Der verlorene Sohn - Der Fürst des Elends (Kriminalroman). Karl May

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Der verlorene Sohn - Der Fürst des Elends (Kriminalroman) - Karl May


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schlug das Buch auf und las den Vers, den er zuerst erblickte:

      »Ich will Dich auf den Händen tragen

      Und Dir mein ganzes Leben weih'n.

      Ich will in Deinen Erdentagen

      Dir stets ein treuer Engel sein!«

      Bei dem Klange dieser Worte warf das schöne Mädchen einen Blick des Stolzes auf den Pflegebruder. Herr Seidelmann aber legte das Buch wieder fort und sagte:

      »Abermals ein Liebesgedicht! Das werden Sie wohl dieses Mal nicht bestreiten.«

      »Nein,« antwortete Robert ruhig:

      »Und solche Sachen lesen Sie?«

      »Sogar sehr gern.«

      »Das glaube ich. Wer mit einem jungen Mädchen Tag und Nacht allein im Zimmer steckt, der liest natürlich sehr gern Liebeslieder. Aber diese Lieder werden zu Thaten, zu unzüchtigen, verbrecherischen Thaten, welche ich –«

      »Herr Vorsteher!« unterbrach ihn Robert drohend. »Sie kommen an Stelle des Hauswirthes zu uns; wir müssen Ihre Gegenwart dulden. Außerdem ehre ich Ihr Amt in Ihrer Person, aber Beleidigungen wie diejenigen, welche Sie heut aussprachen, werde ich niemals dulden!«

      Da warf ihm der fromme Mann einen giftigen Blick zu und antwortete:

      »Haben Sie Bettstellen?«

      »Nein!« antwortete Robert, ganz verblüfft über diese Frage. »Vater hat sie aus Noth verkaufen müssen.«

      »Wie schläft die Familie?«

      »Vater und ich hier auf Stroh und Marie mit den kleinen Geschwistern draußen auf den Matrazen.«

      »Das glaube, wer da will, nur ich nicht! Sie sind vor zwei Wochen um eine Unterstützung für Ihren kranken Vater eingekommen. Das Armenamt hat mich beauftragt, den Fall zu untersuchen. Ich finde keineswegs, daß Sie noch unterstützungsbedürftig sind. Sie lesen Liebeslieder, noch dazu von einem Türken, denn der Verfasser heißt Hadschi Omanah, ein muhamedanischer Name; Sie schreiben sogar die Liebeslieder eines Menschen ab, welcher als Hochverräter landesflüchtig werden mußte; die ganze Familie lebt und schläft in einer unzüchtigen Gemeinschaft durcheinander; ich werde mit Stolz und –«

      »Herr Seidelmann, sind Sie fertig!« rief Robert drohend, indem er auf ihn zutrat.

      »Jawohl!« antwortete der Gefragte, sich furchtsam zurückziehend. »Die Unterstützung erhalten Sie nicht, und wenn bis morgen Abend die Miethe nicht bezahlt ist, werden Sie auf die Straße geworfen, Sie Primaner in Liebesliedern!«

      Damit verließ er in höchster Eile die Wohnung.

      Während er die Treppe hinabschritt, vernahm er unten im Parterre einen lebhaften Wortwechsel. Er blieb unten auf der letzten Stufe stehen, um zu lauschen.

      Da unten gab es nämlich nicht weniger Armuth als oben im dritten Stockwerke. In einem naßkalten Lokale wohnte ein Holzhacker mit seiner Frau, welche lange Jahre für die Leute gewaschen hatte, jetzt aber an der Gicht so darnieder lag, daß sie die Extremitäten kaum mehr bewegen konnte. Dazu war das große Unglück gekommen, daß der Mann sich in das Bein gehackt hatte und nun auch nichts zu verdienen vermochte. Die Wunde heilte schwer zu, um die jetzige Jahreszeit um so schwerer; gelebt wollte sein, so kam es, daß der Hunger bald der Gast der sonst braven Familie wurde.

      Die Miethe konnte nicht bezahlt werden. Der Vorsteher als Armenpfleger versicherte stets, daß erst noch Andere zu versorgen seien, und hatte ihnen nur den Vorschlag machen können, ihre Sorgen dadurch zu erleichtern, daß er ihnen den einen ihrer zwei Knaben abnehmen wollte.

      Das war ein Bild von einem Jungen. Ein fremder Herr, der ihn – scheinbar zufällig – gesehen hatte, war ganz närrisch auf ihn gewesen. Die Eltern konnten sich nicht von ihm trennen.

      In letzter Zeit war die Noth so groß geworden, daß der Mann sich hingesetzt und Hampelmänner geschnitzt hatte, welche sein ältestes Töchterchen auf dem Christmarkte verkaufen sollte. Heute nun saßen sie und lauerten mit Schmerzen auf die Heimkehr der Kleinen. Ein paar Pfennige brachte sie doch wohl mit!

      Da endlich ging die Thür auf, und sie kam; aber hinter ihr erschien die Gestalt eines Polizisten. Die Eltern erschraken, und die Kinder versteckten sich.

      »Wohnt hier der Holzhacker Schubert?« fragte der Polizist.

      »Ja,« wurde ihm geantwortet.

      »Dieses Mädchen ist Eure Tochter?«

      »Ja, meine Älteste.«

      »Ihr habt sie auf den Markt betteln geschickt!«

      »Nein, Herr. Das ist mir nicht eingefallen! Sie hat nur einige Hampelmänner verkaufen sollen.«

      »Das macht doch nur uns nicht weiß! Sie hat gebettelt; sie muß da eine ungeheure Gewandtheit besitzen, denn sie hat volle drei Thaler zusammengefochten. Darum wurde sie arretirt. Das Geld und die famosen Hampelmänner sind natürlich confiscirt worden. Die kleine Landstreicherin, die übrigens ganz frech geleugnet hat, daß sie betteln kann, bringe ich Euch hiermit; die Strafverfügung aber erhaltet Ihr morgen.«

      Er entfernte sich. Die Eltern hatten ihm gar nicht zu antworten vermocht, so starr waren sie vor Schreck und Erstaunen. Sie fragten das Kind, welches weinend Alles erzählte. Sie hätten gern die Karte gehabt, auf weicher der Name der Wohlthäterin gestanden hatte, aber die war dem Kinde, als es von dem Polizisten so scharf angeredet wurde, aus der Hand gefallen.

      Da trat Herr Seidelmann ein. Er grüßte nach seiner Weise und sagte dann im Tone des Beileides:

      »Ich begegnete einem Polizisten, welcher bei Euch gewesen ist. Was ist denn geschehen?«

      Der Holzhacker erzählte ihm Alles.

      »Das habt Ihr davon,« meinte der Fromme, »daß Ihr den Rath Eures Seelsorgers verachtet. Hättet Ihr mir den Knaben überlassen. Der Künstler, welcher ihn wieder zu einem Künstler erziehen wollte, hätte Euch zehn Thaler geschenkt, und Ihr hättet nicht nöthig gehabt, das Mädchen auf den Markt zu schicken.«

      »Zehn Thaler?« fragte die Waschfrau. »Höre, Mann!«

      »Zehn Thaler?« wiederholte der Holzhacker. »Davon haben Sie uns gar nichts gesagt!«

      »So habt Ihr es überhört. Nun kommt morgen die Polizeistrafe, die Ihr zahlen müßt, wenn Ihr nicht sofort ausgepfändet werden wollt, der Miethzins dazu – hm!«

      Er griff in die Tasche, zog eine Zuckerdüte hervor und gab sie dem hübschen, kräftig gebauten Knaben, welcher wohl vier Jahre alt sein mochte.

      »Das ist von dem Onkel, der Dich so lieb hat!« sagte er dabei. »Möchtest Du einmal zu ihm kommen?«

      »Ja,« antwortete natürlich der Junge, indem er ein Stück des Inhaltes in den Mund schob.

      »Nun, was sagt Ihr dazu?«

      Die Eltern blickten einander fragend an. Kein Brod, kein Holz, keine Kohlen, morgen Hauszins und Polizeistrafe! Das Kind zu einem großen Künstler, bei dem es jedenfalls besser aufgehoben war als bei ihnen! Und dagegen zehn blanke Thaler!

      »Was denkst Du, Frau?« fragte der Mann.

      »Mach', was Du willst!«

      »Herr Seidelmann, wann würden wir das Geld bekommen?«

      »Sogleich!«

      »Wann wird der Junge geholt?«

      »Noch heute Abend. Ich schicke mein Dienstmädchen her.«

      »Na, dann in Gottes Namen. Der Junge ist uns zwar an's Herz gewachsen, aber die Noth ist groß; er wird nicht länger zu hungern brauchen, und ich bin ja überzeugt, daß Sie uns nur einen Rath geben, der gut ist. Es kann zu seinem Glücke sein, und unser Kind bleibt er doch!«

      »Das ist sehr verständig von Euch gedacht, und ich danke Gott, daß er Euer Herz zu diesem Entschlusse gelenkt hat. Schreiben können Sie doch, Schubert?«

      »Leidlich.«


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