Stadt, Land, Klima. Gernot Wagner

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Stadt, Land, Klima - Gernot Wagner


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die Hälfte der Weltbevölkerung lebt heute in Städten, Tendenz steigend.1 Mit Städten ist tatsächlich das gemeint: dichte urbane Zentren. Platz ist dort knapp und in begehrenswerten Stadtteilen auch entsprechend wertvoll. Die Mittelklasse zieht es daher zunehmend hinaus in die Suburbs, die Vorstädte und -orte, auf der Suche nach mehr Platz.

      Der Weg vom Land in die Stadt in die Suburbs scheint zum natürlichen Lauf der Dinge geworden zu sein: Zunächst wird das Leben in Hektar gemessen, dann in Stadtwohnungsdimensionen (48 oder 84 Quadratmeter oder irgendwas dazwischen), denen es zu entkommen gilt. Ein Drittel der Amerikaner wohnt in mehr oder weniger dicht bebauten Städten. Etwa 50 Prozent leben mittlerweile in Suburbia. Der kleine Rest lebt immer noch – oder auch wieder – am Land.2 Der Traum vom Einfamilienhaus ist aber bei Weitem nicht nur etwas typisch Amerikanisches. Genauso ist er asiatisch: Die Vororte von Bangkok dehnen sich ebenso aus wie jene in Kuala Lumpur. Der Traum ist australisch, südafrikanisch, südamerikanisch. Und er ist auch europäisch: Suburbanisierung, Speckgürtel und Zersiedelung gibt es mittlerweile auf der ganzen Welt.

      In Deutschland zum Beispiel liegt der Anteil der Landbevölkerung auf dem niedrigsten Stand seit dem Jahr 1871. In der Region Berlin-Brandenburg leben heute 88 Prozent aller Einwohner im urbanen Raum.3 Die großen Städte wachsen zwar – allerdings fast nur mehr dank Immigration aus dem Ausland. Deutsche Staatsangehörige hingegen wandern seit 2014 noch stärker ins Umland der großen Städte ab.4 Die Landkreise, die am schnellsten wachsen, liegen rund um Städte wie Frankfurt /Main, München oder Stuttgart: im Speckgürtel, Suburbia.5

      Der Grund für diese Entwicklung, so ist vielerorts zu hören, sind die hohen Quadratmeterpreise in den Innenstädten. Das stimmt in vielen Fällen, ist aber gleichzeitig nur ein Teil der Erklärung: Die teuersten Wohnungen sind oft in Städten zu finden, aber ebenso befinden sich auch die billigsten Wohnungen dort, und natürlich gibt es auch alles dazwischen. Der Traum vom Einfamilienhaus ist vor allem Lebenseinstellung. Er ist Erwartung, er ist Norm, er ist Werbung: die glückliche Vorortfamilie im idyllischen Einfamilienhaus mit eigenem Garten. Die dadurch entstehende Abhängigkeit vom Auto für die Fahrt zur Arbeit: purer Fahrgenuss, individuelle „Freiheit“! Die Erhaltungskosten für die 100 oder mehr Quadratmeter: volkswirtschaftliche Wertschöpfung.

      Der Traum vom Einfamilienhaus ist auch Politik, mit all den dazugehörigen Steueranreizen und Subventionen: „Bausparverträge“ heißen nicht umsonst so. Die Einkaufszentren mit ihren riesengroßen Parkplätzen am Stadtrand, die dazu einladen, in immer größeren Gefährten die attraktivsten Schnäppchen zu immer größeren Häusern noch weiter weg zu kutschieren – sie sind ein direktes Ergebnis der Steuer-, Verkehrs- und Regionalpolitik, das gleichzeitig viele Innenstädte weiter vereinsamen lässt.

      Nicht zuletzt ist der Vororttraum: Natur- und Klimakiller.

      Stadt, Land, Klima

      Klimaschmutz entsteht zwar überall – in Suburbs entstehen jedoch doppelt so viele CO2-Emissionen wie in Städten oder am Land.6 Klimaschutz liegt in der Stadt.

      Die Logik ist einfach: Die entscheidenden Faktoren heißen Reichtum und Dichte. Reichtum bedeutet mehr CO2-Emissionen, Dichte weniger. Das Land ist relativ arm und dünn besiedelt. Städte sind relativ reich und dicht besiedelt. Suburbs liegen genau dazwischen: Sie haben zwar relativen Reichtum, aber kaum Dichte. Das bedeutet: größere Häuser, mehr Autos, mehr materieller Konsum – und daher auch deutlich mehr CO2-Emissionen.

      Stadt selbst ist noch kein Garant für ein CO2-armes Leben. Reichtum und Dichte eröffnen allerdings echte Möglichkeiten. Ich als New Yorker blicke etwa wehmütig nach Barcelona und dessen autofreie „Superblocks“: Der Verkehr fließt auf den großen Adern, während die kleineren Straßen dazwischen für die Menschen reserviert sind. Auch Berlin, Wien und Zürich sind beim Nahverkehr und der Verkehrsplanung trotz aller Probleme globale Vorbilder: Das in Österreich geplante „1-2-3-Ticket“ – 1 Euro pro Tag, um alle öffentlichen Verkehrsmittel im eigenen Bundesland nutzen zu können, 2 Euro für zwei Bundesländer und 3 Euro für das ganze Land – ist dabei ebenso lobend zu erwähnen wie der Dreißig- oder gar 15-Minuten-Takt der Schweizer Bahn und sämtliche weiteren Maßnahmen, die Menschen gegenüber Autos bevorzugen.

      Doch Verkehr ist nicht alles: Die Reduktion von CO2-Emissionen muss viel weiter gehen, als Radwege auszubauen. Möglichkeiten gibt es genug: von intelligenten Flächennutzungsplänen und Bauordnungen bis zu gänzlich neuen Geschäftsmodellen, in denen Vermieter finanzielle Vorteile genießen, wenn sie ihren Mietern effizientere Haushaltsgeräte zur Verfügung stellen. Wie immer hängt vieles von der Politik ab: Neben Wohnbauförderung plus Pendler- oder Kilometerpauschale gibt es auch Wohnungsförderung plus subventionierten städtischen Nahverkehr.

      Vieles andere ist aber von Politik relativ unabhängig: Es geht ebenso um die persönliche Einstellung, um Umstellung, um Umdenken, um Potenziale. Es geht um Familie, um Zeit. Es geht um den Sonntagnachmittag genauso wie um den Montagmorgen. Es geht vor allem um die Zukunft: jene von Stadt, von Land und von Klima.

      Dieses Buch ist mein persönlicher Versuch, das Thema aus den verschiedensten Perspektiven zu beleuchten. Ich begann daran zu arbeiten, als ich mit meiner Frau und unseren beiden kleinen Kindern per Fahrrad, Bahn und Schiff von Cambridge, Massachusetts, nach New York City zog. Die Frage, die dabei für mich im Mittelpunkt stand, lautete: Warum? Nicht bezogen auf den Umzug selbst, denn den hatten wir wie einen Urlaub geplant. Das „Warum?“ bezog sich auf unser Ziel: Wir hatten soeben unser erstes Family Home gekauft – ein neues Zuhause für unsere Familie. Allerdings war es kein „Einfamilienhaus“. Die Größe: 70 Quadratmeter.

      Das ist klein, selbst für New York. Für eine vierköpfige amerikanische Familie ist es winzig. Das gab uns fast jeder auf seine Weise zu verstehen: der Blick der auf Stadtwohnungen spezialisierten Wohnungsmaklerin, die sichtlich noch nie mit Kindern zu tun hatte; der Kommentar der Bankangestellten, die unsere Wohnung wiederholt als Starter Home beschrieb, als „Einsteiger-Eigentum“. (Beiden schien unsere Wahl freilich mehr als gelegen zu kommen: Sie empfahlen sich sofort für unsere vermeintlich unausweichliche Wohnungssuche drei Jahre später, wenn es dann „weiterginge“. Das machen Jungfamilien mit ihren Einsteiger-Eigentümern doch so.)

      Dass unsere eigene Wohnungssuche nicht der Norm entsprach, bestätigte uns auch die neue Lokalzeitung. Die New York Times verewigte unsere Wohnungssuche in einem Artikel nach dem Motto: „Effiziente vierköpfige Familie sucht Wohnung mit wenigen Wänden mitten in Manhattan.“7 Tatsächlich: Unsere Wohnung hat keine Innenwände, vom Badezimmer mal abgesehen. Das Wort „effizient“ kam in dem Artikel ganze drei Mal vor – nicht zwingend als Kompliment gemeint.

      Wir haben freilich keinen Grund, uns zu beschweren. Ganz im Gegenteil: Wir halten die Größe unserer Wohnung für nahezu perfekt. Verbunden mit der Lage könnten die 70 Quadratmeter nicht idealer sein. Gleichzeitig fragen wir uns: Warum sehen das im Allgemeinen die wenigsten so?

      Weder amerikanische noch europäische Durchschnittsfamilien wohnen so, wo und wie wir es tun. Familien gibt es in unserer unmittelbaren Nachbarschaft kaum: Ich kann die Nachbarskinder an zwei Händen abzählen – zumindest jene, die so wie wir leben. Denn Millionärs- oder gar Milliardärsfamilien gibt es hier ebenso, in New York City mehr als in jeder anderen Stadt. Die logieren im dreistöckigen Penthouse und schweben gleichsam über dem Rest der Stadt, mit der sie kaum jemals persönlich in Kontakt kommen.

      Die ärmsten New Yorker – jene, die sich nicht unbedingt aussuchen können, was sie ihr Zuhause nennen – wohnen auch in Kleinstwohnungen, aus denen viele gerne entkommen würden. Viele leben in Schlafstädten innerhalb der Stadt. Jemand, der die Wahl hat, entscheidet sich anders.

      Viele kleinere und größere Familien auf allen Kontinenten – von Shanghai bis Tokio, von São Paulo bis hin zur kleinen Stadtwohnung im niederösterreichischen Amstetten – können von 70 Quadratmetern nur träumen. Von jener Milliarde Menschen, die in den urbanen Slums wohnen, ganz abgesehen. Doch genau darum geht es: um den Traum von „mehr“.

      Es gibt immer wieder


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