Der verlorene Sohn - Der Fürst des Elends (Kriminalroman). Karl May

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Der verlorene Sohn - Der Fürst des Elends (Kriminalroman) - Karl May


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wurde begonnen. Der Vorsitzende machte das Auditorium mit dem vorliegenden Falle bekannt; der Angeklagte wurde vernommen und dann die einzelnen Zeugen. Gustav antwortete ruhig und ernst; es war ihm keine Aufregung, weder diejenige der Angst, noch die des Zornes anzumerken. Er gab der Wahrheit die Ehre, und mehr konnte er nicht.

      Unter den Zeugen wurde besonders Baronesse Alma scharf beobachtet. Es war ja von gewisser Seite die Behauptung aufgestellt worden, daß Brandt ihr heimlicher Geliebter gewesen sei und nur deshalb ihren Vater und Verlobten beseitigt habe, um desto ungehinderter in ihren Besitz zu gelangen. Sie wurde sogar über diesen Umstand vernommen, blieb aber bei der entschiedenen Behauptung, daß zwar ein brüderlich zärtliches, nicht aber ein sogenanntes Liebesverhältniß zwischen ihnen obgewaltet habe. Zuletzt noch befragt, ob sie den Angeklagten wirklich für des Mordes an dem Hauptmanne schuldig halte, erklärte sie, indem ihre Stimme zitterte und ihr schönes Angesicht die Bleiche des Todes angenommen hatte:

      »Ich weiß, welches Gewicht man auf meine Antwort legen wird. Mein Herz gebietet mir, Milde walten zu lassen; aber ich hörte den Wortwechsel zwischen ihm und dem Hauptmanne; ich sah den Todten liegen und die Flinte in der Hand des Angeklagten rauchen; ich bin überzeugt, daß er der Thäter ist. Ich darf nicht meinem Herzen, sondern ich muß meiner Pflicht und meinem Gewissen folgen. Gott wird mir verzeihen und gnädig sein, wenn ich mich irre!«

      Nach diesen Worten brach sie kraftlos zusammen.

      Eine tiefe, unheimliche Stille war eingetreten. Aller Augen hingen an Brandt, um zu sehen, welchen Eindruck diese Worte auf ihn gemacht hatten. Aber als dann der Vorsitzende fragte: »Was hat der Angeklagte dazu zu sagen?« da erhob sich Gustav und antwortete in festem aber mildem Tone:

      »Gott wird ihr verzeihen, denn sie spricht aus Ueberzeugung. Sie kann nicht wissen, was in der einen Minute, welche zwischen ihrem Gehen und ihrer erschrockenen Wiederkehr lag, geschehen ist. Ich zürne ihr nicht; ja, ich würde sie weniger achten können als jetzt, wenn sie anders gesprochen hätte.«

      Der Eindruck dieser Antwort war ein günstiger. Es ging ein Flüstern durch den Zuhörerraum, aus dem man die Worte entnahm:

      »So kann nur ein Unschuldiger sprechen!«

      Die Aussagen des Barons und der Zofe waren natürlich im höchsten Grade beschwerend. Sie warfen eine Last auf den Gefangenen, welche derselbe nicht abzuschütteln vermochte. So, wenn auch weniger, war es auch mit den Deponirungen der meisten anderen Zeugen.

      Jetzt erhob sich der Staatsanwalt. Seine Rede war scharf und schneidig wie das Schwerdt, dem der Angeklagte verfallen sollte. Als er geendet hatte, sagte sich das Auditorium, daß Brandt verloren sei.

      Dann begann der Verteidiger sein Plädoyer. Er erging sich nicht in kühnen Wortspielen, er appelirte nicht mit schön klingenden Worten an das Gefühl der Richter. Er sprach einfach und würdevoll. Der Hauptpunkt seiner Rede bestand in dem Versuche, nachzuweisen, daß sein Client nicht der Einzige sei, auf den der Verdacht zu fallen habe.

      »Wer hat,« fragte er, »der Comtesse von Helfenstein erwiesener Maßen eine fruchtlose Liebeserklärung gemacht? Wer hat sich dahin geschlichen gehabt, wo die beiden Schüsse fielen? Wer befand sich im Schlosse als Gast, so daß der Zutritt zum Barone ihm an jedem Augenblicke möglich war? Was beweist das Rasirmesser und der Schlüssel? Das erstere ist dem Angeklagten gestohlen und der letztere ihm unbemerkt in die Tasche gesteckt worden.«

      Bei dieser Auslassung richteten Aller Augen sich auf Baron Franz. Er war erbleicht, aber er schien gänzlich unberührt zu bleiben. Der Verteidiger fuhr fort:

      »Der, welchen ich meine, hatte Absicht auf die Baronesse. Um zu ihrer Hand zu gelangen, mußte er Diejenigen entfernen, welche ihm hinderlich waren – ich meine ihren Vater, ihren Verlobten und ihren Milchbruder, den er für ihren heimlich Geliebten hielt. Die Ersteren entfernte er, indem er sie tödtete, den Letzteren dadurch, daß er den Verdacht des Mordes auf ihn warf. Die Umstände kamen ihm dabei ganz trefflich zu statten, und er verstand es, sie mit teuflischer Schnelligkeit zu benutzen. Gegen ihn sprechen wenigstens ebenso viele Gründe und Beweise wie gegen den Angeklagten.«

      Der brave Mann stand der Wahrheit wirklich so nahe, wie er überzeugt war; aber er wurde von dem Staatsanwalte zurückgewiesen, welcher den Grund, der Brandt noch so spät in das Schloß getrieben hatte, gradezu unsinnig nannte. Der Ruf, welchen die Pascher ausgesprochen haben sollten, der Ruf der Rache »an den Helfensteiner«, war seiner Ansicht nach so unglücklich ersonnen, daß diese offenbare Lüge dem Angeklagten mehr Schaden als Nutzen bringen müsse.

      Nach diesem wurde das Resummee gezogen und dann der Angeklagte gefragt, ob er noch etwas zu bemerken habe. Er erhob sich und erklärte mit lauter, sicherer Stimme:

      »Meine Herren! Der Angriff gegen Denjenigen, welchen ich allein für schuldig halte, ist abgewiesen worden. Gott wird ihn richten. Ich stehe hier vor dem Allwissenden und Ihnen. Der Vater im Himmel, welcher die Gedanken seiner Kinder kennt, weiß, daß ich unschuldig bin. Sie, meine Herren, können dies nur ahnen und fühlen, aber Sie müssen nach dem Buchstaben des Gesetzes entscheiden. Dieses Gesetz steht über mir und Ihnen; aber wenn Sie mich zum Tode verurtheilen, begehen Sie einen Justizmord, so wahr ich hoffe, trotz eines durch das Schwert erlittenen Todes dennoch selig zu werden. Meine Herren, thun Sie jetzt Ihre Pflicht!«

      Hundert Augen standen unter Thränen. Gustav Brandt wurde abgeführt und die Geschworenen traten in das Berathungszimmer. Sie nahmen es mit diesem Falle so genau und ernst, wie er es verdiente; ihre Abwesenheit währte über zwei Stunden. Während dieser Zeit hatte sich von der Zuhörerschaft kein Mensch und von den Zeugen nur ein Einziger entfernt: Alma von Helfenstein, welcher es natürlich unmöglich war, länger zu bleiben.

      Endlich kehrten die Geschworenen zurück und der Angeklagte wurde wieder geholt. Er richtete sein Auge fest und forschend auf den Obmann der Ersteren, und dieser verkündigte, daß die Herren, obgleich sehr viel für den Angeklagten spreche, doch die überzeugendsten Gründe gegen ihn seien, ungern, aber nach bester Ueberzeugung ein »Schuldig« ausgesprochen hätten.

      Ein lautes Summen ging durch den Saal. Das hatte man kaum erwartet. Man vergaß, daß die Geschworenen nur die Schuldfrage zu beantworten haben; sie hatten nicht anders gekonnt.

      Brandt's Angesicht war starr und ausdruckslos. Er hatte gewußt, was kommen werde, ja kommen müsse. Aber nun es gekommen war, mußte er seine ganze Selbstbeherrschung zusammen nehmen, um zu verbergen, mit welcher Gewalt ihn der erwartete Schlag getroffen hatte.

      Auf Grund des Verdictes wurde verkündigt, daß er zum Tode durch das Schwerdt verurtheilt sei, daß man aber beschlossen habe, Seiner Majestät, dem Könige, ein Gesuch um Verwandlung der Todesstrafe zu unterbreiten.

      Diese Entscheidung war kaum ausgesprochen, so sprang der alte Förster von seinem Platze auf. Er war von dem Urtheile ebenso schwer betroffen worden wie sein Sohn; er hatte sich wie zerschmettert gefühlt; aber das, was er jetzt hörte, war ihm zu viel. Diese Zumuthung war seiner Anschauung nach zu stark. Darum rief er mit lauter Stimme:

      »Junge, Du bist unschuldig! Gott und mein Herz sprechen Dich frei. Ein Unschuldiger bedarf der Gnade nicht. Wer um Gnade nachsucht, giebt seine Schuld zu. Darum laß' Dich hinrichten, laß' Dich hinrichten! Das ist mir keine Schande. Aber Dich lebenslang im Zuchthause zu wissen, weiß Gott, das giebt mir und Deiner Mutter den augenblicklichen Tod!«

      Das war so schnell gekommen, daß der Vorsitzende gar keine Zeit gefunden hatte, ihm das Wort zu verbieten. Jetzt aber drehte sich der Alte selbst zum Gehen um und rief:

      »Leb wohl, Gustav! Vor Deinem Tode siehst Du mich und die Mutter noch einmal. Halte den Kopf hoch! Ich sterbe nicht eher, als bis ich den Schuldigen massacrirt habe!«

      Damit war der brave Forstmann zur Thür hinaus. Daß er wegen dieses herzhaften Verhaltens bestraft werden könne, kam ihm gar nicht bei.

      Der Verurtheilte wurde abgeführt, und die aufgeregte Zuhörerschaft verlief sich nur langsam aus dem Saale. Die vor dem Palaste versammelte Menge zerstreute sich lärmend, um das Urtheil in der Residenz zu verbreiten.

      Alma war nach ihrem Hotel gegangen, um das Ergebniß dort zu erwarten. Was sie in letzter


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