Der verlorene Sohn - Der Fürst des Elends (Kriminalroman). Karl May

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Der verlorene Sohn - Der Fürst des Elends (Kriminalroman) - Karl May


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Hier ist das Geld.«

      Er bezahlte die zehn Thaler und ging, von den Segenswünschen der Eltern begleitet. Auf der Gasse angekommen, eilte er sogleich zur nächsten Droschkenstation und fuhr – nach dem Circus, dessen Besitzer zufälliger Weise auch sofort zu sprechen war.

      »Nun,« fragte dieser. »Haben Sie es den Leuten vorgestellt, Herr Seidelmann?«

      »Ja, aber sie bedenken sich noch immer.«

      »Was giebt es da zu bedenken! Ich zahle die sechzig Thaler, und sie geben mir dafür den Jungen!«

      »Hm! Wenn Sie stets hier blieben, damit die Eltern das Kind zuweilen sehen könnten.«

      »Das geht nicht; ich besuche alle Haupt- und größeren Städte. Und übrigens ist es am Besten, man hat die Eltern nicht in der Nähe. Aus den Augen, aus dem Sinn!«

      »Da glaube ich nicht, daß sie darauf eingehen.«

      »Das wäre mir fatal! Ich habe noch nie so einen prächtigen Jungen gesehen! Er ist geradezu zum Kunstreiter geboren. Ich brauche unbedingt so einen Knaben. Ein Junge, der Etwas leistet, zieht die Leute herbei. Leider sind mir in fünf Jahren drei solche Jungens verunglückt. Der Eine brach das Genick, und die beiden Anderen stürzten und starben etwas später.«

      »Das dürften diese braven Leute nicht wissen. Uebrigens ist ihnen auch die Summe, welche Sie bieten, zu niedrig.«

      »Sechzig Thaler? Wieviel verlangen sie denn?«

      »Gerade das Doppelte.«

      »Das ist viel, sehr viel! Wie nun, wenn mir der Junge gleich beim ersten Male den Hals bricht?«

      »Das steht doch nicht zu erwarten. Diese Leute stecken in Noth, sonst würden sie den Jungen gar nicht hergeben, selbst dann nicht, wenn ich als Armenpfleger ihnen zureden wollte. Geben sie ihn her, so dann nur gegen eine Summe, welche genügend ist, ihre Noth wenigstens auf einige Zeit zu lindern.«

      »Aber gleich das Doppelte!«

      »Ich kann weder den Eltern, noch Ihnen zu- oder abraten. Ich habe meinen Auftrag ausgerichtet. Sie nehmen ihn nicht an, und so ist es wohl Gottes Wille, daß der Knabe bei den Eltern bleibt.«

      Er machte Miene, zu gehen; der Direktor ließ ihn aber nicht fort.

      »Wären denn nicht hundert Thaler genügend?« fragte er.

      »Es sind gerade hundertzwanzig, welche die Eltern brauchen!«

      »Hm! Der Junge ist bildhübsch! Ich kann mir Etwas mit ihm verdienen!«

      »Das ist sicher! Bedenken Sie, daß er gezwungen ist, für Sie zu arbeiten, bis er mündig ist.«

      »Das habe ich auch zu rechnen. Na, Herr Seidelmann, so mag es sein! Ich zahle die hundertzwanzig Thaler!«

      »Wann?«

      »Das kommt darauf an, wenn ich den Jungen erhalte.«

      »Ich werde mein Möglichstes tun, und denke, daß ich ihn Ihnen noch heute schicken kann, und zwar mit den nöthigen Papieren.«

      »So gebe ich jetzt sechzig und die anderen sechzig dem Boten, der ihn bringt.«

      »Gut! Abgemacht! Diesen Knaben vom Hungern erlöst, ist ein Werk, dessen sich die Engel freuen werden!« –

      Vorhin, als Herr Seidelmann so schnell von Bertrams fortgegangen war, hatten die beiden Geschwister einander eine Weile stumm angesehen. Dann hatte Marie ihm die Hand hingehalten und gesagt:

      »Laß ihn, lieber Robert! Dieser Heuchler ist nicht werth, daß wir nur an ihn denken, viel weniger aber uns über ihn ärgern!«

      »So denkst Du als Mädchen! Er hat uns fürchterlich beleidigt!«

      »Vergiß das für heute! Komm, setze Dich, wir wollen weiter arbeiten!«

      Er antwortete nicht. Es stürmte in ihm. Um sich zu beruhigen, schritt er einige Male im Zimmer auf und ab. Dann, als er, sich die Hände reibend, wieder zur Feder greifen wollte, zupfte ihn jemand am Rockschoße. Er drehte sich um. Es war ein kleines Schwesterchen.

      »Lieber Robert, gib mir ein Stückchen Brot!« bat es schluchzend. »Ich kann es nicht mehr aushalten. Es tut so weh dahier!«

      Dabei legte das Kind das Händchen auf den Leib.

      Er stand wieder von seinem Stuhle auf. Er wollte sich beherrschen, brach aber doch in ein lautes Schluchzen aus. Als das die Kleinen hörten, stimmten sie weinend ein. Dazu fiel der Kranke in ein Husten, welches ihn zu zersprengen drohte.

      »Marie, es geht nicht; es geht wirklich nicht!« sagte Robert. »Die Geschwister können nicht bis morgen warten!«

      »Aber wie wollen wir helfen?« fragte sie unter Thränen.

      »Ich weiß es, und ich thue es!«

      Bei diesen Worten ging er zum Koffer, um ihn zu öffnen. Sie eilte ihm nach und ergriff ihn beim Arme.

      »Du meinst Deine Kette? Nein, die darfst Du nicht verkaufen. Sie ist das Einzige, was Du von Deinen Eltern hast. Nur durch die Kette kann es Dir einmal gelingen, sie zu finden.«

      »Ich werde sie nicht verkaufen, sondern nur versetzen.«

      »Und wenn Du sie dann nicht einlösen kannst?«

      »Das will ich doch nicht hoffen!«

      Da trat sie näher zu ihm heran, legte den Arm um ihn, blickte bittend zu ihm empor und fragte:

      »Möchtest Du es denn nicht noch einmal wagen, lieber Robert – ja!«

      »Was?« fragte er.

      »Zum Buchhändler zu gehen?«

      »Mein Gott! Es geht nicht! Ich mußte bereits das letzte Mal tief gedehmüthigt das Local verlassen.«

      »Aber dennoch noch einmal! Bitte, bitte! Mir zu Liebe!«

      Er blickte auf sie nieder, sah in ihre thränenumflorten, flehenden Augen und konnte nicht widerstehen.

      »Nicht wahr, liebe Marie, auch Du hast recht großen Hunger?« fragte er.

      »Du nicht?«

      »Sehr, sehr!«

      »Und ich auch,« gestand sie.

      Dabei legte sie ihr Köpfchen an seine Brust und weinte bitterlich, so bitterlich, wie er es gar nicht für möglich gehalten hätte, daß ein Mensch weinen könne. Er zog sie an sich, küßte ihr die Thränen von den Augen und sagte:

      »Sei ruhig, Marie! Du sollst essen, Du und Ihr alle. Ich gehe zum Buchhändler.«

      »Und wenn er Dich wieder fortschickt?«

      »Nun, ich nehme die Kette mit. Brod muß ich bringen. Erhalte ich dort nichts, so gehe ich doch noch zum Pfandleiher.«

      »So thue es, o Gott, es ist das Einzige, was Du besitzest. Wenn die Kleinen es doch bis morgen aushalten könnten, wo wir dann Geld haben! Aber es geht nicht! Und der arme Vater hat auch nichts, weder Medizin noch Essen.«

      »Du siehst also ein, daß ich unbedingt Rath schaffen muß!«

      »Ja. Aber verleihe die Kette nur nicht zu theuer, sonst wird uns das Einlösen zu schwer.«

      »Keine Sorge! Diese Juden geben selbst gern wenig!«

      Er öffnete den Koffer. Dieser enthielt einige Wäschestücke. Dabei lag ein kleines Kästchen, in welchem sich der Gegenstand ihrer Sorge und zugleich ihrer Hoffnung befand. Es war ein dünnes, außerordentlich minutios gehaltenes Halskettchen von altmodischer Arbeit. In der Mitte hing ein Herz mit einer Freiherrnkrone und den drei Buchstaben R.v.H. Aber was verstand Robert von Heraldik und von dem Unterschied der Kronen!

      Er steckte das Kästchen zu sich, setzte ein dünnes, abgeschabtes Studentenmützchen auf und ging.

      »Holst Du Brod? Bring recht viel!« riefen ihm die kleinen Geschwister nach.

      Drunten


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