Die Süßkirschenzeit. Lis Vibeke Kristensen

Читать онлайн книгу.

Die Süßkirschenzeit - Lis Vibeke Kristensen


Скачать книгу
Einer, den man meiden sollte, so gut es sich machen ließ. In jener Nacht, als er kam, um die Tür zu ihrer Wohnung einzutreten, gab es nicht so viele Alternativen.

      Der Schaum auf seinem neuen Bier läuft über den Rand des Glases, er saugt ihn ein, trinkt einen Schluck. Wartet.

      – Das hat mich sechs Jahre gekostet, sagt Uwe. – Wenn man es auf diese Weise betrachtet.

      Es gibt auch andere Weisen, es zu betrachten. Uwe will sie beschreiben und er wäre gezwungen, zuzuhören und während er das tut, würden er und Uwe Bier trinken, eins nach dem anderen. Das schuldet er Uwe. Nicht wegen eines Faustschlags einmal vor langer Zeit, aber weil er davongekommen war. Weil er es war, der überlebt hatte.

      Der Barmann hat die Musikanlage lauter gestellt. Ein Schlager von damals schallt durch das Lokal. Popmusik, weit unter ihrer Würde zuzuhören, aber er kam aus dem Westen und alle konnten ihn mitsingen.

      Tiritomba. Tiritomba. Wenn die Liebe ist so schön.

      Uwe singt mit und schlägt den Takt mit dem Glas.

      – Liebe, sagt Uwe. – In Hohenschönhausen bekam ich die Liebe zu spüren, auf diese Art Liebe will man lieber verzichten, aber es war also die, die für mich in ihren Augen gut genug war. Eva.

      Hohenschönhausen. Das Stasi-Gefängnis, das man sich damals kaum traute, beim Namen zu nennen.

      – Gefängnisse sind für die Schuldigen, sagt Uwe. – Oder? Oder?

      Ein Zeigefinger zeigt an seine Nase.

      – Dieses Gefängnis sollte dich schuldig machen. Es dauerte etwas, bis du es verstanden hattest, aber sie hatten Zeit, darauf zu warten, dass der Groschen fiel. Die Zeit konntest du nutzen, um an die zu denken. Die, die dich dorthin gebracht hatte.

      Uwes blanker Scheitel ist noch blanker geworden, sein Glas ist wieder leer und er hebt es und kippt es in Richtung Barmann. Er leert sein eigenes Glas und macht die Bewegung nach. Es beginnt einem Ritual zu ähneln und an Ritualen ist nichts falsch. Wenn auch sonst nichts, so halten sie das Leben zusammen.

      – Woher ich das wissen konnte, kannst du fragen. Es hätte ja wer auch immer sein können. Aber es hätte nicht wer auch immer sein können. Es konnte nur sie sein. Sie hat mich aus dem Weg geschafft, dann konnte sie machen, was sie wollte.

      Warum soll er das wissen? Er hat für sie keine Verantwortung, hat sie nie gehabt, warum soll er mit Uwes Geschichte und Uwes anklagendem Ton belästigt werden? Aber wenn der Sinn darin besteht, dass er ein schlechtes Gewissen bekommen soll, ist es nah dran zu gelingen und er weigert sich, ein schlechtes Gewissen zu haben. Er hat seinen Hals riskiert, er hat sich rechtzeitig herausgewunden, soll er dafür bestraft werden? Die Wut spannt im Kiefer. Wenn Uwe auf diese Weise fortfährt, könnte es damit enden, dass er ihm eine knallt. Der Gedanke wirkt auf irgendeine Art ansprechend.

      Uwe ist jetzt betrunken. Selbst spürt er das letzte Bier als eine Schwere in den Beinen und seine Blase pocht bedrohlich. Draußen in der kleinen Toilette stützt er die Hand gegen die Wand, um sich aufrecht zu halten und ist es so, wie er den Rest seines Lebens pissen soll, mit der Hand gegen die Wand, um überhaupt auf den Beinen stehen zu können?

      Als er zurück kommt, ist Uwes Platz am Tisch leer. Eine Mischung aus Panik und Erleichterung huscht durch ihn durch, sein Glas ist halbleer und er leert es auf dem Weg zum Tresen. Wozu Uwe sich auch entschlossen hat, ist nicht sein Problem, der Tag ist lang genug gewesen, jetzt will er schlafen und alles von Uwe vergessen. Wenn das möglich ist.

      Der Barmann kassiert seine Scheine mit routinierten Bewegungen, inklusive einer Sekunde Zögern beim Wechselgeld, das er bekommt und warum auch nicht? Draußen vor der Tür ist Uwe dabei, seine Hose zuzuknöpfen, eine gelbe Lache hat sich auf dem Bürgersteig ausgebreitet. Die Sonne steht tief im Westen, die Schatten sind lang und bald ist es Nacht.

      – Wir können zu mir nach Hause gehen, sagt Uwe. – Wodka habe ich immer. Einen Kurzen, um der alten Freundschaft willen, was sagst du?

      Das hier ist seine Chance davonzukommen. Leb wohl und danke, Uwe, wir haben einander nichts mehr zu sagen. Aber selbst wenn er Uwe den Rücken zuwenden kann, kann er nicht das abstreifen, was Uwe aus dem Sack gelassen hat. Der Gestank wird ihm folgen, wie sehr er auch Tourist spielt. Ihm in den Schlaf folgen, es ihm unter die Nase reiben, bei jedem Schritt, den er in dieser Stadt tut.

      Die Wohnung ist klein und überfüllt, ein Zimmer und eine minimale Küche, die Toilette draußen auf dem Treppenabsatz teilt sich Uwe mit der Nachbarin, einer alten Frau mit Putzfimmel. Ein Vorteil, sagt Uwe, der zwei Gläser vom Küchenbrett mit einem Stück geblümter Küchenrolle abtrocknet und eine Wodkaflasche aus einem betagten Kühlschrank nimmt. Dasselbe Modell wie das, das in seiner eigenen Wohnung in der Bernauer Straße stand, dasselbe Modell, dass er mit Eva geteilt hatte. Das Sofa, auf dem sie sitzen, ist mit weinrotem Samt bezogen, wo der Stoff an einigen Stellen fehlt. Er geht davon aus, das es auch Uwes Nachtlager ist, der Geruch im Zimmer ist eingesperrt, eine Mischung aus selten gewaschenen Laken und abgestandenem Bier. Der Wodka schmeckt nach purem Alkohol und brennt im Hals. Er hat den Schnaps in mehreren Schlucken mit Pausen getrunken, aber Uwe ist sofort wieder mit der Flasche da.

      – Ich war ein staatsfeindliches Element, sagt Uwe und füllt ihre Gläser, bevor er weiterredet. – Das haben sie gesagt und sie hatten recht, das ist es nicht. Ich habe ja gedacht, dass das Scheiße ist, was die machten. Das haben alle anderen auch, aber Staatsfeinde, die kann man nicht frei herumlaufen lassen. Das Problem ist, sie zu finden, aber mit einem kleinen Tipp klappt das gewöhnlich.

      Uwe hält das Glas mit den Fingerspitzen, wie seine Nachbarin in Kopenhagen. Sein Hirn sucht einen Ruhepunkt, aber findet nur sie. Einen hageren Körper in einer Sofaecke, gefangen in Alkoholnebeln. Kein aufmunternder Gedanke.

      – Wenn du nicht da gewesen wärst, hätte ich sie umgebracht. Dann hätten sie einen Grund gehabt, mich zu bestrafen, ich wäre ganz sicher gehängt worden. Ich weiß nicht, ob ich dir danken oder dir eine knallen soll. Was ist besser, gehängt zu werden oder nicht? Um das zu beantworten, braucht man einen Philosophen.

      Uwe lacht, aber das ist nicht lustig.

      – Sechs Jahre, sagt er. – Es wurde leichter, als ich mein Urteil bekommen hatte. Alles war leichter als Hohen. Schön. Hausen.

      Er betont jeden Buchstaben, so als würde er Figuren auf einem Schachbrett aufstellen, peng, peng, peng.

      – Weißt du, wie das ist, nicht zu wissen, wo du bist? Ich meine nicht, wenn du gerade aufgewacht bist. Immer, Tag und Nacht. Niemand weiß, wo du bist und du selbst weißt es auch nicht.

      Mein Leben ist so gewesen. Das denkt er und gleichzeitig weiß er, dass das eine beschönigte Lüge ist. Verglichen mit Uwe, hat er nichts, worüber er sich beklagen kann. Drei hungernde Tage in Wien sind ein Spaziergang neben dem, worüber Uwe redet und was er mit noch einem Wodka aus der Flasche, die auf dem abgenutzten Sofatisch beschlägt, runterspült. Eine Stehlampe hinter dem Sofa ist die einzige Beleuchtung im Zimmer. Das Fenster ist hermetisch verschlossen und die Hitze des Tages liegt wie eine erstickende Decke darüber, er braucht Luft.

      – Darf ich das Fenster öffnen? fragt er.

      Das ist der erste Satz, der aus seinem Mund kommt, seit Uwe vor einigen Stunden seinen Monolog begonnen hat und es klingt wie ein Witz. Die Welt geht unter und wie wäre es mit einem Spaziergang im Wald.

      Uwe schüttelt den Kopf.

      – Erträgst du es nicht? fragt er. – Hast du einige Jahre gefroren, ist es so, wie du es haben willst.

      Uwes Scheitel und Stirn sind mit Schweißperlen bedeckt, wie er selbst aussieht, kann er nur erraten. Er hat Atemnot und in seinem Kopf bewegt sich ein messerscharfer Suchscheinwerfer. Stoppt einen Moment bei etwas, irgendetwas, aber bevor er es fokussieren kann, hat er sich zu etwas Neuem bewegt. In der Flasche auf dem Tisch ist noch ein Rest am Boden. Uwe nimmt sie und setzt sie an den Mund, leert sie in einem schlürfenden Zug.

      – Wenn du noch Durst hast, sagt er. – Wir können jemanden besuchen. Es ist nicht so, dass wir miteinander verkehren, aber sie wohnt direkt um die Ecke.

      Direkt


Скачать книгу