Der verlorene Sohn - Der Fürst des Elends (Kriminalroman). Karl May
Читать онлайн книгу.für diesen Augenblick seine Herrin geworden.
Er mußte neben ihr sitzen; er mußte ihren Wein, ihre Blicke, ihre Küsse, ihre Worte trinken. Er wurde von ihnen berauscht; es kam eine Art von Taumel über ihn, so daß es ihm war, als ob er sich im Traume befinde. Er erschrak förmlich, als die alte Dienerin eintrat und meldete, daß zwölf Uhr nahe sei.
»Dann muß ich fort,« sagte er, sich von seinem Sitze erhebend.
»Aber Sie kommen wieder?« fragte sie in dringendem Tone. »Wann? Bald?«
»Ja, bald.«
»Uebermorgen? Oder noch lieber, morgen schon?«
»Vielleicht! Gute Nacht!«
»Gute Nacht, Robert!«
Sie umarmte ihn nochmals, legte ihre vollen Lippen auf seinen Mund und schob ihn dann zur Thüre hinaus.
Die Eltern waren zur Ruhe gegangen; die Dienerin mußte ihm den Ausgang öffnen. Als er auf die Straße trat, fühlte er die Kälte der rauhen Winternacht. Er war in einem Augenblicke ernüchtert. Er blieb stehen, warf einen Blick auf das alte, häßliche Gebäude und auf das erleuchtete Fenster von Judith's Zimmer.
»Hm! Ob ich wiederkomme?« murmelte er. »Ich weiß es nicht.«
Er ging. Daheim angekommen, fand er die Thüre verschlossen. Er hatte zum Glück den Hausschlüssel mitgenommen. Als er an der Thüre vorüber wollte, hinter welcher Felsens wohnten, wurde dieselbe geöffnet. Marie seine Schwester, war es.
»Du noch hier?« fragte er verwundert.
»Ja. Denke Dir, der Wilhelm ist noch immer nicht da!«
»Er arbeitet noch.«
»Er würde uns das wissen lassen. Es muß ihm Etwas begegnet sein!«
»Man darf nicht gleich Arges denken! Warten wir noch ein Stündchen! Ist er dann noch nicht da, so gehe ich in sein Atelier und werde da erfahren, was ihn so lange zurückhält.«
Er stieg nach oben. Die kleinen Geschwister schliefen bereits. Der Vater saß im Lehnstuhle und hustete. Er hatte es vorgezogen, in der warmen Stube zu bleiben, anstatt sich in die kalte Kammer zu legen. Dorthin begab sich Robert; aber er konnte nicht schlafen; er war noch zu sehr in Anspruch genommen von dem Erlebnisse der letzten Stunden. Er ging leise auf und ab, in allerlei fremdartige Gedanken versunken.
Dann trat er zum Fenster. Es war mit dichten Eisblumen besetzt, doch eine Stelle gab es, welche völlig frei vom Eise war. Er blickte hindurch und gewahrte das erleuchtete Fenster da drüben, wo im Palaste des Obersten das Nachtlicht brannte.
»Welch ein Unterschied!« flüsterte er. »Beide prächtig und strahlend, wie die Nacht der Tropen; aber die Jüdin leuchtend wie vulkanische Gluth, welche Schlacken und Asche mit sich führt, und die Tochter der Aristokratie glühend in dem reinen, keuschen Glanze des Sternes, der sein Licht einer unbekannten himmlischen Quelle entnimmt. Sie schläft! Oder sollte sie auch noch wach und munter sein?«
Er nahm sein Fernrohr, zog es aus und öffnete das Fenster. Kaum hatte er die Gläser in die richtige Lage gebracht, so stieß er einen Laut der Ueberraschung aus.
»Was ist das? Ihr Fenster ist offen! Gott, dort steht eine männliche Gestalt! Was hat das zu bedeuten?«
Er blickte schärfer durch das Rohr und ließ es vor Schreck fallen.
»Eine Leiter! Man bricht ein! Ich muß hinüber!«
Er handelte in diesem Augenblicke vollständig instinctiv. Er eilte hinaus in die Wohnstube, sagte kein Wort, um den Vater nicht zu ängstigen, riß das Messer, welches auf dem Tische lag, an sich und schoß die Treppen hinab und zur Hinterthür hinaus. Hier erblickte er die angelegte Leiter.
»Die Diebe sind hier hinüber! Schnell nach!«
Im nächsten Augenblicke war er auf der Mauer und auf der anderen Seite wieder hinab. Er sah nur das offene Fenster; er bemerkte nicht, daß man hinter der Thüre lauschte. Der Wein, den er heute genossen hatte, wirkte noch in seinem, eines solchen Trankes ungewohnten Körper. Er nahm das Messer zwischen die Zähne und kletterte an der Leiter empor.
Oben angekommen, sah er die heimlich und fast unbewußt Angebetete gefesselt im Bette liegen; an dem Tischchen stand ein fremder, baumstarker, riesenhafter Kerl. Robert erwog in diesem Augenblicke nicht, daß er einem solchen Menschen unmöglich gewachsen sein könne. Er sprang hinein, packte ihn und rief:
»Zurück, Bösewicht!«
Er hatte seine Hand erfassen und vom Tischchen zurückziehen wollen, anstatt derselben aber eine Halskette ergriffen. In diesem Augenblicke aber ging die Thür auf, und eine Menge von Polizisten quoll förmlich herein. Der Riese erblickte sie und stieß einen Schrei der Wuth aus. Er sah sich verloren, wenn es ihm nicht gelang, sich durchzuschlagen. Daher zog er den Revolver.
Die Beamten waren ebenso schnell wie er. Zwei warfen sich mit möglichster Eile auf Robert. Dieser stand da, in der Linken die goldene Kette und in der Rechten das Messer. Es hatte ganz den Anschein, als ob er seinen Raub vertheidigen wolle. Der eine Polizist riß den Todtschläger hervor und versetzte ihm einen Hieb, daß er sofort lautlos zusammenbrach.
Nicht so schnell wurde man mit dem Riesen fertig. Er hatte eine wahre Simsonsstärke.
»Kommt her, Ihr Hunde!« brüllte er. »Ihr sollt daran glauben, Alle, Alle mit einander!«
Er trat und schlug um sich, in der Absicht, sich Luft zu schaffen. Aber Vier von ihnen hatten sich an seine Arme gehängt, damit er nicht genau zu zielen vermöge. Zwei Schüsse krachten, trafen aber Keinen. Bormann schäumte vor Wuth. Er kam trotz seiner herkulischen Stärke nicht von der Stelle. Die Zwei, welche soeben mit Robert fertig geworden waren, traten hinzu, und nun war es um ihn geschehen. Er wurde niedergerissen und an Händen und Füßen gefesselt.
»Gott sei Dank! Das war eine Arbeit!« sagte der Anführer. »Nun aber zum gnädigen Fräulein!«
Es wurden ihr die Fesseln und auch der Knebel abgenommen. Unterdessen waren die Bewohner des Hauses wach geworden. Sie kamen voller Angst herbei, durften aber nicht eintreten, die Eltern Fanny's ausgenommen, denen der Zutritt nicht verweigert werden konnte.
Die junge Dame hatte ihre Besinnung keinen Augenblick verloren. Sie erzählte in ruhiger Weise, was geschehen war.
»Es ist Einer später gekommen als der Andere?« fragte der Beamte.
»Das weiß ich nicht,« antwortete sie. »Ich habe geschlafen. Als ich erwachte, war ich bereits halb gefesselt. Und dann lag ich so, daß ich die vordere Seite des Zimmers nicht überblicken konnte.«
»Kennen Sie diesen jungen Menschen?«
»Nein.«
»Ist er Einem oder dem Anderen bekannt?«
Auch das war nicht der Fall.
Der Riese wußte am Besten, woran er war. Er sah sich verloren. Zwanzig Jahre Zuchthaus waren ihm jetzt gewiß. Von einer weichen Stimmung seines Gemüthes war jetzt keine Rede mehr, vielmehr kochte es in ihm vor Grimm und Wuth über das Fehlschlagen seines Befreiungsplanes. Konnte er noch auf den ›Hauptmann‹ rechnen? Besonders zornig war er auf diesen jungen Menschen, der es gewagt hatte, ihn zu stören. Er gedachte, sich an ihm zu rächen. Jetzt wurde er gefragt:
»Sie haben Ihr Gesicht entstellt. Aber Sie geben doch zu, Bormann zu sein, den man den Riesen nennt?«
»Der bin ich,« antwortete er stolz. »Diesen Ehrennamen werde ich niemals verleugnen.«
»Aber Sie waren doch gefangen!«
»Ja, freilich.«
»Wie sind Sie herausgekommen?«
War er unglücklich, brauchten Andere nicht glücklicher zu sein! So dachte er, und darum gab er zur Antwort:
»Der Schließer hat mich herausgelassen.«
»Welcher Schließer?«
»Arnold