Der verlorene Sohn - Der Fürst des Elends (Kriminalroman). Karl May
Читать онлайн книгу.möglichst zu trennen. Daher kam es, daß Robert Bertram in einer anderen Abtheilung des Gefängnisses untergebracht war.
Als der Pfarrer in den betreffenden Corridor trat, fand er, daß eine Zellenthür offenstand. Er ging näher. Vor der Thür stand, discret zurückgezogen, der Schließer. Der Pfarrer blickte hinein. Da stand der Assessor, welcher als Untersuchungsrichter fungirte, und der Bezirksarzt, welcher zugleich Gefängniß- und Gerichtsarzt war. Am Boden aber lag der Gefangene in einem Zustande, welcher mitleiderregend war.
Man hatte ihm, als man ihn inhaftirt hatte, einen Strohsack in die Zelle gelegt; dieser aber war jetzt ganz zerrissen, so daß der Gefangene auf dem blanken Stroh lag. Man erkannte auf den ersten Blick, daß er den Strohsack zerstört hatte. Aus welchem Grunde?
Auch die Beiden, welche sich soeben bei Robert in der Zelle befanden, waren soeben erst eingetreten. Sie erblickten den Geistlichen und begrüßten ihn. Dann wendete sich der Untersuchungsrichter an den Schließer.
»Hat er gesprochen?«
»Ja,« lautete die Antwort.
»Was?«
»Nur ganz dummes Zeug.«
»Haben Sie nichts verstanden?«
»Es waren viel Reime dabei.«
»Das ist sonderbar!«
»O, der Kerl will uns doch nur an der Nase herumführen, Herr Assessor! Er thut nur so, als ob er ganz von Sinnen sei; das kennt man! Das ist die letzte Zuflucht solcher Kerls, wenn sie keine andere Hilfe mehr wissen. Er declamirt in Einem fort.«
»Also verständige Antworten auf Ihre Fragen giebt er nicht?«
»Nein.«
»Und die Augen, waren sie stets so geschlossen wie jetzt?«
»Ja.«
»Und der Gesichtsausdruck?«
»Er zieht sehr oft ganz gräuliche Grimassen. Man soll denken, daß er große Schmerzen leide.«
»Hm! Warum haben Sie ihm diesen zerrissenen Strohsack gegeben?«
»Zerrissen? Er war noch fast ganz neu. Aber er selbst hat ihn zerfetzt und so zugerichtet. Er tobte, ohne sich vom Boden zu erheben, in der Zelle herum und demolirte Alles. Darum haben wir es für nöthig gehalten, ihn, wie ja die Hausordnung besagt, an die Kette zu schließen.«
Der Gefangene war wirklich an Arm und Fuß mittels einer starken Kette an die Mauer gefesselt.
Der Assessor schien kein Unmensch zu sein. Er schüttelte leise mit dem Kopfe und wendete sich an den Gerichtsarzt:
»Halten Sie die Kette für nothwendig?«
»Unter Umständen, ja.«
»Sie kann aber auch schädlich sein!«
»Wenn er seinen Zustand nicht simulirt, sondern wirklich Schmerzen fühlt, ist sie sogar eine Grausamkeit.«
»Hoffentlich ist es nicht schwer, zwischen der Wahrheit und der beabsichtigten Täuschung zu unterscheiden?«
»Ich hoffe es. Versuchen wir es einmal!«
Er trat näher zu dem Gefangenen heran. Dieser lag, lang ausgestreckt und den Kopf in die rechte Hand stützend, halb auf dem Stroh und halb auf der harten Diele. Seine Augen waren geschlossen, und nicht die mindeste Bewegung zeigte an, daß Leben in ihm sei.
»Bertram!« rief der Arzt, sich zu ihm niederbeugend.
Er erhielt keine Antwort.
»Bertram!«
Der Gefragte blieb stumm wie vorher.
»Berühren Sie ihn einmal,« bat der Untersuchungsrichter.
Der Arzt legte ihm die Hand leise auf den Kopf, aber ohne alles Resultat. Er gab der Hand eine andere Lage und drückte kräftiger. Dabei berührte er die Stelle, welche von dem Todtschläger des Polizisten getroffen worden war, und sofort fuhr der Gefangene mit einem lauten Schmerzensschrei aus seiner liegenden Stellung in eine sitzende empor. Seine Augen öffneten sich und starrten mit einem unbeschreiblichen Ausdrucke die vor ihm stehenden Männer an.
»Bertram!« wiederholte der Arzt.
»Judith!« flüsterte der Gefangene.
»Kommen Sie doch zu sich!«
»Sie haben uns gerettet!«
»Sammeln Sie sich! Dann werden Sie vielleicht auch jetzt gerettet!«
»O, das viele, blanke Geld.«
Der kranke Geist des Gefangenen beschäftigte sich mit den fünfzig Münzen, welche er von Judith empfangen hatte. Die drei Männer aber gaben seinen Worten eine andere Bedeutung.
»Ah!« flüsterte der Assessor dem Arzte zu. »Geld! Er denkt jetzt an den Einbruch! Sprechen Sie weiter mit ihm!«
»War es denn bloß Geld?« fragte der Arzt.
»Auch eine goldene Kette.«
Der Untersuchungsrichter nickte sehr befriedigt. Er raunte den beiden Anderen so leise wie möglich zu:
»Hören Sie! Auch eine Kette! Er meint auf alle Fälle die kostbare Halskette, welche er in der Hand hatte, als er ergriffen wurde!«
»Und weiter nichts?« fragte der Arzt.
Da der Gefangene nicht antwortete, so ergriff er ihn bei der Schulter, schüttelte ihn leise hin und her und wiederholte:
»Weiter nichts als die Kette?«
»Und der Schein! Und das Essen! O, Judith, ich hatte Hunger!«
»Das verstehe ich nicht,« meinte der Arzt, zu dem Assessor gewendet.
»Sprechen Sie nur immer weiter mit ihm,« antwortete dieser.
»Wem gehörte der Schein? Wer gab das Essen?«
»Wer?« fragte Robert langsam und wie abwesend.
»Ja. Und wer ist diese Judith?«
»Judith? Die Fee des Meeres.«
Bei diesen letzten Worten schien ein Strahl von Selbstbewußtsein aus seinen Augen zu brechen. Er breitete die Arme aus, als ob er declamiren wolle und begann zu recitiren:
»Wo keiner Stimme Töne klangen,
Am Grunde der krystallnen See,
Da liegt, vom Schlummer lind umfangen,
Im Zauberschloß, des Meeres Fee.«
Er hielt inne, wie um nachzudenken. Der Arzt schüttelte den Kopf und öffnete bereits die Lippen zu einer Bemerkung; da fuhr Robert fort:
»Sie träumt von Liebe, träumt vom Leben,
Das über ihrem Reiche rauscht,
Wo, von Triton und Elf umgeben,
Sie oft verborgen zugelauscht.«
Wieder hielt er inne. Sein Auge war starr in die Ecke gerichtet.
»Ist das Simulation?« flüsterte der Assessor.
»Wenn das Simulation ist, so ist er ein Meister in der Verstellungskunst, Herr Untersuchungsrichter.«
»Forschen Sie weiter! Ihnen scheint er zu antworten.«
»Bertram, beantworten Sie mir –«
Der Arzt konnte den begonnenen Satz nicht vollenden, denn der Gefangene sprach weiter, und zwar in einem Tone, als ob er von einem schönen, wohlthätigen Traume befangen sei:
»Doch endlich hat auch sie getrunken
Des Lebens und der Liebe Gluth,
Und trägt in sich den Gottesfunken,
Der im erwärmten Herzen ruht.«
Er streckte den Arm aus, als ob er