Stadt, Land, Klima. Gernot Wagner

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Stadt, Land, Klima - Gernot Wagner


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losgehen: Einer meiner Onkel baute nicht nur einfach in attraktiver Hanglage – er kaufte sich ein Mehrfamilienhaus ganz oben am Hügel mit Fernblick bis nach Amstetten hinten am Horizont. Seine Idee war ursprünglich eine Komplettsanierung: Er selbst war Innenarchitekt, und mittlerweile ging es bei seinen Ambitionen um deutlich größere Projekte als das Wohnzimmer in unserer 78-Quadratmeter-Wohnung. Sein Haus hatte ein geräumiges Schlafzimmer – den Master Bedroom, ganz in amerikanischer Tradition. Von seinen vielen Nordamerikareisen kam auch die Inspiration für den Master Bathroom – Ausblick über die Dächer der „Normalsterblichen“ von der Badewanne aus inklusive. Alleine bei diesem repräsentativen Schlafzimmer mit eigenem Bad fehlte nicht mehr viel auf unsere 78 Quadratmeter.

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      Die grundlegende Frage, wo und wie wir leben (sollen), was die jeweiligen Motive dafür sind und was das alles mit unserem Klima zu tun hat, begleitet mich seit vielen Jahren. Sie treibt mich als Wissenschaftler an, und sie begleitet meine Familie und mich in unserem persönlichen Alltag. Als Klimaökonom beschäftige ich mich mit globalen Zahlen: mit den relativen Kosten von Klima-schmutz und Klimaschutz, mit Zahlen über Risiken und Ungewissheiten. Als Mensch frage ich mich: Was bedeuten diese Zahlen für mich persönlich? Welche Entscheidungen sollte ich treffen? Welche nicht? Und was ist notwendig, damit wir alle jene Entscheidungen treffen – und treffen wollen –, die uns ein gutes Leben ermöglichen und zugleich unseren Planeten schützen?

      Dabei geht es um die Einstellung zum täglichen Leben; um Normen; darum, was einem selbst und seinen Nachbarn, Freunden und Verwandten wichtig ist – oder wichtig sein sollte. Es geht um Architektur, Design und Technologie ebenso wie um Mobilität: das tägliche Pendeln zur Arbeit und zur Schule, den Weg zum Bäcker und zum Wochenendeinkauf und den alljährlichen Familienurlaub. Es geht um Verkehrs- und Raumplanung, um Politik. Es geht um Zielkonflikte und um Kompromisse – sowohl auf volkswirtschaftlicher und gesamtgesellschaftlicher als auch auf ganz persönlicher Ebene. Es geht um die Frage: Wo leben wir wann und wie? Und vor allem auch: Warum?

      Stadt, Land, Suburbia

      Bei uns im Amstettener Vororthaus gab es genau genommen auch noch eine zweite Toilette: Die 78 Quadratmeter Wohnfläche bezogen sich nämlich auf unsere Familienwohnung im ersten Stock. Falls wirklich einmal viele Leute zu Besuch waren, gingen wir Kinder hinunter ins Erdgeschoss. Dort wohnten Oma und Opa. Kurz bevor meine Eltern noch einmal Nachwuchs erwarteten, zogen mein Bruder und ich nach unten, in das sogenannte Bügel- und Extrazimmer. Dort hatte zuvor manchmal unsere Uroma geschlafen, wenn sie zu Besuch kam. Mittlerweile war sie gestorben.

      Das Haus lebte mit unserer Familie mit – wie ein Haus eben, das von drei Generationen einer großen Familie bewohnt wird. Inzwischen ist aus der Terrasse ein zusätzliches Zimmer geworden, 19 Quadratmeter groß, für den Fall, dass die vierte Generation zu Besuch kommt. Die jüngste Generation, das sind meine beiden Kinder, Annan und Sonja, die nun immer wieder das Vorortleben bei Oma und Opa in Niederösterreich genießen dürfen.

      Beide sprechen in ihrem Alltag – in Manhattan, New York City – das ganze Jahr über davon, dass sie im Sommer wieder nach Amstetten reisen möchten. Dorthin, wo sie mit ihrem Opa einen ganzen Sommer lang das Radfahren perfektioniert haben; wo sie einmal pro Woche – und zwar jede Woche – mit ihren Fahrrädern zum Pizzaessen ins Amstettener Einkaufszentrum fahren dürfen. In den Vereinigten Staaten, wo ich seit meinem Schulabschluss am Amstettener Gymnasium lebe, waren meine Frau und ich mit unseren Kindern noch nie in einem solchen Shoppingcenter – wenigstens nicht, ohne es davor ausdrücklich als anthropologisches Experiment zu deklarieren: Shopping Malls sind für uns eine andere Welt.

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      Zugegeben: Meine Frau und ich haben als Familie – nach mittlerweile zwanzig Jahren in den Vereinigten Staaten – noch nie im tatsächlichen „Amerika“ gewohnt. Wir waren dort höchstens zu Besuch. Soweit sich das ohne Auto machen lässt, denn Führerschein habe ich keinen, so wie fast die Hälfte aller New Yorker. Über zwei Drittel besitzen hier auch kein Auto. Unseren letzten Umzug von Cambridge (im Bundesstaat Massachusetts) nach New York City haben wir per Fahrrad, Bahn und Schiff erledigt. Die 340 Kilometer zwischen den beiden Ostküstenstädten überwinden Auto und Bahn in weniger als vier Stunden. Wir waren ganze vier Tage unterwegs – Urlaub inklusive. Doch auch dieser Trip durch einen Teil des Nordostens der Vereinigten Staaten hatte nur wenig mit dem ländlichen Amerika zu tun. Weite Teile dieser Region sind riesige Suburbs: erst jene von Boston, dann die von Providence (in Rhode Island) und ein paar kleineren Städten entlang des Weges. Und dann kommt der Speckgürtel, der alle anderen Speckgürtel in den Schatten stellt: die Suburbs von New York.

      New York City selbst hat knapp über acht Millionen Einwohner, ebenso viele wie ganz Österreich oder die Schweiz. Davon wohnen rund 1,6 Millionen Menschen in Manhattan, die damit die am dichtesten bebauten sechzig Quadratkilometer der Vereinigten Staaten sind. Diese Bevölkerungsdichte ist höher als jene in allen europäischen Städten; sie ist etwa siebenmal so hoch wie jene Berlins. Und sie konkurriert mit den am dichtesten besiedelten Metropolen der Welt wie Mumbai und Kolkata in Indien. Ganz New York mit seinen acht Millionen Einwohnern ist hingegen „nur“ etwa halb so dicht besiedelt, in etwa wie Peking oder Neu-Delhi – immer noch viel dichter als jede europäische Großstadt.

      Die Suburbs von New York haben nicht minder gewaltige Ausmaße: Sie beherbergen um die zwölf Millionen Menschen. Die ganze Metropolregion hat über zwanzig Millionen Einwohner, mehr als Nordrhein-Westfalen. Dabei verschwimmen die Grenzen zusehends; die Suburbs ziehen sich mittlerweile über vier Bundesstaaten hinweg: New York, New Jersey, Connecticut und Pennsylvania.

      Manche dieser Suburbs sind tatsächliche Orte, vergleichbar mit europäischen Kleinstädten: relativ kleine Häuser rund um einen beschaulichen Ortskern. Die Mittelklasse lebt in den nächstgelegenen Vororten: Die begehrtesten haben einen kleinen Bahnhof mit direkter Verbindung nach New York City. Zehn Minuten zu Fuß oder mit Rad zum Bahnhof, dreißig oder vierzig Minuten im Zug, und schon steht der Familienvater aus Montclair, New Jersey, in Midtown Manhattan, während die Mutter ihre Kinder in die großzügig angelegte Vorortschule bringt.

      Das Familiendomizil ist ebenso großzügig gestaltet: Mittlerweile zählen 200 Quadratmeter als Standard, verglichen mit etwa 110 Quadratmetern in Deutschland – Tendenz da wie dort steigend. Vorortidylle, mit dem dazugehörigen, oft nur allzu traditionellen Familienbild: sonntagmorgens Kirchenbesuch, sonntagnachmittags Kaffee und Kuchen – freundschaftliche Haustouren inklusive.

      Wenn beide Elternteile arbeiten, sind es manchmal noch mehr Quadratmeter, einschließlich Zimmer und Bad für das Au-pair. Und falls es nur einen alleinerziehenden Elternteil gibt oder sonst etwas „komplizierter“ wird, dann ist es eben so: kompliziert! Dann ist man vielleicht auch nicht geeignet für das Vorortleben. (Aus Sicht der dortigen Bewohner ist das sogar einer der großen Vorteile: eine ganz von selbst hergestellte und bewahrte Stabilität. Vorortidylle eben.)

      Viele dieser Suburbs sind freilich nicht ganz so idyllisch. Sie sind vor allem eines: eine bequeme Schlafstätte. Der Besuch am Sonntagnachmittag ist dann kaum ein Thema, denn die Familienmutter arbeitet ohnehin im Krankenhaus: Die Wochenendschicht wird besser bezahlt, die Nachtschicht ebenso. Meine Frau Siri (ja, wie beim iPhone) wuchs so auf – in Yonkers, einer Vorstadt nördlich von New York, auf ungefähr doppelt so vielen Quadratmetern wie ich, und teils auch mit doppelt so vielen Personen im Haus.

      Von Vorortidylle spricht in solchen Fällen kaum jemand: Man ist hier in Suburbia, weil das andere auch so machen. Die Anzahl der Quadratmeter ist dann fast schon egal. Groß genug ist es, und falls es doch einmal knapp werden sollte, lässt sich über der Garage leicht noch ein Schlafzimmer einrichten, dahinter ebenso. Ein Pool hätte im Garten auch noch Platz. „Könnte“, „wäre“, „hätte“ – es geht um die Möglichkeiten, um den Traum. Das Eigenheim gehört nun mal dazu. Das ist in Europa nicht anders. Hier schlägt es sich sogar sprachlich nieder – die deutsche Übersetzung für Family Home, das Zuhause für die ganze Familie, lautet nicht umsonst: Einfamilienhaus.


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