Der verlorene Sohn - Der Fürst des Elends (Kriminalroman). Karl May

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Der verlorene Sohn - Der Fürst des Elends (Kriminalroman) - Karl May


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Tag hat. Soll ich den Lohnkutscher schicken?«

      »Ja! Sogleich! Bitte!« antwortete sie.

      Sie fühlte sich so stark, so wohl, so unternehmend, wie in ihrem ganzen Leben noch nicht. Sie umarmte die Inspectorin und sagte:

      »Ihr Gemahl ist ein Engel! Adieu! Ich muß eilen! Aber wir sehen uns bald wieder!«

      Ihr Diener war auf kurze Zeit nach Schloß Hirschenau gegangen, um sich die Brandstelle zu besehen; sie brauchte sich mit ihm nicht zu befassen. Sie fand den Kutscher bereits ihrer wartend und sagte ihm den Namen eines benachbarten Dorfes. Erst unterwegs, als die Wege auseinander gingen, bemerkte sie ihm, daß sie sich anders besonnen habe und zunächst nach der Helfensteiner Försterei müsse.

      Der Weg führte durch den Wald und war so schmal, daß sich stellenweise nicht zwei Wagen ausweichen konnten. Gerade an einer solchen Stelle begegnete ihr ein Reiter. Er drängte sein Pferd ganz an den Rand des Hohlweges, und ihr Geschirr kam so nahe an ihn heran, daß die beiden Pferde in einen kurzen Zwist gerieten. Der Kutscher hielt an.

      Der Reiter mochte etwas über dreißig zählen, war zwar nicht elegant, aber doch sehr anständig gekleidet und hatte etwas Fremdländisches. Er griff an seinen Hut und sagte:

      »Entschuldigung, mein Fräulein, daß ich Ihre Reise unterbreche. Ich habe mich im Walde verirrt. Wo komme ich nach der nächsten Bahnstation?«

      »Sie liegt da, woher ich komme,« antwortete sie, den eigenthümlichen Wohlklang seines Dialectes bewundernd. Er sprach das Deutsche wie ein Italiener.

      »Und wohin führt der Weg, den ich komme? Ich stieß von der Seite her auf ihn.«

      »Nach einem einsamen Forsthause.«

      »Nach welchem Orte gehört dasselbe?«

      »Nach Helfenstein.«

      »Ah, ist der Förster ein alter Herr mit grauem Schnurrbart?«

      »Ja.«

      »Ich traf ihn heute früh im Walde und vergaß, ihn um Etwas zu fragen. Würden Sie mir erlauben, Ihrem Kutscher – aber Sie fahren wohl gar nicht nach dem Forsthause?«

      »O doch! Ich fahre direct hin. Wenn ich Ihnen einen Dienst erweisen kann, so bin ich gern bereit dazu.«

      »O bitte, nur eine Zeile im Couvert dem Förster durch den Kutscher hier übergeben zu lassen!«

      »Ich selbst werde es ihm übermitteln, mein Herr!«

      »Dann erlauben Sie!«

      Er zog ein Täschchen hervor, schrieb einige Worte auf eine der darin enthaltenen Karten, steckte dieselbe in ein dazu passendes, kleines Couvert, welches sich bei den Karten befand, verschloß dasselbe und gab es ihr.

      »So, meine Dame! Darf ich danken?«

      Er ergriff das Händchen, welches sein Couvert an sich genommen hatte, bog sich so weit wie möglich zum Wagen nieder und zog es an seine Lippen. Er küßte die Hand ein, zwei, drei Male, drängte dann sein Pferd vorüber und trabte davon.

      Ihr war gar eigenthümlich zu Muthe geworden. Wie konnte dieser Fremdling es wagen, dreimal zu küssen?

      Der Kutscher hatte jetzt Platz und fuhr weiter. Als das Geschirr bei dem Forsthause anhielt, trat der Förster aus der Thür. Er sah gar nicht so aus wie ein Mann, der so Schlimmes erlebt hat und dem ein neues Unheil droht, so heiter sah er aus. Er half ihr beim Aussteigen. Sie gab ihm ihre beiden Hände und sah ihm bittend in die Augen, indem in die ihrigen die Tränen traten.

      Er nickte ihr gütig zu und sagte:

      »Ich weiß; ich weiß. Kommen Sie nur herein, Baronesse!«

      Drin kam ihr auch die Försterin entgegen, um ihr die Hand zu geben. Wie oft war sie in diesem Hause, in diesem Stübchen gewesen, und welches Glück hatte – aber zu solchen Reflexionen gab es jetzt keine Zeit! Sie wendete sich an die beiden Alten und sagte:

      »Papa und Mama Brandt, ich komme, um Ihnen eine Nachricht zu bringen, welche zugleich gut und auch schlimm ist. Nämlich Gustav ist entflohen, und man wird kommen, ihn hier zu suchen!«

      Das Ehepaar that gar nicht so erschrocken, wie sie es erwartet hatte. Der Förster antwortete einfach:

      »Sie mögen nur immer kommen!«

      »So haben Sie wohl gar keine Angst? Ich bin erst vor Schreck halb todt gewesen, und dann aber sogleich herbei geeilt, um Sie zu warnen, damit er nicht hier ergriffen wird!«

      »Mein Kind, wie können Sie erschrecken! Sie haben ihn ja für schuldig gehalten, und ein Schuldiger verdient kein Mitleid!«

      Da warf sie sich der Försterin um den Hals und schluchzte:

      »Vergieb mir! Oh, ich war betört; ich war bös, sehr bös! Aber ich sehe ein, daß ich unrecht gehandelt habe. Ich habe eingesehen, daß er unschuldig ist und daß ich ihn in das Verderben stürzte.«

      »Nun, so schlimm ist es denn doch wohl nicht!«

      »O, der König sagte es auch!«

      »Er wird wohl seine Absicht dabei gehabt haben. Sicher ist, daß der Verdacht auch ohne Sie auf Gustav gefallen wäre.«

      »O, ich war so froh, als ich hörte, daß es ihm gelungen ist, zu entkommen. Er wird sicherlich zuerst die Eltern aufsuchen, und dann, ja dann ist er verloren!«

      »Das wollen wir abwarten! Aber was ist das in Ihrer Hand?«

      »Ich begegnete einem Reiter, einem Fremden, welcher mich bat, dieses Couvert dem Förster von Helfenstein zu geben. Der Mensch wagte es, mir dreimal die Hand zu küssen!«

      Die beiden Leute lächelten einander an. Der Förster nahm das Couvert, öffnete es, warf einen Blick auf die Karte und gab sie ihr dann zurück.

      »Lesen Sie selbst!« sagte er.

      Sie las. Auf ihrem Gesichte wechselte die Röthe mit der Blässe. Sie umarmte die Försterin abermals und rief jubelnd:

      »Er war es, er? Oh, so werden sie ihn nicht erkennen! Er wird entkommen. Und er hat mir verziehen, verziehen, verziehen!«

      Nun ging es an ein Erklären. Auf der Karte hatte gestanden:

      »Verzeiht ihr so wie ich ihr verzeihe! Sie war und bleibt mein einziger, mein lieber, süßer Sonnenstrahl!«

      Zweites Kapitel

       Das Opfer des Wüstlings

       Inhaltsverzeichnis

      Der gewaltigste der Dichter und Schriftsteller ist – – das Leben. Es ist weder von Shakespeare, Milton und Scott, von Dante, Tasso und Ariost, noch von Göthe, Schiller und Anderen erreicht oder gar übertroffen worden. Das Leben schreibt mir diamantenem Griffel; seine Schrift ist unvergänglich, seine Logik unbestechlich, seine Charakteristik von unveränderbarer Treue, seine Schilderung hinreißend und von herzergreifender Wahrheit. Was es darstellt, ist wirklich geschehen; die Personen, welche es handelnd aufführt, haben wirklich gelebt oder leben noch. Es giebt keinen Redacteur, keinen Kritiker, keine Censur, überhaupt keine irdische Feder, welcher es erlaubt wäre, von dem Manuscripte der wirklichen Thatsachen auch nur einen Buchstaben zu streichen.

      Das Leben arbeitet in unendlicher Rastlosigkeit, und nur, wenn der Blick des Sterblichen, von der Colossalität des Allgemeinen überwältigt, sich auf das Besondere und Einzelne richtet, kann es zuweilen scheinen, als ob die Geschichtsschreiberin der Welt-und Erdenentwicklung einmal die Feder ermüdet aus der Hand gelegt habe. Pausen scheinen eingetreten und Gedankenstriche gemacht worden zu sein. Personen sind verschwunden und Ereignisse in Stillstand versunken. –

      Dem ist aber nicht so! Ueber eine kleine Weile – und solche kurze Pausen können im Zeitengange Jahrzehnte und Jahrhunderte bedeuten – entwickeln sich aus den scheinbaren Gedankenstrichen Buchstaben und Worte, welche in deutlicher Lesbarkeit


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