Der verlorene Sohn - Der Fürst des Elends (Kriminalroman). Karl May

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Der verlorene Sohn - Der Fürst des Elends (Kriminalroman) - Karl May


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Sie auf!«

      Sie erhob sich, steif und still wie eine Nachtwandlerin. Dann fuhr der Fromme fort:

      »Ich bringe Ihnen eine frohe Botschaft, ein wahres Evangelium. Sie sollen gerettet werden, das ist Gottes Wille. Darum gab er Ihnen einen treuen Sorger zum Vormund, der über Sie wachen wird, daß Sie nicht wieder in die Arme der Sünde fallen. Denn Ihre größte Sünde war die Lectüre von Liebesliedern. Ich selbst bin Ihr Vormund, und Sie haben mir in allen Stücken Gehorsam zu leisten. Verstehen Sie mich?«

      »Ja,« hauchte sie tonlos.

      »Sie werden heute eine neue, glanzvolle Stellung antreten, und zwar in einer hohen, adeligen Familie, zu welcher ich Sie sofort bringen werde. Ihre Siebensachen, welche hier liegen, können Sie dort nicht brauchen. Sie bleiben hier, um im Interesse Ihrer kleinen Geschwister verkauft zu werden. Folgen Sie mir!«

      Er ergriff sie beim Arme und zog sie fort. Sie folgte ihm, ohne den geringsten Versuch, Widerstand zu leisten. Ihr Wille schien ganz gestorben zu sein.

      Sie fuhren in einer Droschke nach dem Palaste des Barons. Dieser war ausgegangen. Darum ließ Herr Seidelmann sich bei der Baronin melden. Als diese ihn mit dem Mädchen eintreten sah, fragte sie:

      »Herr Vorsteher, kommen Sie etwa, mich zu erbitten? Dieses Mädchen ist bereits hier gewesen, und ich habe in dieser ärgerlichen Angelegenheit mein letztes Wort gesprochen!«

      »Bereits hier gewesen?« fragte er.

      »Ja. Ich hatte mich auf diese Stickerei wirklich wie ein Kind –«

      »Stickerei?« fiel er ein. »Davon weiß ich nichts. Ich komme ganz und gar nicht wegen einer Stickerei!«

      »Nicht? Weshalb denn?«

      »Ich gebe mir die Ehre, Ihnen dieses Mädchen als die Marie Bertram vorzustellen, von welcher wir gesprochen haben.«

      »Marie Bertram? Ist das möglich!« rief die Baronin ganz erstaunt. »Das ist ein eigenthümliches Zusammentreffen!«

      Sie musterte das Mädchen sehr aufmerksam, schüttelte den Kopf und fragte dann:

      »Fräulein Bertram, kennen Sie den Baron von Helfenstein?«

      »Nein,« antwortete Marie leise.

      »Sie haben aber wohl von ihm gehört?«

      »Ja.«

      »Was?«

      »Unser Wirth.«

      »Was ist Ihnen, warum sprechen Sie nicht anders?«

      Da fiel der Vorsteher ein:

      »Entschuldigen Sie gnädigst! Ihr Vater ist heute Vormittag gestorben. Sie ist sehr erschüttert und muß sich erst in ihre Lage finden.«

      »Gut! Lassen wir sie allein. Bringen Sie das Mädchen zum Leibdiener meines Mannes, welcher bereits die nöthigen Befehle erhalten hat. Er mag sie nach ihrem Zimmer bringen!«

      Das geschah. Nach kurzer Zeit befand Marie sich in einem nicht zu großen, aber allerliebst ausgestatteten Zimmerchen. Sie setzte sich auf das Sopha und starrte vor sich hin. Es wurde Licht gebracht, sie beachtete es nicht. Der Diener servirte ihr ein kleines Abendessen; sie rührte es aber nicht an.

      So verging Stunde um Stunde, bis Mitternacht vorüber war. Da öffnete sich plötzlich die Nebenthür, und der Baron trat ein. Als er sie erblickte, leuchtete sein Auge befriedigt auf.

      »Guten Abend, liebes Kind!« grüßte er. »Warum sind Sie nicht bereits schlafen gegangen?«

      Sie sah ihn an und antwortete nicht. Er deutete auf das in dem Zimmer stehende Bett und meinte:

      »Das ist ja für Sie bestimmt!«

      »Ja,« antwortete sie, ohne weiter zu überlegen.

      »Haben Sie gespeist?«

      »Nein.«

      Er setzte sich neben sie auf das Sopha und erkundigte sich weiter:

      »Ich hoffe doch, daß Sie aufmerksam bedient worden sind?«

      »Ja.«

      »Wollen wir uns noch ein wenig unterhalten?«

      »Ja.«

      »Wovon? Vielleicht von dem Grunde, welcher mich veranlaßt hat, Ihnen hier eine Anstellung zu geben?«

      »Ja.«

      Die Antworten kamen so monoton zwischen den Lippen hervor, als ob sie einem verständnißlosen Wesen einstudirt worden seien. Dennoch rückte der Baron näher zu ihr heran und fuhr fort:

      »Ich will Ihnen aufrichtig sagen, daß der einzige Grund in der Liebe besteht, welche ich für Sie gefaßt habe. Ich habe zwar gehört, daß Ihr Herz nicht mehr frei ist, aber ich glaube, Sie werden so verständig sein, die Chancen, welche ich Ihnen zu bieten vermag, allem Anderen vorzuziehen. Nicht wahr, ich darf das hoffen?«

      »Ja.«

      »Ah, ich sehe, daß Sie eine höchst verständige und liebenswürdige junge Dame sind. Kommen Sie her und lassen Sie sich umarmen!«

      Er legte den Arm um sie und wollte sie küssen. Da stieß sie ihn von sich. Er aber ließ sich nicht irre machen. Er hatte von dem Diener bereits gehört, in welchem Seelenzustande er die neue Maitresse finden werde. Er zog sie abermals an sich und hielt sie so fest, daß sie sich kaum zu rühren vermochte. Aber zu einem Kusse kam er doch nicht. Ohne einen Laut von sich zu geben, ohne um Hilfe zu rufen, wußte sie ihm ihre Lippen jedesmal zu entziehen.

      So kämpften sie still und lautlos, bis ihm endlich ein Gedanke kam, der ihm Erfolg versprach. Er ließ sie los, betrachtete sie mit freundlicheren Augen und fragte:

      »Nicht wahr, Ihr Bruder heißt Robert?«

      »Ja.«

      »Und Ihr Geliebter Wilhelm?«

      »Ja.«

      »Beide sind jetzt gefangen?«

      »Ja.«

      »Sie sind verloren; man wird sie verurtheilen und in das Zuchthaus schaffen. Aber Sie können sie retten.«

      Der teuflische Plan des Barons schien gelingen zu wollen, denn ihr Auge belebte sich ein Wenig.

      »Wollen Sie, daß Beide gerettet werden?« fragte er weiter.

      Sie nickte mit einiger Lebhaftigkeit.

      »Gut! Hören Sie! Ich bin der Richter, welcher Beide zu verurtheilen hat. Nun kommt es darauf an, wie Sie sich gegen mich verhalten. Sind Sie freundlich und gehorsam, so werde ich dafür sorgen, daß Robert und Wilhelm bereits in einigen Tagen auf freiem Fuße sind. Kämpfen Sie aber gegen meine Liebe, so sind die beiden Gefangenen nicht zu retten. Verstehen Sie mich?«

      Sie blickte ihm lange Zeit starr in das Gesicht und nickte dann.

      »Gut! Sie haben gehört, was ich Ihnen gesagt habe. Entscheiden Sie also jetzt über das Schicksal der Ihrigen!«

      Er legte den Arm um sie – sie duldete es. Er zog sie an sich – sie widerstrebte nicht. Er küßte sie auf den Mund – sie leistete nicht den geringsten Widerstand. Nun hob er ihren Kopf ein Wenig empor, um die lieben, treuen, reinen Züge näher zu betrachten. Da hielt sie das Auge auf ihn gerichtet mit einem Ausdrucke, den die Sprache gar nicht wiederzugeben vermag. Dieser Blick war ein Ertrinken der Seele im tiefsten Jammer, in fürchterlichster Qual und Noth.

      Ein Anderer hätte bei diesem Blick gradauf schluchzen müssen; er hätte es nicht vermocht, diesem armen, beklagenswerthen Mädchen auch nur das geringste weitere Leid anzuthun. Aber der Baron hatte weder Gefühl noch Gewissen. Er hielt sie mit dem einen Arme umschlossen und versuchte mit der anderen Hand, die Lampe zu verlöschen. Marie verhielt sich vollständig bewegungslos dabei. Es war Nacht geworden im Zimmer und Nacht in ihrem Innern. – – –

      Am anderen Morgen kam der Vorsteher, um sich nach dem Befinden seiner Mündel zu erkundigen. Er fand den Baron in


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