Stadt, Land, Klima. Gernot Wagner

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Stadt, Land, Klima - Gernot Wagner


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bekannt ist: Yu Phimai – „die in Phimai Ansässige“. Vor achtzig Jahren war sie die lokale Schönheitskönigin; mittlerweile ist sie über hundert Jahre alt. Lesen und Schreiben lernte sie nie – Schule hätte nur von der Arbeit am Reisfeld abgelenkt. Das Foto von der Abschlusszeremonie ihrer Enkelin Siri an der Harvard University hängt in ihrem eigenen Great Room.

      Omas Haus ist alt genug, dass es auf Stelzen steht – mit einem Kanu, das an den Stiegen angebunden auf seinen Einsatz wartet. Das darunterliegende Land wird seit jeher einmal jährlich überflutet. Die Oma kann nur herzlich über die Nachbarhäuser lachen, deren Erdgeschosse jährlich unter Wasser stehen: Warum sollte man sich so ein Haus bauen? Warum nicht mit der Natur, mit dem Klima leben?

      Die Fluten sind in den letzten Jahren unberechenbarer, gefährlicher geworden. Und heißer ist es mittlerweile auch. Heiß war es in Thailand schon immer. Aber früher reichte meist die allabendliche Brise zur Abkühlung. Mittlerweile verfügt Omas Haus sowohl über einen Kühlschrank als auch über eine vom Arzt verordnete Klimaanlage.

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      Natur und Klima bedeuten in der Stadt etwas gänzlich anderes als am Land. Einerseits ist das Leben in der Stadt von den täglichen Launen der Natur deutlich stärker abgeschirmt: Zwei der Dachfenster unserer Wohnung in New York öffnen sich automatisch, wenn der CO2-Gehalt im Innenraum zu hoch steigt. Sie schließen sich automatisch, wenn es zu regnen beginnt. Bei hohem CO2-Gehalt drinnen und Regen draußen vibriert das Handy: „Fenster öffnen.“

      Andererseits sind durch den Klimawandel ganze Städte in existenzieller Gefahr. Die jährliche Flut im ländlichen Phimai ist eine Sache – die Vororte der Millionenmetropole Bangkok befinden sich da schon in einer gänzlich anderen Lage. Dort hat zwar selbstverständlich jedes Haus eine Klimaanlage; eine Garage fürs Auto ohnehin. Auf Stelzen baut dort jedoch niemand. Eine Überflutung in Teilen Bangkoks legt wiederum die thailändische Wirtschaft und wichtige Teile der globalen Autozulieferkette und somit die Produktion von Benzinfressern am anderen Ende der Welt lahm. (Klimaschutzironie ist eine ganz eigene Kunstform.)

      Rapide ansteigende Meeresspiegel bedeuten für viele Küstenstädte auf der ganzen Erde nichts Gutes. Ein paar einzelne Häuser umzusiedeln, ist schon schwer genug. Doch Städte wie Bangkok oder auch New York auf höherem Niveau wiederaufzubauen, wäre noch mal ein gänzlich anderes Vorhaben. Natürlich wäre New York – oder noch viel dringender etwa Bangkok, Manila oder Miami – nicht die erste Stadt, die die Menschheit aufgrund von Klimawandel aufgeben müsste. Uruk etwa, im heutigen Irak gelegen, hatte vor ungefähr 5000 Jahren über 40.000 Bewohner und war damit die größte Stadt der Welt. Heute ist sie eine archäologische Ausgrabungsstätte in der Wüste.9 Die Launen von Natur und Mensch sorgten dafür.

      Ein großer Unterschied zur heutigen Situation ist freilich der Faktor Zeit: Der Fall von Uruk zog sich über 3000 Jahre hinweg. Viele Teile Bangkoks, Manilas oder Miamis haben hingegen keine hundert Jahre mehr.10 Der zweite große Unterschied: Eigentlich wissen wir all das schon jetzt. Ungewissheiten gibt es zwar genug, doch selbst die optimistischsten Prognosen sind schlimm genug.

      Dabei geht es mittlerweile nicht mehr „nur“ um Prognosen. New York etwa gehört seit Kurzem nicht mehr zur Kontinentalklimazone, sondern zur humiden subtropischen. Das bedeutet: wärmere Winter, heißere Sommer – mit sintflutartigen nachmittäglichen Wolkenbrüchen.11 Sowohl Hitzetage als auch Tropennächte nehmen auch in Berlin von Jahr zu Jahr zu. Es ist abzusehen, dass das, was wir heute als „Mittelmeerklima“ bezeichnen, künftig in Norddeutschland Normalität sein wird. Dabei ist am Klimawandel eigentlich nichts „normal“.

      Trotzdem wird mehr und mehr gebaut, überall – meist ohne Stelzen. Banken und Versicherungsgesellschaften beziehen Prognosen hinsichtlich der steigenden Meeresspiegel und immer stärkeren Überflutungen inzwischen zusehends in ihre Entscheidungen ein. Ein Baukredit mit dreißig Jahren Laufzeit bedeutet, dass der Bank noch bis Mitte des Jahrhunderts Teile des Hauses gehören werden. Banken und Versicherungen werden als eine der Ersten zu spüren bekommen, wenn die hundertjährige Überschwemmung alle paar Jahre auftritt. Versicherungsprämien schnellen entsprechend in die Höhe – oder die Versicherungspolice wird in gewissen Gegenden einfach gar nicht mehr angeboten.

      Dennoch subventioniert staatliche Politik solche Bauten an gefährdeten Standorten oft immer noch. Das gilt für Überflutungszonen von Donau und Elbe ebenso wie für Küstenstädte von Bangkok bis Miami und New York.

      Klimamoral

      Wo sollen wir leben? Und wie? Und warum genau dort?

      Der Klimawandel betrifft alle und alles, und er sorgt dafür, dass jeder noch so „unberührte“ Teil der Welt alles andere als unberührt bleibt. Der Autor und Umweltaktivist Bill McKibben rief bereits 1989 das „Ende der Natur“ („The End of Nature“) aus.12 Getrennt vom Menschen existierende Natur – an die sich der Mensch ungefragt anpasst, indem er sich ihr etwa im Stelzenhaus geradezu unterwirft – gibt es schon lange nicht mehr. Natur wird reguliert, kontrolliert, an den Menschen angepasst. Die Natur gänzlich den städtischen Betonwüsten unterzuordnen, ist der größte Einschnitt überhaupt.

      Die einzige moralisch richtige Konsequenz also: am Land leben? Vielleicht. Am Land – und vom Land – zu leben, mag moralisch richtig sein. Allerdings tun das die wenigsten. Das mag auch vollkommen in Ordnung sein – Moral war noch nie ein Massenphänomen. Reine Theorie sollte die Moral natürlich auch nicht bleiben. Es geht hier nicht um den ambitionierten Asketen, der seine Tage am liebsten im Kloster verbringt. Es geht um Familie. Es geht um Alltag, um Arbeit, um Leben. Dabei ist klar, dass die wenigsten am Land auch vom Land leben. (Jene, die an den abgelegensten Orten wohnen, verlassen sich allzu oft auf die modernsten Technologien. Wenn das Telefonnetzwerk nicht reicht, braucht man schließlich das eigene Satellitentelefon.)

      Doch auch die Stadt besteht den Klimamoraltest: Das Leben ist kompakt. Die Wohnungen und Büros sind verhältnismäßig klein. Die meisten Produkte und Waren werden zwar importiert – vom umliegenden Land oder von noch weiter her –, dafür spielt sich das tägliche Leben oft im 15-Minuten-Radius ab. Rad, Bahn, Bus und Fußwege dominieren die Mobilität, Autos gibt es weniger, im Privatleben oft gar keine.

      Damit sind bereits wichtige Faktoren angedeutet: die Größe der Wohnfläche etwa, und wie effizient es jeweils ist, die städtischen 70 Quadratmeter verglichen mit den ländlichen 140 im Sommer zu kühlen und im Winter zu heizen. Alltagsmobilität und -konsum sind ebenso wichtig: Wer produziert und konsumiert was wie – und warum? Steigt der Konsum, weil es das Leben da wie dort verlangt? (Schließlich kommt man am Land nicht ohne Auto aus.) Oder ist dies vor allem mit gesellschaftlichen Normen und Erwartungen verbunden? (Vielleicht gäbe es einen besseren Weg, aber „das macht man eben hier so“: es „war immer schon so“.) Welche dieser Faktoren den entscheidenden Unterschied machen, werden wir in diesem Buch schrittweise eruieren.

      So viel schon jetzt: Wenn ich „Stadt“ sage, dann meine ich es so: die Stadt. Nicht Suburbs, wo – ganz egal ob in Nordamerika, Europa oder anderswo auf der Welt – die wahren Klimasünder wohnen, mit großen Häusern, großen Autos, doppelt so viel CO2-Ausstoß wie überall anders.13

      Suburbs sind also schlecht, Stadt und Land gut – Ende des Kapitels?

      Nicht ganz. Denn zunächst wirft diese Diagnose mehr Fragen auf, als sie beantwortet: Suburbia als Klimasünder abzutun, ist das eine – aber was bedeutet es in Sachen Klimapolitik? Was kann ich persönlich beitragen, um die Situation zu verbessern? Was soll ich tun? Und die entscheidende Frage: Welche Faktoren machen den Unterschied?

      Klimabuchhaltung

      All diese Fragen führen uns in die wundervolle Welt der Klimabuchhaltung. Meine Einführung in dieses Feld erhielt ich 1998, als 18-Jähriger, in meiner allerersten Woche an der Uni.

      Manche Professorinnen und Professoren arbeiten allein: ein Block Papier, ein scharf gespitzter Bleistift, ein Computer, ein paar Ideen, die


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