Die Süßkirschenzeit. Lis Vibeke Kristensen

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Die Süßkirschenzeit - Lis Vibeke Kristensen


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dazu brachte, ihr zu verfallen. Uwes verbrauchtes Gesicht gleitet vor seine Netzhaut und er kann sich irren, aber ihre Tirade lässt ihn glauben, dass er Fragen stellen soll.

      – Warum hast du es getan?

      Damals, als sie zusammen gelebt hatten, war sie ohne harte Kanten, mädchenhaft und es war angenehm mit ihr auszukommen, jetzt ist sie eine gereizte Katze. Geschärfte Krallen, den Kopf zurückgelehnt, in einem Augenblick bleckt sie ihre Zähne.

      – Was getan? Ein kurzes, trockenes Lachen. – Ich habe so viel getan. Ich war tüchtig, sagten sie. Du bist tüchtig. Hier hast du etwas Geld, etwas Westgeld, um im Intershop einzukaufen. Ein neues Sofa, sagst du? Kein Problem.

      – Bagatellisieren. Bagatellisieren. Eigener Gewinn, ein paar Vorteile, das machte den Alltag ein wenig leichter und wenn man sich einbilden konnte, dass man gleichzeitig der Sache nützte, dass man den Frieden und den faktisch existierenden Sozialismus unterstützte, war das nicht so schlimm. Eine leicht undurchsichtige Geschichte, wie so viele andere, nichts, woraus man eine große Sache machen würde. Wenn er ihre Erklärung kaufte, könnte es dort aufhören, aber irgendein Unterton hält ihn zurück.

      – Du sagst nichts, sagt sie. – Du sitzt da auf deinem hohen Ross und glaubst, du hättest das Recht, mich zu verurteilen.

      – Du hast nicht auf meine Frage geantwortet.

      Sein Mund ist wieder trocken. Raus in die Küche, den Hahn laufen lassen, das Glas füllen. Trinken. Als er zurückkommt, steht sie am Fenster. Das Mondlicht hüllt sie in Eisblau und die Hitze des Raumes fühlt sich plötzlich weniger stickig an.

      – Habe ich etwas anderes getan? Warum, fragst du, und ich gebe dir die Erklärung. Was willst du sonst noch haben?

      – Die Wahrheit.

      – Die Wahrheit. Sie äfft das Wort nach. – Wo bekommst du diese Klischees her?

      Sie hatten nie eine Auseinandersetzung, als sie zusammenwohnten. Sie waren beide gut darin, sich anzupassen, auf den anderen zu warten, dem anderen zuvorzukommen, ihren Alltag, ihren geschäftigen, arbeitsreichen Alltag, so unkompliziert wie möglich zu machen. Es gibt keine Fußspuren, in die man treten könnte, keine Routine für Konfrontationen und unter allen Umständen ist die Situation neu.

      – Können wir das auf diese Weise sagen? fragt er und er kann selbst hören, dass er provokativ ruhig klingt. – All das, was du sagst, wirkt, als wolltest du, dass ich dir irgendwie auf den Leim gehe, nur um mich loszuwerden? Können wir sagen, dass ich glaube, dass du voller Lügen bist?

      – Du glaubst, du weißt etwas, sagt sie. – Du weißt einen Scheiß.

      Er hat sich auf das Sofa gesetzt und jetzt steht sie hinter ihm. Er nimmt den schwachen Duft Eau de Cologne wahr, hört ihre Atemzüge kürzer werden und hat sie sich bewaffnet? Wird ihn ein Lampenfuß fertigmachen, wird die Polizei eine Erklärung annehmen, dass sie in Notwehr gehandelt hat, ein Einbrecher, ein Vergewaltiger? Er wartet nicht auf die Antwort, stattdessen streckt er eine Hand nach hinten und bekommt ihr dünnes Handgelenk zu fassen. Sie taumelt über den Sofarücken und landet neben ihm. Der Kimono ist zur Seite gerutscht. Ihr nackter Körper ist offen und wehrlos und ihre Hände sind leer.

      – Ach so, du wolltest mich gar nicht umbringen.

      Es ist Einbildung, das weiß er. Es geht nur in seinem eigenen Kopf vor sich, aber in diesem Augenblick bricht sie mit einem Laut, wie ein Zweig, der abgebrochen wird. Sie ist ein Zweig, den er abgebrochen hat, jetzt kann er ihn benutzen, wie er will. Mit ihm wedeln, jemanden damit gegen den Kopf schlagen. Ihn verbrennen.

      Er legt den Arm um sie. Zieht sie an sich, spürt, wie sich ihre Brust hebt und senkt, viel zu schnell und sie leistet keinen Widerstand, sinkt gegen ihn, wie jemand, der alles gegeben hat, was das Zeug hält, um ein Ziel zu erreichen, das sich die ganze Zeit bewegt hat. Er streicht ihr über das Haar, über den Rücken, wiegt sie, bis die Atmung normal geworden ist. Sie macht sich los, reibt die Wangen, richtet sich das Haar, eine Spange ist herausgefallen und er sammelt sie auf, gibt ihr die Möglichkeit, den Kimono zurechtzuziehen.

      – Irgendjemand sollte es machen, sagt sie. – Ich dachte, lieber ich als ein anderer, ein Parteitreuer. Ich habe nur das banalste berichtet. Dass es den politischen Diskussionen an Tiefe mangelte, solche Sachen. Ohne auf jemanden zu zeigen, es war der Arbeitsplatz, um den es sich handelte, ich wollte niemandem schaden.

      Sie stockt und er ist kein Verhörleiter, hat sie mehr zu sagen, muss es von selbst kommen und es kommt. Wie etwas, das durch einen Deich bricht und alles auf seinem Weg mit sich spült. Schlamm und Mauerblöcke, umgestürzte Bäume. Menschenkörper, die in den Stromschnellen um ihr Leben kämpfen und mit fuchtelnden Händen untergehen.

      – Uwe glaubte, er würde mich besitzen, also musste Uwe verschwinden und es war leicht, nur ein Wort fallenzulassen. Bei ihr war es schwerer, als es darauf ankam, war es unmöglich, das musste ich einsehen. Es wurde einfacher, als du auf der Bildfläche erschienst und sie etwas anderes bekam, woran sie denken konnte.

      – Du wusstest es?

      – Kapierst du eigentlich gar nichts? Ihr dachtet, ihr wärt unsichtbar, aber sie und ich teilten ein Hotelzimmer in Paris, ich kam von ihm, sie kam von dir, so etwas können Frauen riechen. Als wir zurück nach Berlin kamen, musste ich ihr nur folgen. Sehen, wo sie nach der Probe hin ging. Ich dachte, das würde ihn dazu bringen, sie zu verlassen, aber er hat mich einfach abgewimmelt.

      Ein Turm aus Klötzen, hoch, hoch. Jemand hat ihn gebaut, jemand gibt ihm einen Tritt, jemand, der nichts zu verlieren hat.

      – Ich weiß nicht, was du in ihr gesehen hast. In diesem Bündel Knochen.

      Sieh es von außen, mit ihren unbarmherzigen Augen, sieh, wie lächerlich sie sich benommen haben, wie pathetisch ihr Verhältnis gewesen ist, wie sich selbst in einem Film zu sehen, als wäre jeder einzige Augenblick von einer unbarmherzigen Überwachungskamera eingefangen, jeder Seufzer von gefühlvollen Mikrofonen aufgefangen, jede Bewegung registriert. All die Zärtlichkeit, all die Lust, all der Respekt gegenüber etwas, das größer als er selbst war, reduziert auf die groteske Entfaltung eines ungleichen Paars, auf Wandgröße projiziert, so dass es alle sehen können, sodass alle sie auslachen können.

      Sie sitzen in jeweils ihrem Ende des Sofas und sie massiert einen nackten Fuß mit ihren langen Fingern, als wäre sie einen Schuh losgeworden, der zu eng war.

      – Als er starb, hat sie die Macht übernommen. Die ganze Macht. Das Erbe hat sie auch in Anspruch genommen, du warst meine Kompensation. Wenn es sie störte, war das die Belohnung, aber natürlich rächte sich das, als du abgehauen bist. Warum sollte sie mich behalten, talentierte Schauspielerinnen in meinem Alter gab es wie Sand am Meer und es hätte auch nie funktioniert. Man kann in diesem Job nicht alleine mit einem Kind sein, das passt nicht zusammen.

      – Warum hast du ihn bekommen?

      Wieder das Lachen, das höhnische, schneidende Lachen, das Idioten erwarten dürfen, wenn sie idiotische Fragen stellen.

      – Wegen deinen blauen Augen.

      – Hör auf. Was ist passiert?

      – Das willst du nicht wissen.

      Erst jetzt sieht er es ein. Sie muss die kleine Macht, die sie wegen ihm hatte, verloren haben. Das Vertrauen der Behörden verloren haben, Privilegien, Positionen verloren haben und noch schlimmer. Sie muss unter Verdacht gestanden haben, ihm geholfen zu haben.

      Sie ist aufgestanden, er hört sie in die Küche gehen, ein Flaschenhals, der gegen den Gläserrand klirrt. Dann ist sie zurück.

      – Du siehst es wohl wie eine Art höhere Rechtfertigung, sagt sie. – Man kann sagen, dass ich meine eigene Medizin zu schmecken bekommen habe.

      Hohenschönhausen, sagte Uwe. Ein Ort, wo man die Liebe zu spüren bekommt. Unendliche Verhöre, unerträglicher Druck. Und die ganze Zeit wuchs der Fötus in ihr.

      – Ich bin milder davongekommen, weil ich schwanger war. Aber er war die ersten Monate seines Lebens im Gefängnis, es war ein Wunder, dass sie ihn mir nicht weggenommen haben.


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