Der verlorene Sohn - Der Fürst des Elends (Kriminalroman). Karl May
Читать онлайн книгу.um demselben eine bessere Lage zu geben; aber sofort ballte er die Hände und knirschte mit den Zähnen wie Einer, der unter dem Einflusse eines wahnsinnigen Grimmes steht.
Sie fuhr erschrocken zurück und erhob sich.
»Was war das?« fragte sie. »So plötzlich! Warum wohl?«
»Das ist ja eben seine Krankheit!« erklärte der Arzt. »Er ist ganz ruhig und schlägt dann plötzlich wie ein Wütender um sich, während ihm der Schaum vor dem Munde steht. Es kommt da der ihn beherrschende Wahn über ihn, der Grimm über irgend Etwas, was ich noch nicht errathen konnte.«
»Sollte das der wirkliche Grund sein?« fragte der Fürst im Tone des Zweifels.
»Der wirkliche und einzige.«
»Wollen doch einmal sehen!«
Der Fürst beugte sich nieder und versuchte, seine Hand unter Bertram's Kopf zu bringen. Sofort schlug dieser mit beiden Fäusten um sich. Jetzt wendete der Fürst den Kranken auf die Seite und betrachtete den Hinterkopf desselben genauer.
»Wie ist seine Gefangennahme erfolgt?« fragte er dann schnell. »Hat er sich freiwillig ergeben?«
»Er wurde, jedenfalls aus Irrthum, mit dem Todtschläger niedergeschlagen,« antwortete der Assessor.
»Um Gottes willen, ist es da ein Wunder, wenn man da seinen Kopf nicht berühren darf! Haben Sie denn nicht bemerkt, Doctor, daß ihm die Hirnschaale zerschlagen worden ist? Vor Schmerz ist er von Sinnen, vor Schmerz und Qual!«
Fanny stieß einen Schrei des Entsetzens aus und weinte sofort laut:
»Die Hirnschaale zerschlagen?« fragte der Arzt.
»Jedenfalls. Hier, untersuchen Sie ihn gefälligst!«
»Er wird dabei nicht stillhalten. Bitte, wollen Sie so freundlich sein, mir zu helfen!«
Fanny verließ die Zelle. Dennoch vernahm sie das schwere Ächzen und Stöhnen des Kranken. Sie floh immer weiter in den finsteren Gang hinein, bis sie von dem Fürsten geholt wurde.
»Wie steht es mit ihm?« fragte sie. »Ist es gefährlich?«
»Wohl nicht, aber sehr schmerzhaft.«
»Gott, mein Gott! Und dabei soll er in dieser Zelle liegen?«
»Nein. Der Assessor wird ihm ein anderes Lokal anweisen lassen, zwar auch noch innerhalb der Mauern des Gefängnisses, aber doch ein wohnlicheres Gemach.«
»Warum soll er nicht aus dem Gefängnisse heraus?«
»Weil seine Unschuld doch noch nicht erwiesen ist.«
Der Assessor war zu ihnen getreten. Er hatte die letzten Worte vernommen und fügte hinzu:
»Ich bin jetzt von seiner Unschuld vollständig überzeugt, darf ihn aber doch noch nicht definitiv entlassen. Ich werde heute noch diese Judith Levi verhören, und sollte die Aussage dieser Jüdin, auf die ich übrigens sehr neugierig bin, noch nicht genügen, so – – hm!«
Er sann einen Augenblick nach und fuhr dann fort:
»Es giebt allerdings einen Einzigen, dessen Aussage diesem Unschuldigen sofort die Freiheit wiederbrächte, aber – – –«
»Wer ist es, wer?« fragte Fanny schnell.
»Der Riese Bormann. Dieser hat ihn für seinen Complicen ausgegeben und will das auch beschwören. Ich weiß, daß er lügt. Geben Sie mir ein Alibi oder den Widerruf des Riesen, so entlasse ich Bertram augenblicklich. Woher aber ein Alibi nehmen? Und Bormann ist ein Bösewicht ohne Herz, Mitleid und Gefühl. In seiner Seele giebt es nur einen einzigen lichten Punkt; das ist die Liebe zu seinem Kinde.«
Fanny horchte auf.
»Er hat ein Kind?« fragte sie unter dem Einflusse eines plötzlich über sie kommenden Gedankens.
»Ja, einen hübschen, allerliebsten Jungen. Die Mutter kommt fast täglich mit ihm her, um ihren Mann zu sehen; auch dieser Letztere quält mich um die Erlaubniß, sein Kind sehen zu dürfen, doch versage ich diese Erlaubniß, um ihn für seine Verstocktheit zu bestrafen.«
»Wissen Sie, wo die Frau wohnt?«
»Ufergasse Neun, vier Treppen. Die Frau ist brav. Gott hat sie ganz unschuldig mit diesem Manne gestraft.«
»Wenn es nun die Rettung Bertrams, den Beweis seiner Unschuld gälte, würden Sie ihr da die Erlaubniß ertheilen, ihren Mann zu sehen?«
»Ah, ich errathe!« lächelte der Assessor. »Herzlich gern, mein gnädiges Fräulein! Sehen Sie, da kommen bereits die Wärter, um Bertram in sein neues Logis zu schaffen. Der Doctor hat es eilig; er will seine Unterlassungssünde schleunigst gut machen.«
»Darf ich mit?«
»Aufrichtig gestanden, ist es besser, den Kranken jetzt den Händen der Ärzte zu überlassen. Später aber steht Ihnen natürlich der Zutritt zu jeder Stunde frei.«
»Dann kommen Sie, Durchlaucht! Ich bin, soweit dies unter den Umstanden möglich ist, beruhigt.«
Als sie mit einander wieder in die Equipage stiegen, fragte der Fürst:
»Doch nun nach Hause?«
»Nein!« antwortete sie. »Ufergasse Nummer Neun.«
Er lächelte zustimmend und gab dem Diener den betreffenden Befehl. Die Equipage setzte sich nach der betreffenden Straße in Bewegung.
Wenn man in dem angegebenen Hause vier Treppen emporgestiegen war, sah man eine Thür, an welcher, zwar orthographisch richtig, aber keineswegs in Schönschrift auf einem angeklebten Zettel die Worte standen »Auguste Bormann, Plätterin.«
In dem Zimmer, zu welchem diese Thüre führte, gab es fast gar keine Möbels; es sah sehr ärmlich aus, aber der Blick des Besuchers wurde durch eine ausgesuchte Reinlichkeit und Ordnungsliebe erfreut. Es war sehr kalt in dem Raume. Im Ofen brannte kein Feuer. Das Geschäft des »Plättens« schien entweder gerade heute nicht in Betrieb zu sein oder überhaupt nicht gut zu gehen. Das Plätteisen stand feiernd auf dem Tische, an welchem auf dem einzigen vorhandenen Stuhle eine junge Frau saß, welche man trotz ihrer leidenden Züge hübsch nennen mußte.
Hunger und Kummer vereint hatten ihrem erblaßten Gesichte den Stempel des Leidens aufgedrückt. In ihrem Arme hielt sie einen Knaben, welcher sich in dem Alter befand, in welchem Kinder ihre drolligen Sprachstudien beginnen. Die Kleidung der Frau war sauber, aber keineswegs für die gegenwärtige Kälte eingerichtet. Sie hielt den Knaben, um ihn zu erwärmen, fest an sich gedrückt und hatte ein mehrfach ausgebessertes Tuch um ihn geschlungen. Er streckte ihr die beiden kleinen Händchen entgegen und fragte:
»Wo Papa?«
Ein tieftrauriges Lächeln ging über ihr Gesicht, als sie antwortete:
»Er ist fortgegangen. Ich werde fragen, wo er ist.«
»Komm wieder?«
»Ja, aber heute noch nicht.«
»Kalt, kalt!«
Sie wickelte ihn tiefer in das alte Tuch und preßte ihn fester an sich. Einige Thränen fielen aus ihren sich verdunkelnden Augen auf ihn. Der Knabe fühlte die erneute Wärme. Nun aber dieses eine Bedürfniß befriedigt war, machte sich sofort ein anderes geltend.
»Hunger! Essen!« sagte er.
Sie zog seufzend den Tischkasten auf und entnahm demselben ein Stück Brotrinde. Es war das Einzige, was sie noch hatte.
»Hier, mein Kind!« sagte sie mit zitternder Stimme. »Iß!«
Und als der Knabe die Rinde in das kleine Mäulchen schob, um mühsam daran zu saugen, rannen ihr die Thränen in verdoppelter Stärke über die Wangen. Sie hatte selbst Hunger, aber das fühlte sie jetzt nicht. Es war ihr nur bange um das Kind. Sie wußte ja nicht, woher sie etwas Weiteres nehmen solle.
Da ertönten draußen leichte Schritte, und es klopfte. Sie fuhr sich mit