Die Süßkirschenzeit. Lis Vibeke Kristensen

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Die Süßkirschenzeit - Lis Vibeke Kristensen


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exakt genug Platz für seine Tasse und seinen Teller ist, fühlt er sich genauso übermütig, wie damals, als er sich mit seinem Schauspielvertrag in der Tasche in den Zug nach Berlin setzte. Heute sind seine Hände von physischer Arbeit gegerbt, Kulissen aufbauen, Kulissen schleppen und Arbeitshandschuhe sind nur was für Waschlappen, das hat er schnell gelernt. Das äußerste Glied des linken kleinen Fingers ist weg, aber was soll man auch mit dem Glied eines kleinen Fingers, die Hand funktioniert trotzdem für alles und nur feine Damen spreizen den kleinen Finger ab, wenn sie Kaffee trinken. Darüber belehren ihn die Kollegen, als er aus dem Krankenhaus wiederkommt. Keine Situation ist für einen Witz zu ernst, die Jungs werden noch auf ihrem Totenbett Witze machen.

      Er ist um dreißig Jahre Erfahrung reicher und trotzdem spürt er, dass eine andere Person ihr eigenes Leben unter seiner Haut lebt. Der Junge mit dem kurz geschnittenen Haar und dem FDJ-Halstuch, voll von Energie und Gutgläubigkeit an ein System, von dem er ein Teil war. Er, der zu dem Zwanzigjährigen wurde, der aus seinem provinziellen Leben ausbrach und lernte, was das Theater war, was ein Schauspieler war und obendrein in dem Ganzen die Erlaubnis bekam, etwas zu erleben, das man, wenn man einen Hang zu Romantik hatte, die große Liebe nennen könnte.

      Im Spiegel des Badezimmers leuchten seine Augen noch blauer als sie es sonst schon tun. Niemand weiß richtig, wie andere Menschen einen sehen, sagt man, aber er weiß auf jeden Fall, dass die anderen seine Augen sehen. Ungewöhnlich blau, sagen die Frauen und die Männer schlagen die Augen nieder, als hätten sie Angst, geblendet zu werden. Blaue Augen sind etwas Ungewöhnliches bei seinen dunklen Haaren, die mit den Jahren dunkler und bisher nur etwas grau geworden sind. Der Körper ist immer noch muskulös, sehniger als damals und es ist Kraft in ihm, um schwere Versatzstücke zu heben, um Lampen aufzuhängen, gegenüber dem andere aufgeben müssen. Militärdienstverweigerer, die die Plätze füllen, die das Budget des Theaters nicht fassen kann, stehen daneben und staunen, wenn er loslegt.

      Die Arme werden dafür gebraucht. Nicht um zärtlich den Rücken einer Frau zu halten, nicht um den Körper eines anderen Menschen eng an sich zu drücken. Das ist zu anspruchsvoll, eine Beziehung setzt voraus, dass man bereit ist, von seinem Leben zu erzählen, die wichtigsten Dinge bloßzulegen, jedenfalls in den einleitenden Phasen. Erzähl von deinem Leben, sagten die Frauen, auf die er sich ausnahmslos eingelassen hatte und er war nicht bereit. Ist es nie gewesen. Vielleicht wird es jetzt anders, das weiß er nicht.

      Er hat zwei Urlaubswochen übrig und hier wird ihn niemand vermissen. Am Hauptbahnhof kauft er eine Fahrkarte für den Nachtzug, eine Einzelfahrkarte, denn wenn er es dort nicht aushalten kann, muss er nicht für einen Liegewagen bezahlen, den er nicht braucht. Vielleicht dreht er um, bevor er die Grenze erreicht, lange bevor er einen Fuß auf den Bahnsteig setzen kann, aber heute Abend wird er sich im Zug schlafen legen, so viel ist klar. Wenn er morgen wach wird, wird er im besten Fall dort unten auf den Bahnsteig treten und vielleicht ist es derselbe Bahnsteig wie der, von dem er vor all den Jahren aufgebrochen ist. In der Einzelfahrkarte liegt nichts Symbolisches, es ist ja nicht so, dass er sich überlegt hat, dort zu bleiben. Sein Leben ist hier, er lebt sicher, materiell gesehen ist er gut versorgt, kann das beste Fahrrad kaufen, ordentliches Essen essen und guten Wein und anständigen Kaffee trinken, ins Restaurant gehen, wenn er Lust dazu hat.

      Er steht mit der Fahrkarte in der Hand auf den dunkelroten Fliesen des Bahnhofs, inmitten des Stroms von Urlaubsreisenden mit schreienden Babys und übervollen Koffern und irgendwo hinter den dunklen Fenstern versteckt sich die Polizeistation. Man behält die Dealer und Taschendiebe im Auge, normale Menschen haben nichts zu befürchten, wenn man mit „normale“ Menschen Dänen oder diejenigen meint, die ihnen ähneln. Die Leute schubsen und drängeln, ein Zug ist eingefahren und jetzt haben sie es eilig in die Stadt zu kommen, sich in einem der Missionshotels in seiner Straße einzuquartieren und dann raus zu den Vergnügungen, zum künstlichen Lächeln des Tivoli und dessen unverschämten Preisen, all das, wie er gelernt hat, das man lieben muss, wenn man dänisch sein will oder zumindest so tun will als ob.

      Dann ist plötzlich eine Frau vor ihm stehengeblieben. Zuerst hört er nicht, was sie sagt, dann wird ihm klar, dass sie Deutsch gesprochen hat und dass sie nach dem Weg fragt. Ihre Erleichterung, als er auf ihrer Sprache antwortet, ist mit Händen greifbar, sie streift eine nervöse Hand durch blondes Haar, lächelt mit einem Mund, der in derselben dunkelrosa Farbe geschminkt ist, die ihr Kleid hat und bedankt sich überschwänglich, bevor sie mit ihrem kleinen Koffer zur Treppe am hintersten Ausgang davonrollt. Ihr Po wiegt leicht. Er ist rund, vielleicht etwas zu rund für seinen Geschmack, aber ihre Beine sehen kräftig aus und da ist etwas an ihrer ganzen Erscheinung, etwas Offenes und Schutzloses, das ihn dazu bringt, ihr zu folgen. An der Treppe holt er sie ein.

      – Soll ich den Koffer nehmen?

      Die blauen Augen erledigen ihre Arbeit. Sie entscheidet, dass er nicht gefährlich ist und überlässt ihm den Griff. Unterhalb der Treppe sagt er, dass sie denselben Weg haben und sie folgt ihm, geht rechts neben ihm und ihre Schritte passen zusammen, weder zu schnell noch zu langsam. Sie passieren Pornoläden mit ihren Dildos und Handschellen und er sieht sie dorthin schielen, aber zu seiner Erleichterung kommentiert sie das nicht. Ihr Hotel liegt einige Straßen entfernt und er geht an seiner eigenen Ecke vorbei und bringt sie bis zur Tür.

      Sabine heißt sie. Geschichtslehrerin aus Berlin, Die Freie Universität. Die Reise nach Kopenhagen war eine Eingebung mitten in den langen Sommerferien. Viel zu lang, sagt der Unterton und es scheint, als wolle sie noch mehr sagen, hält aber inne.

      Pläne, ja schon, sie ist vorher noch nie in der Stadt gewesen, also wird sie wohl das tun, was Touristen tun. Tivoli. Meerjungfrau. Was macht man noch?

      In seinem Kopf sagt eine Stimme, sonst geht man noch mit mir ins Bett und sie klingt wie eine, die er nicht überhören sollte. Die Fahrkarte in seiner Hemdtasche hat seinen Blutkreislauf angeregt, der Tag ist bereits warm und es wird noch wärmer werden. Der Körper kribbelt von einer Energie, die mehr als eine Fahrradtour verlangt.

      – Sabine, sagt er. – Ich zeige dir die Stadt.

      Das hier kann er, konnte er schon immer, selbst in seinen naivsten Jugendtagen. Eine schnelle Entscheidung treffen und handeln, natürlich ohne dass ein möglicher Widerstand in die Überlegungen mit eingeht. Er wartet an der Rezeption, während sie den Aufzug nach oben nimmt und den Koffer wegbringt und er kommt nicht dazu, es zu bereuen, bis sie wieder unten ist. Im selben Kleid, aber in anderen Schuhen. Flachen, mit denen man gut auf Platten laufen kann.

      Als sie durch die Drehtür rausgehen, weiß er, welche Geschichte er erzählen wird, wenn sie fragt, denn natürlich wird sie fragen. Die DDR ist nicht nur ein Strich auf der Landkarte, in seinem Leben hat die DDR nie existiert. In der Botschaft in Wien hat man ihn für einen Österreicher gehalten, in diese Rolle kann man leicht schlüpfen, er muss sich nur an eine Adresse erinnern und an ein paar Details aus dem Fernsehen, einen schwachen Dialekt kann er auch aufbringen. Er hofft nur, dass sich nicht herausstellt, dass die blonde Sabine in Wirklichkeit aus Salzburg stammt und einen Onkel in Wien hat.

      Es ist das einfachste, ein anderer zu werden. Heute jener, morgen ein ganz anderer, seit 30 Jahren schwebt er unter allen Umständen frei und die Frage ist, ob er irgendwann einen Ort findet, wo er landen kann. Selbst das, was am stabilsten aussieht, ist vorläufig. Alles ist Zwischenstation und ob es überhaupt eine Endstation gibt, ist noch zu früh zu sagen.

      Sabine plappert los, das meiste über ihren Job, all das Spannende, das passiert, jetzt, wo die Universität Zugang zu einer ganz neuen Rekrutierungsbasis erhält. Direkt von jungen Leuten, die gezwungen wurden etwas anderes zu studieren, als das, wofür sie sich interessierten, zu hochbegabten Forschern, die Schullehrer in irgendeiner Einöde gewesen sind und jetzt endlich mit dem arbeiten können, was sie sich wünschen. Sabine ist ein Kind der Jugendrevolte, die Universität ist ihr Zuhause gewesen. Mein Zuhause, sagt sie, alle meine Freunde habe ich dort, ich liebe meine Studenten, mein ganzes Leben kreist um diesen Ort. Das klingt wie ein Entschluss, den sie getroffen hat und er weiß, wovon sie redet. Sich entscheiden, dass die Wahl, die man getroffen hat, die richtige ist.

      Sabine trabt neben ihm in ihren vernünftigen Schuhen energisch weiter, als habe das Treffen mit ihm einen Überschuss ausgelöst, der sie selber überrumpelt. Was er auch vorschlägt, sie ist einverstanden. Der Tag segelt stetig mit


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