Die Süßkirschenzeit. Lis Vibeke Kristensen

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Die Süßkirschenzeit - Lis Vibeke Kristensen


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es wie ein kleines Mädchen. Ein »Stjerneskud« in einem der alten Gasthöfe lässt sie laut lachen, ein so poetischer Name für so viel Mayonnaise. Sie sitzen unter dem Sonnensegel mit ihren großen Fassbieren und einem Stück Apfelkuchen zum Kaffee und trotz ihres Protestes, bezahlt er die Rechnung. Dann ist es spät geworden und er muss noch ein paar Sachen regeln, bevor der Zug abfährt, aber es eilt trotzdem nicht zu sehr, sodass er sie zum Hotel zurückbegleitet. Begleitet sie im Aufzug nach oben, legt seinen Arm um ihren festen Körper und spürt, wie sie nachgibt, in ihn schmilzt und ihre Haut ist unter dem cerisefarbenen Kleid weich und duftet gut, auch wenn sie feucht und heiß wie der Tag draußen ist und sie will und sie will nicht. Der Körper will, das merkt er, aber sie verbirgt etwas. Er hat Frauen wie sie schon früher getroffen. Gebrannte Kinder, die das Feuer scheuen, das er entzünden könnte.

      Sie liegen auf der Bettdecke und in seinem Hinterkopf tickt die Uhr, aber das soll sie nicht spüren, er überstürzt nichts und als er fertig ist, ist sie es auch. Sie hat im Zug schlecht geschlafen, dass hat sie bereits erzählt und jetzt ist sie satt und müde und er bleibt liegen, bis sie eingeschlafen ist. Er wirft sich in seine Klamotten und stiehlt sich aus der Tür, Leb wohl Sabine, wir werden uns nicht wiedersehen. Es gibt keinen Grund, ein schlechtes Gewissen zu haben, Sabine hat mehr bekommen, als sie wollte. Das redet er sich selbst ein, während er seine Waschsachen und Kleidung zum Wechseln in seine Tourneetasche packt, plus die gewöhnlichen kleinen Dinge, die ihn dazu bringen, sich jeder Eventualität gewappnet zu fühlen. Es ist viele Jahre her, dass er Kondome auf Lager hatte, aber das Schweizermesser muss mit und eine Plastiktüte mit einem kleinen Handtuch, Schuhputzsachen in der Außentasche, ein Buch. Der Umschlag ist grün, der Text auf Dänisch, eine Übersetzung, die er vor einigen Jahren gekauft hatte. Aus Neugier. Oder etwas, dass man wohl Verlangen nennt. Mutter Courage und ihre Kinder. Es stand ungelesen in seinem Regal, jetzt begleitet es ihn auf der Reise.

      Dies ist kein Entschluss. Seine Füße bestimmen selbst, seine Hände haben ihren eigenen Willen. Das Sofa knirscht, als er die Rückenlehne hochklappt, es ist nun alt und er hat angefangen darüber nachzudenken, es auszutauschen. Das Plastikpaket liegt dort, wo es die ganze Zeit gelegen hat, die Irma-Tüte mit ihrem Kunstwerk hat sich nicht verändert, Irma-Tüten sind solide. Genauso wie gewisse Erinnerungen überleben sie alle Veränderungen, werden nicht vom Zahn der Zeit angegriffen. Das Paket bekommt einen Platz in der Tasche, er schiebt es längs an einer der Seiten zurecht, ohne etwas zu zerknittern.

      Es an den Ort zurückbringen, wo es herkommt. Es in den Fluss werfen, es auf dem Friedhof begraben. Oder es öffnen, falls er sich traut.

      Berlin 1991

      Wie ein Schlafwandler, er hat kein anderes Wort dafür. Schlafend und wach geht er durch die Straßen. Jede Straßenplatte, jede Fassade erzählt ihm den Weg, die Löcher im Asphalt sind seine Wegweiser.

      Im Grunde ist nichts verändert. Oder alles ist es. So als käme er als der Bauernrüpel, der er damals war, in eine Großstadt, wo die Häuser größer als zu Hause in Cottbus waren und wo die Spuren nach dem Bombenregen am Ende des Krieges noch deutlich zu sehen waren. Jetzt sind dort weniger Einschlaglöcher in den Häuserreihen und es gibt überall Reklametafeln, aber im Bahnhof Friedrichstraße haben sie dieselben hohen Fenster, denselben abgenutzten Zement und er kann hier aus der S-Bahn steigen, sich ins Getümmel stürzen, über die Brücke gehen und niemand sein. Er ist ein anonymes Gesicht, das niemand nach all den Jahren wiedererkennen wird. Die Frauen tragen Absätze, die auf den Fliesen klappern, wie sie sie in dem Land haben, das seinen Pass ausgestellt hat, ihre Frisuren ähneln denen in seiner Straße in Kopenhagen, aber wenn er sich an die Seite stellt, um den Strom nicht zu stören, wenn er einen Augenblick stehenbleibt und die Augen schließt, brodelt es von einer anderen Art Stimmen. Kommt her, sagen sie. Das ist doch blöd, Mutti mag es nicht, entschuldigen Sie. Er kann die Repliken unterscheiden. Er könnte auf sie antworten, falls er wollte.

      Ausländische Stimmen mischen sich in den Chor, ein amerikanischer Tourist dirigiert seine Frau, stell dich hier hin, wo du stehen sollst, ich mache jetzt ein Foto, ein türkischer Bursche, der seinen Kammeraden imponieren will, balanciert auf der Brücke, als ob der Fluss nicht existierte, nimmt den einen Schritt nach dem anderen, sicher wie ein Seiltänzer und vielleicht ist er hier in der Stadt geboren, vielleicht ist sein ganzes Leben ein Balanceakt zwischen dem, was er selbst denkt, was er ist und dem, was die anderen sehen. Er selbst hat keine Illusionen mehr von seiner Zugehörigkeit, Wurzeln hat er nie gehabt, keine alten, keine neuen, aber die Stadt nimmt ihn wie den Anzug auf, den er zu seiner Jugendweihe getragen hatte, was einer Konfirmation so wenig wie möglich gleichen sollte und die ihr, von Gott abgesehen, haargenau glich. Er war damals zu eng, er ist jetzt zu eng. Die Stadt ist ein gebrauchter Anzug, ein Paar ausgetretene Schuhe, aber sein Körper ist verändert und die Knöchel sitzen nicht mehr, wo sie saßen. Weder umarmt ihn die Stadt, noch verstößt sie ihn. Der Stadt ist er egal, das ist eine Erleichterung.

      Er hat sich bereits entschieden. Drei Tage sind genug, im Hotel war es das, was er sagte. Drei Tage. Tourist, ein kurzer Trip, genau wie all die anderen Neugierigen, die hierhin gekommen sind, um an dem Aas von dem zu riechen, was einmal ein Staat gewesen war oder sich eingebildet hatte, einer zu sein. Es ist nie ein Staat gewesen, das weiß er jetzt. Es war ein Zustand. Eine kollektive Lähmung, die die elementarsten Mechanismen außer Kraft gesetzt hatte, effektiver als Polio, überwältigender als eine Gehirnblutung und warum sollte er massig Zeit darauf verwenden, die Todeskrämpfe zu betrachten, das wäre zu nichts nütze.

      Jetzt gehst du wohl zurück, sagte seine Nachbarin und an diesem Tag weinte er bei dem Gedanken daran. Jetzt sind seine Augen trocken. Aber an einer Stelle in seiner Kehle, in seiner Brust, pumpt etwas und falls er es loslässt, weiß er nicht, was dann passieren wird. Bis auf Weiteres geht er einfach, wie er damals ging, er trottete über die Brücke mit seinem kleinen Ranzen auf dem Rücken, auf dem Weg in die Zukunft.

      Das Schild am Eckturm des Theaters ist dasselbe, eleganter Funktionalismus, genau ausgesuchte Typografie, die in Kontrast zur bürgerlichen Schwere des Gebäudes stehen sollte, hier kommt das Moderne, die neue Zeit, der neue Stil. Damals verstand er nicht, was das bedeutete oder welches Signal es senden sollte. Er sah es nur und sah, dass hier sein neuer Platz war, wo er erwartet wurde und wenigstens im Prinzip willkommen war. Der Turmbalkon war der Ort, an dem sich Das Machtvolle Paar am ersten Mai fotografieren ließ, die Huldigung der Künste an das arbeitende Volk. Das Bild hatte er gesehen und er erwartete beinahe, dass sie dort stehen und ihm zuwinken würden. Der kleine Mann mit der Zigarre war ein Genie, das wusste er, er hatte in einem seiner Stücke eine Rolle gespielt, die genauso simpel wie kompliziert war. Über die Frau an seiner Seite sprach man mit Ehrfurcht, sie war die Modellschauspielerin, die erste Interpretin vom Werk des Mannes und er konnte es sich schwer vorstellen, dass sie ein lebender Mensch war. Sie sollte seine Chefin werden und er war bereit, sich unterzuordnen, sich anzupassen, zu tun, worum er gebeten wurde, er war kein Rebell. Er war ein pflichtbewusster Sohn und ein guter Arbeiter, der nicht zu viele Fragen stellte. Ein instinktiver Schauspieler, der eine Rolle genauso gut ausfüllte, wie jemand mit langer Ausbildung.

      Der türkische Bursche ist von der Steinbalustrade gesprungen, er und seine Kammeraden tanzen davon, weiter die Straße hoch. Niemand ist in den Fluss gefallen, der träge unter ihm fließt. Der Fluss, der eine Art Sicherheit bedeutete, als er in der Stadt landete, sein Kindheitsfluss. Er steht am Ende der Brücke und eine schwache Brise weht ihm das Haar aus der Stirn und er ist wieder 20 Jahre alt. Ein junger Mann mit blauen Augen, der die Hände in die Taschen seiner plumpen Wisent-Jeans bohrt, die seine Mutter mit Personalrabatt gekauft hat und das Kinn reckt. Hier komme ich, sagt er zu dem, was sich links von der Brücke auftürmt, zu dem Schild am Dach. Gib mir eine Chance und ich nutze sie.

      Um ihn herum ist die Stadt verstummt. In einer unendlichen Sekunde ist er weder dort noch hier, er befindet sich außerhalb der Zeit und in ihr. Er kann die Augen nicht von dem Schild nehmen und das Bild drängt sich auf. Von dem Paar, dem Mann mit der Zigarre, von ihr, und während er starrt, verschwimmt das Bild und nur sie bleibt übrig.

      Vorsichtig, denkt er. Er muss vorsichtig vorgehen, einen Schritt nach dem anderen nehmen, einen Fuß vor den anderen setzen, sodass er nicht stolpert, sodass er nicht fällt und vielleicht ist es nicht so risikofrei, wie er es sich eingebildet hatte, als er aus dem Zug stieg und ein Drei-Tage-Tourist war, ein Ausländer auf einem Neugierde-Trip


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