Die Süßkirschenzeit. Lis Vibeke Kristensen

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Die Süßkirschenzeit - Lis Vibeke Kristensen


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keine liebevollen Hände warten auf ihn, keine Stimme sagt, komm schon, du kannst es, noch einen Schritt und noch einen. Niemand klatscht in begeisterte Hände, oder tätschelt ihm den Kopf, oder tröstet ihn, wenn er unbeholfen fällt, und fallen tut er. Stolpert, zögert, steht auf, stolpert und fällt. Ein Paar blaue Augen verfolgen den Prozess, beobachtend, registrierend. Misstrauisch. Wie man einen Fremden beobachtet, der sich bemüht, bekannt zu wirken. Ein Wesen von einem anderen Planeten, das einen hilflosen Versuch unternimmt, seine grüne Haut und die unkleidsamen Antennen zu verstecken. Er ist ein Fremder. Er hat in diesem Teil des Waldes nichts zu suchen, wo andere Regeln herrschen und wo er nicht damit rechnen kann, für bare Münze genommen zu werden.

      Dann sitzen sie dennoch an einem Tisch im Café gegenüber und es stehen Kaffeetassen auf dem Tisch. Kaffeetassen und zwei Gläser Wasser, das eine ist fast schon leer. Aber da sind nicht nur Tassen und Gläser auf dem Tisch. Auf der braunen Tischplatte zwischen ihnen liegen zwei Leben und es sieht aus, als hätte ein Kind einen Turm aus Klötzen gebaut, hoch, hoch und dann dem Turm einen Tritt gegeben.

      Wie sie über die Straße gekommen sind, weiß er nicht. Aber jetzt sitzen sie dort und an den anderen Tischen kauen die Leute auf Wurstbroten herum und trinken Kaffee, wie an einem ganz normalen Tag. Im Spiegel an der gegenüberliegenden Wand sitzen zwei Männer nebeneinander, einer mit dunkler Mähne über einem zerfurchten Gesicht, der andere jünger, mit dunkelroten Haaren und blassen, sommersprossigen Wangen. Ihre vier Augen haben dieselbe Farbe wie das Hemd des Älteren.

      Hemdsblau, denkt er. Und er denkt, wie soll ich das erklären?

      Er lässt die beiden Männer nicht aus den Augen. Er wartet darauf, dass einer der beiden die Stille durchbricht, aber keiner der beiden hat offensichtlich etwas beizutragen. Schließlich sagt der Ältere von ihnen etwas.

      – Kannst du nicht einfach Fragen stellen?

      – Was soll ich fragen?

      Das kommt wie ein Schlag, niemandem wird etwas geschenkt, aber das Schweigen ist durchbrochen. Er wendet den Blick vom Spiegel dem Gesicht neben sich zu, einem verletzlichen Gesicht, jünger als das Alter, das man leicht ausrechnen kann.

      – Ich wusste es nicht.

      – Wusstest was?

      Dass du unterwegs warst. Dass du geboren werden würdest. Dass du zur Welt kommen und im Voraus verurteilt sein würdest. Deinen Vater nicht zu kennen, mit dem Wissen aufzuwachsen, dass da vielleicht ein Mann in der Welt herumlief und dem du ganz egal warst. Oder mit einer Lüge aufzuwachsen. Dein Vater ist tot. Dein Vater war ein Held, ein Schurke, ein Opfer. Alles andere als die Wahrheit.

      Ich habe alle Verbindungen gekappt, das war leicht und wie die Dinge lagen, hielt mich nichts zurück. Ich weiß nicht einmal, ob mich der Gedanke an dich, gebremst hätte. Wenn er sagen kann, wie es ist, kann er alles sagen und vielleicht ist das seine Rettung. Die Worte kommen wie Klumpen, er spuckt sie aus, kann sie nicht im Mund haben. Aber sie kommen und dann ist es überstanden.

      – Ich kann es nicht beschönigen, sagt er. – Es war, wie es war. Ich habe es selbst gewählt, ich übernehme die Verantwortung dafür. Ich konnte nicht bleiben. Wenn ich geblieben wäre, hätte es mich getötet. Hin und wieder gibt es Dinge, die man einfach weiß und das wusste ich.

      Neben ihm ist Stille, lange Finger zupfen an einer Zuckertüte herum, ein Zeigefinger gleitet über die Seite einer Kaffeetasse.

      – Ich hatte nicht die Absicht, zurückkommen zu wollen. Ich weiß nicht, warum ich es getan habe. Ich weiß nicht, ob ich es bereuen soll. Ich bin nicht gekommen, um deine Mutter aufzusuchen, ich bin nicht deinetwegen gekommen, weil du nicht existiert hast. In meinem Kopf wurdest du gestern erst geboren.

      Plötzlich lachen sie beide.

      – Jetzt trinken wir Kaffee, sagt er. Und gleich stehe ich auf und gehe durch die Tür da. Wenn du mich nicht wiedersehen willst, ist das deine Entscheidung. Aber falls du es willst.

      Er findet die Karte des Hotels in seiner Hemdtasche und legt sie auf den Tisch. Leert seine Kaffeetasse. Die Knie sind aus Gummi, aber er hält sich zumindest aufrecht.

      – Das Fahrrad, sagt er. Es hätte einfach dort stehen sollen. Ein Geschenk von irgendeinem Weihnachtsmann, den du nie hättest kennenlernen sollen. Es ist keine Bezahlung für etwas, es ist kein Köder. Ich kann dich nicht zwingen, es zu behalten, du kannst es ja verkaufen und ein anderes kaufen.

      Die Tür fällt hinter ihm zu. Draußen ist Berlin sommergrün, er bemerkt es jetzt. Auch dass es nach Bäumen und Moos duftet, wie in einem Wald.

      Es ist zu heiß zum Schlafen. Das kleinste Handtuch aus dem Badezimmer kühlt er in der Minibar, sein eigenes kleines Handtuch wringt er in kaltem Wasser aus und legt es abwechselnd auf die Stirn, die Pulsader des Halses, die Handgelenke. Er steht im Badezimmer mit den Händen im eiskalten Wasser, als das Telefon klingelt. Es gelingt ihm das Glas mit Wasser, das er auf dem Nachttisch stehen hat, umzukippen, als er nach dem Hörer greift und als er endlich antwortet, ist die Verbindung unterbrochen. Wenige Sekunden später klingelt es wieder.

      Eine Schauspielerstimme. Gut moduliert, geschult, mit vielen Nuancen im Repertoire. Die aktuelle Ausgabe hat er sie als Gouverneursfrau, die wegen des eigenen Gewinns um das Recht für ein Kind kämpft, verwenden hören. Alles in Betracht gezogen, wirkt sie gut gewählt.

      – Du, sagt die Stimme. – Du imponierst mir. Damals warst du nur mittelmäßig. Dein Talent war mittelmäßig, du warst mittelmäßig im Bett, das, was aus deinem Mund kam, war mittelmäßig. Jetzt muss ich den Hut vor deiner Unverschämtheit ziehen, die ist alles andere als mittelmäßig.

      Jeglicher Versuch, sie zu unterbrechen, prallt ab. Er gibt auf. Hört zu.

      – Wer das Tal bestellt, hat das Recht auf das Tal, sagt sie. – Der, der für das Kind sorgt, ist die Mutter des Kindes. Der, der das geschrieben hat, war ein Genie, er war es, mit dem ich ein Kind hätte haben sollen. Du hast mit nichts dazu beigetragen, nichts, ich zähle eine Samenzelle zu nichts, so eine kann wer auch immer aufbringen und Männer haben keine Garantie dafür, dass Kinder ihre Kinder sind, das ist ein biologisches Faktum.

      Eine Sekunde, in der sie Luft holt.

      – Eva, sagt er. – Halt mal einen Augenblick die Klappe.

      Zu seiner Überraschung bleibt sie stumm, lange genug, bis er weiß, was er sagen soll.

      – Wenn ich sage, dass ich mich wie ein Arschloch aufgeführt habe, bist du dann zufrieden?

      – Wenn du das sagst und auch so meinst, ist es noch schlimmer als ich dachte.

      – Was hast du gedacht?

      Er kann hören, dass sie sich bewegt, das Geräusch verändert sich, so als wäre sie in ein anderes Zimmer gegangen. Eine Flasche schlägt gegen ein Glas, es gluckert in einem Flaschenhals.

      – Du hast aufgehört, zu existieren, kapierst du das nicht? Du hast einen Brief geschickt, Leb wohl und danke. Was sollte ich denken? Dass du angekrochen kommen würdest, wenn du wüsstest, dass du ein Kind hast? Nie im Leben. Du kannst mich für vieles beschuldigen, aber nicht dafür, dumm zu sein. Meine größte Dummheit war, dass ich dir gegenüber keinen Verdacht hatte. Dass du einfach verschwinden könntest, wenn es so einfach gewesen wäre, es zu verhindern.

      Sie nimmt einen Schluck von etwas, das sie husten lässt. Als sie fertig gehustet hat und bereit ist, einen neuen Satz zu beginnen, unterbricht er sie.

      – Wie das? Wie hätte das leicht sein können?

      Er hört sie nach einer Antwort suchen. Sie nimmt einen neuen Schluck und dieses Mal beschränkt sich der Hustenanfall auf einen einzelnen Huster.

      – Das hätte es einfach.

      – Das ist keine Antwort.

      – Du kommst nicht und machst mich für irgendwas verantwortlich, sagt sie und die Gouverneursfrau hat sich einen freien Tag genommen, jetzt ist es das Marktweib, das auf der Bühne steht. – Du hast den Schwanz zwischen die Beine geklemmt und auf alles geschissen, du hast uns im Stich gelassen, im Stich gelassen, im Stich gelassen


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