Die Süßkirschenzeit. Lis Vibeke Kristensen

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Die Süßkirschenzeit - Lis Vibeke Kristensen


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konnte. Das hier ist graugrün und leicht ramponiert, vielleicht ein ehemaliges Militärfahrrad. Alles kann hier zu Geld gemacht werden, heute Morgen hat er ein Souvenirgeschäft nach dem anderen mit alten Flaggen und Uniformdetails, Orden und Symbolen, Stücken der Mauer passiert. Es muss genauso viele davon geben, wie es Splitter von Christi Kreuz gibt, also warum nicht ein Fahrrad von der dahingeschiedenen Volksarmee.

      Sein Sohn sollte mit einem ordentlichen Fahrrad fahren.

      Sein Sohn. Die Worte haben sich ohne sein Zutun in seinem Kopf geformt, aber selbst wenn er sich entscheiden sollte, das zu ignorieren, ist es ein Fakt. Ein erwachsener Mann mit seinen Genen fährt mit dem Fahrrad in Berlin herum, auf dem Weg von dem einen Ort zum anderen, für die ein oder andere Besorgung und spät am Abend steuert er seinen roten Pferdeschwanz durch den Torweg und trampelt die Treppen zu der Wohnung hoch, die er immer noch mit seiner Mutter teilt, dem Spitzel. Der Verräterin, die einen alten Liebhaber schnurstracks in die Hölle geschickt hat.

      Weiß er das? Das dürfte kaum etwas sein, mit dem sie prahlt, aber in diesen Zeiten kommen Geheimnisse eines Tages raus. Archive werden geöffnet, Decknamen enthüllt. Draußen in dem kleinen Hof, wo zu seiner Zeit einer der Nachbarn Gemüse angebaut hatte, hat man eine Grünfläche angelegt. Auf einem Fliesenplatz steht ein Bohlentisch mit dazugehörigen Bänken neben einer grob gemauerten Feuerstelle. Es könnte sein eigener Hof in Kopenhagen sein, wo Sanierungen die alten Viertel verwüsten und die Bewohner raus in die Ghettos im Nordwesten und Westen jagen, wenn die Miete zu teuer wird.

      Oben im Schlafzimmer ist das Licht gelöscht worden, das ganze Haus liegt in Dunkelheit. Er setzt sich auf eine der Bänke und stützt die Ellbogen auf den Tisch. Der Kopf ist schwer in seinen Händen. Die Tränen, die auf die Tischplatte fallen, kann er nicht aufhalten.

      Warum weine ich? Er hört sich selbst den Satz laut aussprechen. Er wiederholt ihn und er hat keine Antwort.

      Als es hell wird, steht er draußen vor dem Tor. Das Fahrradschloss war primitiv, eine der Funktionen des Schweizer Taschenmessers brachte es so leicht wie nichts zum Aufklicken und er schwingt sich auf den Sattel und strampelt durch die leeren Straßen fort. Es ist noch früh, das Poltern der Straßenbahn ist das einzige Geräusch, das er auf seinem Weg zum Hotel hört, wo ihm ein Nachtportier mit ausdruckslosem Gesicht seinen Schlüssel aushändigt und er weiß, wie er nach vielen Stunden des Trinkens riecht, dafür braucht er keinen Nachtportier, der ihm das sagt. Einige Stunden schweißtreibenden Schlafes später, steht er unter der lauwarmen Dusche, auf dem Weg seine normale Temperatur zurückzubekommen. Er öffnet das Badezimmerfenster und stellt sich davor, ohne sich abzutrocknen, die Luft draußen ist bereits quälend warm. Auf der anderen Seite des kleinen Luftschachts schüttelt eine Frau mit Kopftuch einen Staublappen aus und zieht ihren Kopf beim Anblick seines nackten Körpers ein. Unten im Restaurant ist das Personal dabei, abzuräumen und er kann sich gerade noch eine Tasse Kaffee schnappen, der nach zu vielen Stunden auf der Wärmeplatte schmeckt, dann ist er unterwegs.

      Das Fahrrad steht da, wo er es abgestellt hat und es verrät ihm, dass der gestrige Tag kein Produkt seiner Fantasie war. Der Besitzer ist sicher jetzt aufgestanden und der Beginn seines Tages ist zweifellos dadurch verkompliziert worden, dass dort kein Fahrrad stand und wartete. Der Tagesportier, eine eifrige, junge Frau in einer tief ausgeschnittenen Bluse, gibt ihm ein paar Adressen und eine Stunde später ist er der Besitzer eines silbernen Rennrades, eine tausendprozentige Verbesserung des Diamants, das damals seine Flucht bezahlt hatte. Vielleicht muss es etwas justiert werden, aber ihr Körperbau ist nicht so unterschiedlich, soweit er das nach dem schlecht beleuchteten Treffen beurteilen kann. In einem Café mit Aussicht auf die vernarbte Fassade trinkt er den ersten richtigen Kaffee des Tages und schreibt einen Zettel.

      Ich habe gestern dein Fahrrad geliehen. Hoffe, das hier gefällt dir.

      Keine Unterschrift. Den Zettel steckt er in einen Umschlag, den er dafür gekauft hat, zusammen mit der Quittung und dem Code für das Schloss, damit niemand denkt, es handele sich um Diebesgut. Er schreibt den Nachnamen darauf, dann geht er schräg über die Straße und setzt den Finger auf einen zufälligen Klingelknopf. Der dritte Versuch klappt. Die Tür summt wütend, er zieht das Fahrrad in den Torweg und befestigt es an einem Haken in der Mauer. Während er den Briefumschlag unter dem Bremskabel festklemmt, geht die Tür zum Treppenhaus auf.

      Wenn er die Sekunde genutzt hätte, in der der Mann in der Tür zu verwirrt ist, um zu verstehen, was da passiert, wenn er die wenigen Schritte zum Tor so schnell wie möglich genommen hätte, wenn er das Tor hätte zufallen lassen und in vollem Galopp die Straße entlang gehastet wäre, hätte er so tun können, als wäre nichts passiert.

      Er ist stehengeblieben. Die blauen Augen sehen ihn misstrauisch an.

      – Wo ist mein Fahrrad?

      Was er auch sagen wird, es wird seltsam klingen, also sagt er nichts. Er zeigt auf das Fahrrad, versucht es mit einer Art Lächeln, von dem er den Eindruck hat, dass es eher einer Grimasse gleicht.

      – Das ist nicht meins. Mein Fahrrad. Wo ist es?

      – Ich habe es geliehen. Endlich bekommt er etwas hin, das wie ein Satz klingt. – Das war unverschämt und ich hätte es nicht tun sollen. Es ist etwas mit ihm passiert und du bekommst stattdessen das hier.

      Sie stehen einander genau gegenüber. Der Mann, der sein Sohn ist, ist nur einige Zentimeter größer, aber es fühlt sich so an, als würde er sich auftürmen.

      – Das ist ein teures Fahrrad. Meins war ein Schrotthaufen.

      – Nimm es als Entschuldigung. Man soll keine Fahrräder stehlen.

      – Woher weiß ich, dass das hier nicht gestohlen ist?

      Er fischt den Umschlag unter dem Kabel raus und streckt ihn vor. Die Hände, die ihn entgegen nehmen, haben lange Finger. Ihre Finger, nicht seine, aber die Bewegungen, als er den Umschlag mit den Fingerspitzen aufmacht, sorgfältig, ohne aufschlitzen und reißen, könnten seine eigenen sein.

      – Ich verstehe nichts.

      – Das ist nicht notwendig. Nimm es an. Es ist ein Geschenk. Das Letzte hätte er nicht sagen sollen.

      – Das ist viel zu viel wert. Ich kann es nicht annehmen.

      Hier bekommt er ein Luxusfahrrad angeboten, dass er sich selbst niemals leisten könnte und dann ziert er sich. Irritation steigt in ihm auf, nimm doch das Fahrrad, du Dummkopf und lass es uns hinter uns bringen. Du nimmst das Fahrrad, ich gehe und wir müssen nie wieder etwas miteinander zu tun haben.

      Das rote Haar hängt heute lose herunter, jetzt sammelt der Kerl es im Nacken und macht mit einer schnellen Bewegung ein Haargummi aus seiner Hosentasche um den Pferdeschwanz.

      – Geschenke von einem Wildfremden, das stinkt nach, ich weiß nicht was.

      Es kommt aus seinem Mund, bevor er es aufhalten kann.

      – Von wem würdest du dann ein Geschenk annehmen?

      – Was meinen Sie?

      In der Pause hört er seinen Atem, der klingt, als wäre der Sauerstoff dabei auszugehen. Der ganze Sauerstoff auf der Welt. In wenigen Sekunden wird ihm schwarz vor Augen werden, er wird ohnmächtig werden und wenn er aufwacht, wird der Mann mit dem Pferdeschwanz weg sein. Das Fahrrad wird weg sein, er wird auf einer Trage liegen und das Heulen einer Krankenwagensirene über seinem Kopf hören. Auf dem Weg irgendwohin, wo niemand Forderungen stellt.

      Aber er wird nicht ohnmächtig. Stattdessen sagt er etwas.

      – Würdest du ein Geschenk von deinem Vater annehmen?

      Er hätte eine Faust in das sommersprossige Gesicht vor sich hämmern können, das hätte keine größere Wirkung haben können. Die blauen Augen vom Schock aufgerissen, die weichen, jungenhaften Züge ziehen sich zu einer Grimasse zusammen.

      – Mein Vater ist tot.

      Er erträgt es nicht, das zu sehen. Er dreht sich um, um zu gehen, aber er kann keinen Fuß bewegen und während er dort steht, kommen die Tränen.

      – Hilf mir. Das ist das einzige, was ihm einfällt, den blauen Augen zu sagen.


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