Werktags zwischen zwölf und eins. Er hat nichts, was er abholen soll. Trotzdem geht er schräg über den Hof, wie er es schon Hunderte Male getan hat, vorbei an einem Schild an der alten Lagerhalle. Probebühne. Es riecht nach Experiment, aber die Plakatreste neben der Tür erzählen von einem Stück, das sein eigenes Theater in der vergangenen Saison hinaus ins Land auf Tournee geschickt hatte und für Provinztourneen nimmt man Stücke, die niemanden beleidigen. Im Übrigen ist der Hof ganz der Alte mit Holzstapeln und Haufen von Metallrohren, die darauf warten, reingetragen und von kundigen Händen in Versatzstücke verwandelt zu werden. Hände wie seine eigenen. Gebt ihm einen Hammer in die Hand und er wird genauso leise seinen Platz finden, in den Rhythmus der Arbeit hineingleiten, hier wie dort.

      Die Tür zur Kellerkantine knirscht, nichts Neues hier. In einem Theater macht man Vorstellungen, niemand denkt daran, einer Tür einen Tropfen Öl zu geben, wenn die Premiere kurz bevorsteht und wann tut sie es nicht? Es ist dunkel in dem Raum mit der niedrigen Decke, wo die zerschrammten Tische stehen, wo sie gestanden haben, aber wo die Wand hinter der Theke jetzt mit einer großen, schwarzen Tafel verkleidet ist. Wie eine der Schiefertafeln, auf die er in der Schule geschrieben hatte und die jetzt die Wände in Cafés mit französischen Namen in Kopenhagen bedecken. Es riecht nach Essen, die Kantine muss für die Handwerker geöffnet bleiben, die an der Renovierung arbeiten und im nächsten Augenblick kommen sie die Treppe herunter. Im nächsten Augenblick taucht das Kantinenpersonal auf und wundert sich, wer er ist und was er dort tut. Trotzdem bleibt er dort stehen und dann ist er nicht mehr länger ein Schlafwandler. Er ist wach und es ist zu spät, um zu flüchten.

      Sie hatte ihren festen Platz am Tisch links neben der Tür. Alle mussten an ihm vorbei, niemand entkam ihrem Blick, wohlwollend oder prüfend, missbilligend oder aufmunternd. Ihre Augen waren überall, der, der über den Hof ging, konnte vom Fenster ihres Büros aus angerufen werden, komm direkt mal hoch, nur fünf Minuten. Die anderen redeten darüber. Selbst wurde er nie hochgerufen und in der Kantine ging er einfach vorbei und bekam ein Lächeln, ein Nicken, das war alles. Trotzdem dachte er jedes Mal, dass alle es sehen können mussten. Genauso deutlich, als würden sie nackt bei voller Beleuchtung mitten auf der Bühne stehen.

      Der schwere Tragpfeiler in der Mitte des Lokals versteckt den Tisch, der während der Zeit, als seine Kollegen nichts von ihm wissen wollten, sein bevorzugter Platz war. Dort aß er sein Essen, während er den Anstrich auf dem Mauerwerk anguckte, bis er jede Ritze, jeden abgeblätterten Fleck auswendig kannte. Niemand setzte sich auf den Stuhl gegenüber, niemand wandte sich an ihn, es war ein einsamer Ort. Das hätte jeden dazu bringen können, den Appetit zu verlieren, aber dort am Tisch links neben dem Eingang saß sie, sein Geheimnis und strahlte.

      Er will wieder auf dem Stuhl sitzen. Sich erinnern, wie es war und spüren, dass es ihm nichts ausmacht. Dass nichts Einschüchterndes daran ist, fremd zu sein und mit Misstrauen oder Gleichgültigkeit betrachtet zu werden. Es ist so, wie sein Leben gewesen ist und er hat es gemeistert, auch ohne Schaden zu nehmen. Aber der, der sein Stuhl war, ist nicht leer. Ein älterer Mann sitzt auf ihm. Seine breite, gewölbte Stirn und schmale untere Gesichtshälfte lassen ihn einem Widder ohne Horn ähneln. Er hebt den Blick von der Tischplatte.

      In einer eiskalten Sekunde weiß er, wer das ist. Der Mann auf dem Stuhl ist der Einzige, den er jemals geschlagen hat. Zu Boden, darüber hinaus brauchte er Hilfe, um ihn wieder auf die Beine zu bekommen. Der Mann war betrunken und wütend und selbst heute ist er, ohne dass er weiß, warum, davon überzeugt, dass er keine Wahl hatte.

      Waren sie Rivalen? Er weiß es nicht. Nur, dass der Mann auf dem Stuhl nach fünf Jahren Gefängnisstrafe wiedergekommen war und sein Recht eingefordert hatte. Am Theater war er nicht länger willkommen und Eva wollte nichts von ihm wissen. Das Verhältnis war kurz und stürmisch gewesen, einmal war sie gezwungen, ein blaues Auge zu überschminken, um auf die Bühne gehen zu können und jetzt war sie ja mit ihm zusammen.

      Der Mann hat seinen Kopf gehoben. Damals hatte er begonnen dünnes Haar zu bekommen, jetzt ist sein nackter Scheitel eine blanke Halbkugel.

      – Du, sagt er. – Bist du zurück im Schoß der Familie?

      Seine Augen haben rote Ränder und sie sind weder feindlich noch das Gegenteil, nur müde. Als hätten sie das gesehen, was es wert war, gesehen zu werden und sich nun damit begnügt zu registrieren.

      – Das kann man nicht sagen, sagt er. – Nur ein kurzer Besuch.

      Tourist, denkt er. Auf frischer Tat ertappt. Man könnte glauben, ich käme zurück, um zu triumphieren, den Leuten mit meinem sorgfältig ausgesuchten Hemd und dem schicken Gürtel an meiner Designerjeans vor der Nase herumzuwedeln.

      – Du bist davongekommen, sagt der Mann und jetzt erinnert er sich an seinen Namen. Uwe war es. Das hatte er verdrängt, wie so vieles andere.

      – Du warst cleverer, als wir dachten.

      – Ich bin zurechtgekommen.

      Es poltert hinter ihnen, Stimmen und Schritte hallen zwischen den Wänden wider.

      – Komm her.

      Uwe steht auf und winkt ihn rüber zur Küchenluke. Sie stehen zuletzt in einer kleinen Schlange von Leuten in Arbeitskleidung und er will nicht unhöflich sein und nimmt das Tablett entgegen, das Uwe ihm reicht, Messer und Gabel, Glas, fischt zwei Servietten aus einem Halter und bemerkt Uwes ironische Grimasse. Die Frau in der Luke hat küchenfettiges Haar über den eingefallenen Wangen, denen nicht mal die Herdwärme Farbe zu geben vermochte. Das letzte Mal, als er sie gesehen hatte, war sie ein blühendes, rotwangiges Mädchen, immer gut für eine freche Bemerkung. Jetzt sind ihre Augen klein und desinteressiert, wie bei jemandem, der gerade aus einem schlechten Schlaf erwacht ist. Erst als Uwe seinen Namen sagt, blitzt etwas hinter ihren Brillengläsern auf und natürlich kann er mitessen, es ist genug für alle da, so war es damals, so ist es heute. Die besten Traditionen überleben und sie erinnern sich wohl alle an die guten, alten Tage. Damals als sie jung und faltenfrei waren, alle zusammen. Sie lacht ihm und Uwe zu. Ihr fehlen ein paar Backenzähne im Oberkiefer, aber ihre Freundlichkeit tut ihm gut.

      Schweinsroulade. Rotkohl. Zwei massive Knödel und genug braune Sauce, um eine Ratte darin zu ertränken. Er kennt das alles, aber er hat seit Jahren nicht mehr so gegessen, gewöhnlich brät er sich einen Bissen Lachs oder ein Kotelett und isst einen ordentlichen Salat dazu, nimmt sich eine Schnitte Roggenbrot, wenn er keine Lust hat zu kochen.

      Sie setzen sich an den Tisch und Uwe haut rein.

      – Sie gibt mir immer eine Portion, wenn ich komme, sagt er zwischen zwei Bissen. – So bekomme ich am Tag etwas zu Essen.

      Das Fleisch ist zäh wie Gummi, als wäre es einmal zu oft aufgewärmt


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