Der verlorene Sohn - Der Fürst des Elends (Kriminalroman). Karl May
Читать онлайн книгу.haben seit gestern früh keinen Bissen in den Mund gebracht; wir Anderen aber seit noch längerer Zeit. Geben Sie uns ein Brod, ein einziges trockenes Brod und dann predigen Sie, so lang Sie wollen!«
Da streckte der Herr Seidelmann beide Hände abwehrend aus und sagte:
»Das hieße, Gott vorgreifen! Gott thut noch Zeichen und Wunder. Er wird Ihnen helfen, sobald die Zeit gekommen ist. Wollte aber ich Euch helfen, so würde ich mich gegen den Rathschluß des Allbarmherzigen versündigen! wissen Sie, was für einen Tag wir heute haben?«
»Freitag.«
»Ich meine Datum!«
»Wenn ich mich nicht irre, so ist es der letzte November.«
»Sie haben recht, lieber Bertram. Morgen ist also der erste December, an welchem die Miethe zu bezahlen ist. Haben Sie das Geld beisammen?«
»Herr Seidelmann, wenn ich nur einen Pfennig hätte, so würde ich eine Semmel kaufen und sie unter diese Kinder vertheilen!«
»Semmel? Sehen Sie, wie hochmüthig und genußsüchtig Sie sind! Fleischeslust! Ich an Ihrer Stelle würde froh sein, wenn ich Brod hätte!«
Da raffte sich der Schwindsüchtige empor, wankte einen Schritt näher und antwortete:
»Fleischeslust? Herr Seidelmann, kann ich für einen einzigen Pfennig ein Brod bekommen? Mit einer Semmel würden diese Kleinen wenigstens ihren Magen täuschen können. Sie könnten sie in Wasser erweichen und dann dieses Wasser trinken. Sie sprechen von Gott und Gottes Wort. Hören Sie aber das Wort eines Vaters, der seine Kinder hungern sieht! Sehen Sie hier meine Arme! Befände sich nur noch eine Spur von Fleisch daran, so würde ich es mir abschneiden, um den Hunger der Meinigen damit zu stillen! Geben Sie Brod, ein Brod, und ich will Sie verehren, als ob Sie der Heiland selber wären!«
Diese Anstrengung war zu groß für ihn. Er sank unter einem lang andauernden Hustenanfall auf den Stuhl zurück. Herr Seidelmann wartete, bis dieser vorüber war, und rief dann im Tone des allerhöchsten Schreckens:
»Herrgott, vergieb dem Manne diese Todsünde! Er will seine Familie mit Menschenfleisch füttern und mich als den Heiland Jesus Christus anbeten! Diese Gottlosigkeit –«
»Schweigen Sie!«
Diese zwei Worte ertönten von der Seitenthüre her, welche sich geöffnet hatte. Unter derselben erschien ein junger Mann, welcher vielleicht einundzwanzig Jahre zählen mochte, aber seine blassen, ausgehöhlten Wangen, seine fast fieberhaft glänzenden Augen, sein wirres Haar ließen ihn älter erscheinen.
Seine Züge waren edel; sie erinnerten an die Porträts, welche uns aus dem alten Griechenland überliefert worden sind. Er stand da in der Haltung eines Menschen, welcher bereit ist, einem Anderen den Degen durch den Leib zu rennen.
»Ah, der Herr Privatsecretär!« meinte Herr Seidelmann. »Sie haben gehört, was wir gesprochen haben?«
»Leider! Sie wollen Geld?«
»Leider!« antwortete der Vorsteher, den Frager nachahmend.
»Bitte, treten Sie mit hier herein!«
Er kehrte in die Nebenstube zurück, und Herr Seidelmann folgte ihm, während der Kranke an einem Hustenanfalle bald erstickte.
Hier stand ein Tisch nebst zwei Stühlen und ein alter Koffer, auf dem Tische eine kleine Petroleumlampe. Einiges Stroh lag in der Ecke. Das war Alles, was man erblickte. Aber inmitten dieser Armseligkeit gab es einen Edelstein, wie er werthvoller gar nicht hätte sein können.
Auf einem der Stühle saß nämlich ein junges Mädchen. Sie mochte achtzehn Jahre zählen. Ihre Wangen waren bleich und hohl, der Blick ihrer Augen matt, todtesmüde und ihre Kleidung kaum hinreichend, ihre Blöße zu decken. Aber das war die Folge der bittersten Armuth und des Hungers. Ein einziger Lichtblick des Glückes hätte diese Wangen erglühen und diese Augen wonnig aufleuchten lassen. Und dann hätte dieses Kind des Elendes der größten Schönheit des königlichen Hofes an die Seite gestellt werden können.
Sie saß bei einer feinen Stickerei. Der Stoff, welchen sie bearbeitete, war reich, sehr reich; das Material bestand aus Perlen, Gold- und Silberfäden. Wie lange mochte sie über dieser Arbeit gesessen haben, vielleicht viele Monate lang! Jetzt schien sie beinahe fertig zu sein. Sie erhob sich, und ein leises, aber ganz leises Roth trat in ihr Gesicht. Nur die Scham konnte die Kraft haben, das dünne Blut in die hohlen Wangen zu treiben.
»Ah, da ist auch Jungfer Mariechen!« sagte Seidelmann. »So traulich beisammen!«
»Bei der Arbeit,« antwortete Robert, indem er auf einen Stoß Notenblätter zeigte, welche auf dem Tische lagen. »Ich schreibe Noten, Herr Vorsteher.«
»Das ist ein einträgliches Geschäft. Wie kann man dabei hungern und die Miethe schuldig bleiben!«
»Das ist leicht erklärlich. Ich habe zweihundertvierzig Bogen zu schreiben, ehe die Sammlung beendet ist; dann erst erhalte ich Bezahlung. Morgen Nachmittag werde ich fertig. Marie wird um dieselbe Zeit fertig. Sie hat an dieser Stickerei gegen zehn Monate gearbeitet, Tag und Nacht, möchte ich sagen. Morgen Abend erhalten wir Beide Geld.«
»Warum nicht eher, da Sie doch bereits am Nachmittage fertig werden?«
»Sehen Sie sich unsere Kleidung an. Können wir am Tage so ausgehen?«
»Wo haben Sie die besseren Sachen?«
»Beim Trödler und Pfandleiher. Wir mußten leben. Seit einer Woche haben wir nichts zu verkaufen. So lange Zeit haben wir gehungert.«
»Aber über Ihren Noten haben Sie doch nicht Monate lang zugebracht!«
»Nein. Als ich den vorigen Auftrag beendet hatte, war der Herr, welcher ihn mir ertheilte, verreist. Er ist noch nicht zurückgekehrt, daher erhielt ich keine Bezahlung. Zuweilen hatte ich einen Brief zu schreiben oder eine kleine Abschrift zu machen. Das bringt nur Groschens ein und reicht für so viele Personen und einen Todtkranken nur auf Stunden.«
»Sie müssen mehr arbeiten!«
Da färbten sich auch die Wangen des jungen Mannes, aber nicht vor Scham, sondern vor Zorn. Doch Marie kam ihm mit der Antwort zuvor.
»Herr Seidelmann,« sagte sie. »Robert hat Tag und Nacht gearbeitet und uns ernährt. Morgen nehmen wir Geld ein, und dann werden wir die Miethe bezahlen!«
»Schön! Wenn morgen die Bezahlung unterbleibt, wird der Herr Baron Sie vor die Thür setzen. Was für Noten schreiben Sie denn ab?«
Er langte hin und ergriff das Blatt. Fast erschrocken warf er es wieder hin und rief:
»Liebeslieder! Liebeslieder! Und da reden Sie von Elend, von Arbeit und Hunger?«
»Liebeslieder?« sagte Robert. »Ich will Ihnen zeigen, daß dies kein Liebeslied ist.«
Er nahm das Blatt auf und las:
»O lieb, so lang Du lieben kannst!
O lieb, so lang Du lieben magst!
Die Stunde kommt, die Stunde kommt,
Wo Du an Gräbern stehst und klagst!«
Er warf das Blatt zornig wieder auf den Tisch und fragte:
»Nennen Sie das ein Liebeslied, Herr Seidelmann?«
»Was sonst, mein Lieber, was sonst?«
»Nein und tausendmal nein! Ferdinand Freiligrath ist der Dichter. Er meint hier die göttliche Liebe, welche sich durch den Menschen am Mitmenschen offenbaren soll. Wollte Gott, daß seine Diener sich auch dieser Liebe befleißigten, anstatt für freiherrliche Hausbesitzer die Cassirer des Miethzinses zu sein!«
Der Vorsteher machte eine Gebärde des Abscheus.
»Freiligrath, der Revolutionär, der Gottesleugner! Und auf die Diener Gottes schimpfen Sie. Ich sehe, daß Sie keine Milde verdienen. Was ist das für ein Buch?«
Ohne erst um Erlaubniß zu fragen, ergriff er ein auf