Die Süßkirschenzeit. Lis Vibeke Kristensen

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Die Süßkirschenzeit - Lis Vibeke Kristensen


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Grund zu finden, sie aufzusuchen. Sie war eine alte Geschichte, eine, mit der er mal vor einer Ewigkeit eine Affäre gehabt hat und die er verlassen hatte. Nicht weil er wollte, nicht wegen ihr, es ist wahr, was er im Brief geschrieben hatte, es war wegen ihm selbst. Jetzt hat Uwe sie aus den Schatten heraufbeschworen, sie sitzt zwischen ihnen auf dem Sofa. Das rotblonde Haar schimmert im Lampenlicht, die schmalen Lippen sind feucht, bereit, um zu küssen, ein Kuss, der offenbar mehr als ein gewöhnlicher Kuss sein konnte, falls man Uwe glauben konnte und warum sollte er es nicht? Uwe wirkt nicht wie ein paranoider Mythomane und das, was er sagt, macht furchtbar, unwiderlegbar Sinn.

      – Niemand weiß, wo du bist. Uwe wiederholt die Worte. – Zu jedem Schritt, den ich da drinnen gemacht habe, hat sie mich verurteilt. Zu jeder Nacht in Kälte. Zu jedem Tag in einer Zelle aus Gummi, die keine Ecken hatte, wo du in der Dunkelheit in deiner eigenen Scheiße und Pisse liegen und vergessen konntest, wer du bist. Keine Ecken. Du weißt nicht, wo oben und unten ist, zum Schluss hast du vergessen, dass du überhaupt existiert hast.

      Er kann sie riechen, so als wäre sie wirklich. Eau de Cologne, darin hat sie ihren Körper gebadet, wenn sie sich morgens gewaschen hat, sie goss es über die Handgelenke, bevor sie zur Bühne ging, das nahm die Spitze der Nervosität, sagte sie. Jetzt sitzt sie neben ihm und falls sie nervös ist, zeigt sie es nicht.

      – Ich glaube nicht, dass sie so weit gedacht hatte. Uwe stellt die Flasche weg. – Ich glaube nicht, dass sie diese Art Fantasie hatte. Aber ich wollte sie dafür umbringen. Als du verschwunden bist, hätte ich das tun können, es wäre leicht gewesen, sie nach einer Vorstellung abzupassen, an einem späten Abend. Ich hätte sie erwürgen und mir dafür Zeit nehmen können. Sie auslöschen und ihre Augen schließen. Sie hat auf mich mit Verachtung gesehen, ich war ein Wurm, den sie mit dem Absatz zerquetschen konnte. Ein paar Monate hatte ich Fantasien von dem Schrecken in ihren Augen, wenn ich ihr die Hände um den Hals legte. Erst als irgendwer sagte, dass sie schwanger war, gab ich auf, das Kleine hatte mir ja nichts getan.

      Sie rückt sich auf dem Sofa zurecht, zieht die Beine unter sich und fasst sich um die Knie, spreizt die Oberschenkel und etwas kommt aus ihr raus, etwas Lebendiges. Etwas, das zappelt und schreit und sein Leben hat keine Ecken mehr. Sein Leben ist dunkel und Dunkelheit hat keine Ecken. Irgendwo in der Dunkelheit redet Uwes Stimme weiter, aber er hört die Wörter nicht mehr und zum Schluss hören sie auf.

      Uwe ist halb vom Sofa geglitten, als er sich vom Sofa hochwinden konnte und sich zur Tür tastet. Die Treppe ist dumpf unter seinen Füßen und er stolpert und gleitet die letzten Stufen auf den Fersen und dem Steißbein runter. Es tut weh, aber es weckt ihn, zumindest so weit, dass er in der Lage ist, zu gehen, ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Es ist immer noch warm draußen und Leute schlendern auf den Bürgersteigen, kleine Gruppen auf dem Weg raus oder nach Hause. Ein junger Kerl mit einem viel zu großen Hund kommt ihm entgegen. Der Hund zerrt an der Leine, als sie ihn passieren, bleckt die Zähne und knurrt und er muss seine Lust bekämpfen, den Hund in die Rippen zu treten, ihn über den Bürgersteig fliegen zu sehen und ihn jammern zu hören. Er hasst Hunde, er weiß, dass das ungerecht ist, Hunde sind weder schlimmer noch besser als ihre Besitzer, aber es ist nicht der Besitzer, der die Zähne in jemandes Oberschenkel schlägt.

      Die Fassade am Haus um die Ecke ist noch dieselbe. Selbst jetzt, Jahrzehnte später, sind dort Flecken, wo der Putz nach der Druckwelle einer Bombe abgeplatzt ist und die nackten Mauersteine entblößt hat. Die Jahre haben dem Ganzen eine Art besänftigende Patina verliehen, aber im Grunde ist das Haus dasselbe. Besser als das, in dem er in der Bernauer Straße wohnte, schlechter als das, in dem er jetzt wohnt, das auch eine alte Arbeiterwohnung ist, aber eine, die keinen Bombenangriff erlebt hat.

      Hier hatten sie eine eigene Toilette mit Waschbecken, sodass sie nicht gezwungen waren, sich in der Küche zu waschen, ein richtiges Schlafzimmer mit Platz für einen Kleiderschrank. Ein Schlafzimmer, in dem eine Wiege gestanden hat. Wo sie sich über sie gebeugt und das Kind, das darin lag, getröstet hat. Wo sie das Kind ins Bett hochgehoben hat und eine Brustwarze in einen schreienden Mund gestopft hat. Die Zinkwanne in der Küche, in der sie Windeln ausgekocht, im Waschbecken ausgespült hat, sodass die Hände in dem kalten Wasser blau wurden, und sie auf der Wäscheleine unten im Hof aufgehängt hat. Er sieht sie vor sich, die Windeln, weiße Stoffstücke, wie Friedensflaggen, im Wind wehend. Am Tisch, wo sie frühstückten und ein Stück Brot und einen Rest Wurst nahmen, wenn sie nach einer Vorstellung spät nach Hause kamen, hat ein Kinderstuhl gestanden. In dem Stuhl ein Kind. Das Kind ist ein diesiger Fleck, er kann die Konturen nicht erkennen. Vielleicht ist das dort ein Kopf, eine rundliche Hand, ein Fuß in einer Socke, aber er kann keine Farben sehen, kein Haar, nichts, das das Geschlecht verrät, er sieht das Kind wie durch ein vereistes Fenster. Er kennt keine kleinen Kinder, hat sich nie für sie interessiert, Kinder lagen außerhalb seines Horizonts. Ein Kind, das eine Mischung aus seinen und Evas Genen ist, kann er sich nicht vorstellen. Wenn er sich anstrengt, ist es ein Klischee aus einer Fernsehwerbung für Wegwerfwindeln, das er sieht, kein richtiges Kind. Erst recht keins, das etwas mit ihm zu tun hat. Er weiß nicht mehr über das Kind oder ihr Leben, als das, was Uwe liefern konnte, bevor der Alkohol ihn verstummen ließ und zu dem Zeitpunkt hatte er selbst aufgehört zuzuhören.

      Ist es im Stich lassen, wenn man nicht weiß, dass man jemanden im Stich lässt? Er ging, ohne zu wissen, dass sie schwanger war. Er liebte sie nicht und ein Kind wäre nur eine weitere Bestätigung dafür gewesen, dass er in einer unmöglichen Situation festsaß, doppelt eingesperrt von inneren und äußeren Kräften, dazu verurteilt sich anzupassen.

      Es sieht aus, als wäre dort oben Licht, ein schwacher Widerschein, als läge jemand im Schlafzimmer und läse bei offener Tür. Das Fenster zur Straße ist einen Spalt weit geöffnet, es muss nach einem Tag wie diesem, der dabei ist zu Ende zu gehen, warm unter dem Dach sein. Auf dem Schild mit den Klingeln stehen keine Namen, nur Etagennummern und links und rechts. Er weiß, wo er klingeln muss, aber warum sollte sie ihn reinlassen, warum sollte sie überhaupt ihre Tür für einen Fremden zu dieser Zeit am Tag öffnen und was sollten sie zueinander sagen?

      Ach, jetzt kommst du. So circa dreißig Jahre zu spät. Auferstanden aus Ruinen.

      Er dreht sich um, um zu gehen, als er jemanden hinter sich bemerkt. Ein junger Mann hält ein Fahrrad mit einer routinierten Hand in Balance, während er mit Schlüsseln klimpert. Er bekommt die schwere Tür auf und zieht das Fahrrad in den Torweg und er hat das schon tausend Mal vorher gemacht, so, und so. Bevor die Tür hinter ihm zufällt, dreht er sich um.

      – Wollen Sie rein?

      Wenn er nein sagt, wird die Tür zufallen und er in irgendeiner Form von Sicherheit draußen auf dem Bürgersteig stehen, aber er kann nicht nein sagen.

      Wie kann man zu seinen eigenen Augen nein sagen? Nicht einmal, wenn sie am Kopf eines anderen Menschen sitzen, kann man nein sagen.

      Drinnen im Torweg leuchtet nur eine schwache Lampe und der Bursche ist schon drinnen im Treppenhaus, nimmt die Treppe in langen, kraftvollen Schritten, wie er selbst die Treppe damals genommen hat, dasselbe Tempo, dieselbe Energie. Er folgt ihm und der Rücken unter dem hellgrauen T-Shirt ist muskulös, die Armmuskeln sind gut trainiert. Das Haar ist rot, eine dunkle, dramatische Farbe und es ist länger als sein eigenes jemals gewesen ist, ein glatter Pferdeschwanz legt sich um den Nacken. Er bleibt auf der Etage darunter stehen und hört, wie dort oben ein Schlüssel in das Schloss gesteckt wird.

      – Ich bin zu Hause.

      Eine andere Stimme, schwächer. Es werden Worte gewechselt dort oben und er geht die letzten Schritte die Treppe hoch. Steht vor der Tür und horcht, schamlos, spioniert bei ihnen, die seine Familie hätten sein können, sein Leben, aber es nicht wurden.

      Müde. Nicht hungrig. Schlafen, sagt die junge Stimme hinter der Tür, ein Echo von etwas, das er sich selbst hat sagen hören.

      Etwas ist gut gegangen, etwas mit Musik vielleicht. Er kann nicht mehr hören, aber jemand geht drinnen umher. Wasser läuft und etwas, vielleicht ein Möbel, schabt über den nackten Boden. Dann wird es still.

      Das Licht im Treppenhaus ist längst ausgegangen. Er drückt den Kontakt und hört das kleine Ploppen, aber das Türschild verrät nichts. Evas Nachname, derselbe wie damals, kein Vorname, keine Initialen. Unten im Torweg steht


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