Der verlorene Sohn - Der Fürst des Elends (Kriminalroman). Karl May

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Der verlorene Sohn - Der Fürst des Elends (Kriminalroman) - Karl May


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sagte zu dem ihm ebenso langsam folgenden Brandt:

      »Ah, das giebt einen Hauptspaß. Kommen Sie! Wir werden verfolgen, anstatt verfolgt zu werden!«

      Er schritt rasch zur Locomotive. Dort angekommen, erblickte er den Stein, blickte suchend zwischen die Bäume und rief sodann mit seiner Stentorstimme, welche die anderen übertönte:

      »Einen Stein auf die Schienen gelegt? Donnerwetter! Wir konnten da Alle capores sein! Wer hat das gethan? Ah, Donnerwetter, steht dort nicht ein Kerl zwischen den Bäumen? Wart, Bursche, Du sollst herkommen!«

      Er sprang vorwärts, mit dem Eifer eines Menschen, welcher einen anderen fangen will.

      »Ja, dort steht er! Jetzt reißt er aus!«

      Mit diesen Worten eilte Brandt hinter ihm her. Alles, was Beine hatte, folgte ihnen; nur die Beamten blieben bei ihren Posten zurück. Der Stein wurde auf die Seite geschafft, und da kehrten auch die begeisterten Verfolger zurück, zunächst die Frauen und Kinder und sodann auch die männlichen Passagiere. Einer nach dem Anderen. Keiner aber hatte den Thäter gesehen.

      Der Zugführer fluchte und wetterte; es war weit über eine Viertelstunde Zeit versäumt worden. Das mußte schleunigst wieder eingeholt werden, um die fahrplanmäßigen Minuten einhalten zu können.

      »Einsteigen, schnell einsteigen!« ertönte es aus den Kehlen der Schaffner, denen auch nichts an einer Verspätung lag.

      Die Wagen füllten sich wieder, kein Passagier war mehr außerhalb derselben zu sehen. Die Thüren wurden zugeschlagen, ohne daß man sich genau überzeugte, ob ein jeder in sein richtiges Coupee zurückgekehrt sei. Der Pfiff der Locomotive erscholl, der Zugführer antwortete.

      »Fertig!« ertönte das Commando.

      Die Räder setzten sich langsam wieder in Bewegung, drehten sich schneller und schneller um ihre Achsen, und bald hatte der Zug eine gesteigertere Geschwindigkeit als vorher, ehe er zum Halten gezwungen wurde. Der Stein des Anstoßes war überwunden.

      An den nächsten Stationen kamen und gingen die Passagiere. Als der Zug den letzten Anhaltepunkt vor Felsenberg hinter sich hatte, kletterte der Schaffner am Trittbrete daher, öffnete eins der Fenster und rief hinein:

      »Billets nach Felsenberg!«

      Er wußte genau, daß ein Beamter mit einem Gefangenen hier Billets nach der Zuchthausstadt gehabt hatte und daß bei Beiden ein Herr gesessen hatte, welcher noch weiter, nach Blankenwerda wollte. Aber keine Antwort ertönte. Er steckte den Kopf zum Fenster hinein und sah – einen gefesselten und geknebelten Menschen auf der Bank liegen. Er wollte während des Fahrens die Thür öffnen, aber da ertönte bereits der Signalpfiff. Der Zug hatte Felsenberg erreicht. Als er anhielt, machte der Schaffner sofortige Meldung. Alles eilte herbei. Man fand – einen Beamten, welcher einen Gefangenen nach dem Zuchthause hatte bringen sollen, jetzt aber selbst gefesselt, aus dem Coupee gehoben wurde. –

      Als der Schmied und Gustav Brandt den Wald erreichten, waren ihnen die Anderen gefolgt, aber nicht mit der gleichen Schnelligkeit. Bereits nach drei Minuten blieb Wolf stehen, stemmte die kräftigen Fäuste in die Seiten und stieß ein lautes Lachen aus.

      »Donnerwetter!« rief er aus. »War das nicht ein wahrer Geniestreich, mein Lieber? Den macht uns nicht sogleich ein Anderer nach! Sind Sie außer Athem?«

      »Ganz und gar nicht.«

      »Nun, wir haben allerdings auch keine Eile. Ehe man uns findet, muß man den Wald so studiren, wie ich ihn studirt habe.«

      Da hielt Brandt den Sprecher fest und sagte:

      »Hier meine Hand! Vor allen Dingen meinen Dank für das Wagniß, dem ich meine Freiheit verdanke!«

      »Schon gut, schon gut! Es ist nicht so sehr schlimm. Man wagt oft noch ganz andere Dinge! Der beste Dank ist der, daß Sie jetzt und in alle Ewigkeit verschweigen, wer es eigentlich ist, der Sie aus der Tinte geholt hat.«

      »Aber was hat Sie denn eigentlich veranlaßt, mich zu befreien?«

      Da nickte ihm der Schmied treuherzig ehrlich zu und antwortete:

      »Das will ich Ihnen sagen. Ihr Vater ist ein Ehrenmann und Sie sind unschuldig. Das ist Grund genug!«

      »Woher wissen Sie denn, daß ich unschuldig bin?« fragte Gustav, aufmerksam werdend.

      »O, das wissen wir ja Alle! Nur eine Verkettung der unglückseligsten Umstände konnte Sie auf die Anklagebank bringen.«

      »Sie sind ein braver Mann! Woher aber wußten Sie, daß Sie mich auf dem Bahnhofe treffen würden?«

      »Vom Sohne unseres Todtengräbers, welcher Schließer ist.«

      »Ah, so haben Sie vielleicht auch erfahren, wohin man mich heut bringen wollte?«

      »Natürlich weiß ich das! Ins Zuchthaus sollte es gehen. Der König hat Sie aus eigenem Antriebe zu lebenslänglichem Kerker begnadigt.«

      »Mein Gott, was stand mir da bevor! Ich hätte mich getödtet! Ich habe Ihnen nicht nur die Freiheit, sondern auch das Leben zu verdanken! Aber, Sie sprachen ja von einem Zweiten, welcher bei meiner Rettung mit geholfen hat?«

      »Ja. Sie sollen ihn sehen. Kommen Sie!«

      Er verdoppelte seine Schritte, so daß Brandt ihm kaum zu folgen vermochte. Als sie bei der Eiche am Dachsberge ankamen, sahen sie den Sohn des Schmiedes aus dem Busch gekrochen kommen. Er sowohl wie sein Vater legten ihre Umhüllungen ab, wuschen sich in einem nahen Wasser und legten dann ihre gewöhnliche Kleidung an.

      Natürlich gab es unterdessen ein Fragen und Erkundigen, Antworten und Erklären, welches kein Ende nehmen wollte. Dem machte der Schmied einen Beschluß durch die Frage:

      »Die Hauptsache ist, was gedenken Sie nun zu thun?«

      »Natürlich muß ich schleunigst außer Landes!«

      »Gut. Verkleidung haben wir mitgebracht, einen Paß auf den Namen meines Sohnes hier auch, und Geld – hm, es ist nicht viel, aber zweihundert Thaler habe ich beisammen.«

      Da streckte Gustav ihm die beiden Hände entgegen und sagte:

      »Ihr braven Leute! Wie soll ich Euch danken! Ich weiß wahrhaftig nicht, wie ich zu solcher Freundschaft und zu solchen Opfern komme! Das erstere nehme ich an, die Verkleidung und den Paß, das letztere aber weise ich zurück. Für Geld wird mein Vater sorgen.«

      »Sie wollen zum Förster?«

      »Ja, natürlich!«

      »Heut? Sogleich?«

      »Ja. Und wenn es mein Leben gelten sollte, ich gehe nicht eher fort, als bis ich von den Eltern Abschied genommen habe.«

      »Dachte ich es mir doch! Wissen Sie auch, was Sie wagen?«

      »Ja. Sobald es ruchbar wird, daß ich entflohen bin, wird man telegraphiren, das Forsthaus zu bewachen. Aber ich werde es gar nicht betreten. Sie werden die Güte haben, Vater und Mutter heut Abend an einen Ort zu bestellen, wo man mich nicht vermuthen kann.«

      »Nein, das werde ich nicht,« meinte der Schmied.

      »Warum nicht? Wollen Sie Ihr Werk nicht krönen?«

      »Das ist gar nicht nöthig. Wer wird denn Versteckens spielen, wenn man gar kein Versteck braucht? Sie werden frei und offen zu Ihren Eltern gehen, meinetwegen durch ein ganzes Heer von Gensdarmen hindurch, und Niemand soll Sie erkennen.«

      »Wird die Verkleidung so gut sein?«

      »Das will ich meinen. Gieb einmal her.«

      Sein Sohn brachte ein Bündel aus den Büschen heraus. Es enthielt einen Anzug, welcher ganz vortrefflich für Gustav paßte. Eine hellblonde Perrücke, ein eben solcher Schnurr- und Backenbart, Tusche, Schminke und Puder – kurz und gut, als der Schmied ihn eine halbe Stunde unter den Händen gehabt hatte, hielt er ihm einen kleinen Taschenspiegel vor und fragte:

      »Hier! Sehen Sie hinein! Kennen Sie den Kerl?«


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