Der verlorene Sohn - Der Fürst des Elends (Kriminalroman). Karl May
Читать онлайн книгу.konnte nicht anders; ich konnte wahrhaftig nicht anders!« schluchzte sie. »Ich werde schuld sein, daß man ihn zum Tode verurtheilt; aber ich werde es wieder gut machen, indem ich sofort zum König eile und persönlich um Gnade für ihn bitte. Der Wagen wartet angespannt vor der Thür.«
Endlich, nach mehr als zwei langen, langen Stunden kam ihr Diener, den sie im Verhandlungssaale zurückgelassen hatte. Sie stürzte sich ihm förmlich entgegen, um zu fragen:
»Nun? Schnell, schnell! Was für ein Urtheil ist gefallen!«
»Schuldig!« antwortete der Mann, welcher selbst sehr tief ergriffen war.
»Schuldig!« schrie sie auf. »O, mein Gott! So ist er zum Tode verurtheilt worden?«
»Ja! Und gnädiges Fräulein, jedermann schwört darauf, daß er unschuldig ist. Sie müssen ihn retten!«
»Sofort, sofort! Der Wagen steht doch unten?«
»Ja, wie verabredet war.«
»So komm! Ich muß augenblicklich in das königliche Schloß!« – –
Gegen den Abend desselben Tages ging es bei dem Todtengräber von Helfenstein sehr hoch her. Es war sein Geburtstag, und da hatte seine Alte einen mächtigen Napfkuchen gebacken. Es war zwar wenig Butter und gar kein Zucker zu demselben verwendet worden, dafür aber war er gewaltig angebrannt, so daß die Hausfrau den Napf hatte zerbrechen müssen, um zu dem Kuchen zu kommen.
Sie saßen Beide mit einander am Fenster und blickten sehnsüchtig den Berg hinab. Der Gottesacker lag nämlich oben auf der Höhe und stieß an den dichten Wald. Ein Weg führte hinab in das Dorf, und auf diesem Wege mußten die beiden Männer, welche sie geladen hatten, heraufkommen – der Schmied und sein Sohn.
Der Todtengräber hatte einen Sohn, bei welchem der Schmied Pathe gestanden hatte. Dieser Sohn war Soldat gewesen und dann in einem Gasthöfchen der Residenz Hausknecht geworden, hatte sich aber seit längerer Zeit nach einer anderen Stelle umgesehen. Er wäre für sein Leben gern in ›königliche Dienste‹ getreten, wie er sich ausdrückte, um ›Staatsdienste‹ zu bezeichnen. Er war gewohnt, den Eltern alljährlich am Geburtstage des Vaters einen Schreibebrief zu senden. Dieser Brief war heut auch pünklich angekommen, da aber der Schreiber desselben keineswegs zu den ›Helden der Feder‹ gehörte, und weder der Todtengräber noch seine Frau gelernt hatten, egyptische Hieroglyphen zu entziffern, so hatten sie sich hierbei stets auf fremde Hilfe verlassen müssen.
Der Schmied war also der Gevatter der beiden alten Leute, stand aber zu dem Todtengräber auch noch in einem anderen, freilich sehr geheimen Verhältnisse. Der Letztere gehörte nämlich grad so wie der Erstere, zu den Schmugglern. In einem alten Erbbegräbnisse, welches in der hinteren Ecke des Kirchhofes lag, befand sich nämlich eine verborgene Niederlage von Schmuggelwaaren, von deren Vorhandensein nicht einmal die Todtengräberin eine Ahnung hatte. Darum kam der Schmied mit seinem Sohne oft herauf, um den Gevatter zu besuchen, und hatte auch gestern die Einladung erhalten, den Napfkuchen mit verzehren zu helfen.
Er hatte freundlichst zugesagt und versprochen, außer seinem Sohne auch noch ein Fläschchen echten, guten Nordhäuser mitzubringen. Ein Spielchen verstand sich von selbst.
Jetzt stand der Napfkuchen bereit; die Karte lag dabei und der Brief ebenso. Der Schmied konnte lesen; das verstand sich ja ganz von selbst, da er zugleich Schänkwirth war, und ihm oder seinem Sohne fiel also die Aufgabe zu, die Epistel des Hausknechtes zu enträthseln.
Lange hatten die Beiden vergeblich gewartet. Endlich erblickten sie die so sehr Ersehnten, welche mit langsamen, weiten Schritten dahergestiegen kamen. Sie wurden freundlich empfangen, und als der Wirth die Flasche aus der Tasche zog, war die Freude eine doppelte. Man setzte sich. Der Napfkuchen wurde angeschnitten. Zwar wollten beim Kauen die Zähne zusammenkleben, aber der Nordhäuser biß sie wieder auseinander. Da sah der Wirth den Brief liegen.
»Aus der Residenz?« fragte er.
»Ja,« nickte die Alte ganz selig.
»Schon gelesen?«
»Nein. Er ist ja noch zu.«
»Warum lest Ihr ihn denn nicht?«
»Hm!« schmunzelte sie. »Mein Alter hat seine Brille verlegt, und in meiner Nasenquetsche ist ein Glas zerbrochen. Der Glaser hatte kein passendes. Wer soll da lesen!«
»Na, so will ich Euch helfen. Soll ich ihn aufmachen und vorlesen?«
»Ja, sei doch so gut, Gevatter!«
Der Brief steckte in keinem Couverte; er bestand in einem dicken Bogen Notenpapier, welches zusammengelegt und mit Mehl und Wasser zugeklebt war. Der Schmied versuchte, das wieder auseinander zu bringen. Es gelang, und dann las er unter vielen Mühen folgendes:
»Libber Vater und treue Mudter!
Ich ergreife die zwei Väter, die ich gekaubt hawe, um Eich zu Schreiwen, das Ihr gesund und wohl Ich Eich winsche; Graht so auch wie ich!!! Eier Geburzdach ißt zwaar nur dem Vater seiner, abber mein Hertze freiet sich doch könichlig, weil ich itzt entlich könichliger Diehner pin!!!!!!!! Ich habbe nähmlig 1ne Stehle bekomm alls Schliesßer beim könichligen Landesgerricht, wo itzt der Brandts Gußdav zum Dohte verurrdeilt wärden soll. Ich habbe es kut; abber Ich mechde dem Wagdmeißter 1 Sahk Kahrdoffeln schänken. Schiekt Mir 1en Sahk Kahrdoffeln!!!! Die Stiffelbahndoffln gönnt Ihr behallden, weil Ich stähts inn Uhnifform seun muhst. Habt Ihr viel Dohdte bei Euch? Grießt und kißt mir die Garliene und die Kußtel. Wellge von den 2 Ich heurade, daß weuß Ich noch niecht, denn Sieh möggens Ruig abwahrten!!!! Bleubt gedrei eiern guhten Soohn unt Krißtjan!!!!«
Der Inhalt dieses Briefes brachte bei den Eltern natürlich große Freude hervor. Ihr Sohn Schließer beim königlichen Landesgerichte! Das mußte natürlich so bald wie möglich das ganze Dorf erfahren, aber sie konnten doch unmöglich die beiden Gäste verlassen!
»Schließer beim Landesgerichte!« meinte der Todtengräber. »Das muß ein bedeutender Posten sein!«
»Natürlich!« antwortete der Schmied, indem er seinem Sohne einen heimlichen Blick zuwarf.
»Da hat er wohl auch Brandts Gustav gesehen?«
»Wahrscheinlich. Vielleicht ist er sogar in der Verhandlung gewesen, welche heut abgehalten wird.«
»Dabei hätte ich auch sein mögen! Wie wohl das Urtheil ausfallen wird?«
»Er wird jedenfalls zum Tode verurtheilt.«
»Herrgott!« meinte die Alte, indem sie die Hände zusammenschlug. »Ich will aber wetten, daß er unschuldig ist!«
»Ich auch,« meinte ihr Mann, indem er zur Bekräftigung seiner Meinung einen Nordhäuser tödtete.
»Ich ebenso!« fügte der Schmied bei. »Ein Trost ist es, daß man ihn nicht hinrichten wird. Der König muß ihn begnadigen.«
»So kommt er wieder frei?«
»Bewahre! Wer zum Tode verurtheilt ist, kann nur zu lebenslänglichem Zuchthause begnadigt werden.«
»Herr Jesus! Ist das nicht noch schlimmer als der Tod?«
»Freilich, freilich! Aber wer weiß, was geschieht! Der Brandt ist kein Dummkopf, der sich ruhig einstecken läßt.«
Dabei warf er abermals einen heimlichen Blick auf seinen Sohn, den dieser mit einem leisen Nicken beantwortete. Dann fuhr er fort:
»Was hat denn da im Briefe Euer Christian mit den Stiefelpantoffeln gemeint?«
»Er hat sie hier gelassen, als er zum letzten Male auf Urlaub zu Hause war. Wir sollten sie ihm nachschicken. Aber weil er jetzt nun in großer Uniform geht – – hm, die Stiefelpantoffel müssen doch für einen königlichen Schließer nicht gut passen!«
»Das glaube ich auch. Und was meint er mit den Kartoffeln?«
»Hm! Das weiß ich selbst nicht. Er will sie dem Wachtmeister schenken. Vielleicht hat dieser ihm zu der Stelle verholfen.«