Eden. Tim Lebbon
Читать онлайн книгу.bezahlt zu werden. Um Wurzeln zu schlagen. »Du hast recht. Vielleicht ist es so weit«, sagte sie. »Wenn wir hier fertig sind.«
Vor ihnen lag das wilde Land, riesig und wunderschön. Jenn blinzelte und fragte sich, ob sie träumte. Die Aussicht hatte eine Tiefe an sich, die Geheimnisse und Schmerz versprach. Ihr lief ein Schauer über den Rücken, als Aaron seine Schulter an ihre drückte. Eden war, wie sie erwartet hatten, stark bewaldet. So weit sie sehen konnten, gab es keine Hinweise auf Menschen, auch wenn sie wussten, dass es sechs Städte und Dutzende kleinerer Gemeinden gab, die verlassen worden waren, als man vor über fünfzig Jahren die erste der unberührten Zonen eingerichtet hatte. Auf dieser Seite führte der Hügel in ein breites, flaches Tal, das rechts und links von hohen Kämmen eingegrenzt wurde, die zu einer entfernten Hügelkette führten, die wiederum in das erste von Edens zahlreichen Gebirgen überging. Ihr Plan lautete, dem Tal zu folgen und so flach aufzusteigen, wie sie konnten, um den Berg in zwei Tagen zu überwinden. An diesem Punkt wären sie bei Tag fünf ihrer Reise.
Ihre Routen basierten auf über fünfzig Jahre alten Karten. Ihr Vater hatte es genaustens geplant, Wochen über alten Papierkarten gegrübelt und das Internet nach weiteren Bildern durchsucht. Die grundlegende Geografie des Gebiets mochte sich nicht geändert haben, das Terrain aber mit Sicherheit. Sie würden hier weder Straßen noch alte Wanderwege oder Bergpfade finden. Jenn wusste aus Erfahrung, ganz gleich was das Team auf dieser Expedition zu erwarten glaubte, es würde überrascht werden.
»Wunderschön«, sagte Selina und wieder verspürte Jenn diesen Schwindel, ein Ausdehnen der Luft und der Welt, bis ihre Umgebung unerträglich weit und sie selbst so klein war, dass sie sich kaum noch bemerkte. Ihr wurde übel.
»Alles in Ordnung?«, fragte Aaron.
»Jaja.« Sie trank einen Schluck Wasser. »Ich kann es nur nicht erwarten, endlich loszulegen. Dad?«
Ihr Vater nickte ihr zu. »Ja. Wir haben noch nicht mal richtig angefangen. Warum zum Teufel steht ihr rum und spielt an euch rum?«
»Weil es sich anfühlt wie jemand anders«, erwiderte Gee und hob seine linke Prothesenhand. Sein alter Witz ließ die anderen aufstöhnen und es war Gee, der die Führung übernahm und lachend den Abstieg begann.
Hinter ihnen verlor sich die bekannte Welt, als sie sich ins Herz von Eden aufmachten.
KAT
Das war mal Philippe, aber er sieht nicht mehr so aus.
Er kommt aus den Bäumen auf Kat zu, bewegt sich mit den Schatten, und zuerst denkt sie, dass ihr das Gleiche zustoßen wird wie allen anderen. Sie hat nur zwei von ihnen sterben sehen, aber das war genug. Sie hat in den letzten Jahren oft über den Tod nachgedacht und noch viel häufiger in den letzten paar Monaten, doch so hat sie ihn sich nie vorgestellt. Nie mit Schreien, Zerreißen, Bersten und Brechen.
Sei tapfer, denkt sie. Sei stark. Das ist das Mindeste, was du dir schuldig bist.
Schöne Erinnerungen drängen sich ihr auf, doch sie ist gut darin geworden, sie beiseitezuschieben. Sie würde nicht wollen, dass sie sie so sterben sehen. Sie will nicht, dass sie es wissen.
»Na, komm schon«, sagt sie.
Das Ding, das mal Philippe war, kommt auf sie zu. Es benutzt seine menschliche Form, ist aber alles andere als menschlich. Diese Unmenschlichkeit war schon vor dem Verfall deutlich, im Schwingen seiner Gliedmaße, dem abgehackten Gang. Jetzt, wo die Verwesung von seinem Körper Besitz ergriffen hat, ist die Veränderung noch krasser sichtbar. Seine Haare sind vertrocknet und verwelkt, wie tote, spröde Äste. Sein Fleisch ist schwach, die Haut hängt von seinem Gesicht herab, seine Züge sind gesättigt mit giftigen Farben.
Dennoch trägt es einen Ausdruck irgendwo zwischen Wut und Belustigung und sie kann verstehen, warum. Die Gründe sind nun offensichtlich, auch wenn es nichts gab, was einer von ihnen hätte tun können, um es wiedergutzumachen. Waffen hatten ihnen nicht geholfen. Weder Entschuldigungen noch Betteln und Flehen hatten etwas an den Tatsachen ändern können.
Sie würde jetzt nicht betteln und selbst wenn sie eine Waffe gehabt hätte, hätte sie sie nicht benutzt. Sie ist froh, den Tod willkommen zu heißen. Wenn er nur nicht so rot wäre.
Philippe bleibt ein paar Schritte von ihr entfernt stehen. Sie hält den Atem an. Die Last in ihr, der Kern, der sie seit Jahren von innen verzehrt, fühlt sich schwerer und heißer an als jemals zuvor. Zumindest das ist eine gute Sache. Gegen jede Wahrscheinlichkeit hat sie die Krankheit geschlagen.
Philippe kniet sich hin.
Sie runzelt die Stirn. Er hat mit keinem von ihnen gespielt. Sie sieht keine Freude in seinen Taten, nur eine Notwendigkeit, die sie allmählich zu verstehen beginnt. Diese Erinnerungen, die an ihr nagen, würden es ebenfalls verstehen, doch sie schiebt sie weiterhin von sich.
»Komm schon!«, sagt sie erneut, doch Philippe sieht sie nicht länger an. Sie glaubt zu erkennen, wie sich seine wütende Freude in Traurigkeit verwandelt, als seine Mundwinkel erschlaffen, doch dann sacken auch seine Schultern herunter, sein Oberkörper senkt sich zu Boden und es ist, als ob ihn das Land im Ganzen verschlingt. Es hat uns alle verschlungen, seit dem Moment, als wir ankamen, denkt sie. Der Drang wegzurennen überfällt sie, verschwindet dann aber genauso schnell wieder. Sie kann nirgendwohin rennen. Kein Entkommen. Sie gesteht sich ihre menschlichen Verbrechen ein und erkennt die Strafe dieses Orts an. Erschöpft, müde, schicksalsergeben sieht sie zu, wie Philippe zerfällt.
Er schließt die Augen, während die Haut und das Fleisch über ihnen herunterrutschen über gerötete Augäpfel, ohne Mitleid, wie schon seit einer ganzen Weile, dennoch mit seltsamem Leben gefüllt. Er sackt nach rechts, mit einknickender Schulter und hängendem Kopf. Ein feuchtes Schmatzen begleitet seine Auflösung und sie nimmt den Hauch von etwas Chemischem wahr, wie Autoabgase in heißer Sommerluft. Es ist nicht heiß heute und in einem Umkreis von hundertfünfzig Kilometern oder mehr gibt es keine Autos. Der Geruch ist nicht mehr als eine Erinnerung.
Als sich seine rechte Hand bewegt, sich öffnet wie eine tote Spinne, die wieder zum Leben erwacht, sieht sie, was er in seiner Faust gehalten hat. Der Stiel ist schmal und leuchtend grün. Die Orchidee, weiß und zerknittert, entfaltet sich. Ihre zarten, fleischigen Blütenblätter ziehen sich zurück und enthüllen das gelbe und rote Staubblatt.
Die Orchidee, die Kat umklammert hält, ist ein altes, totes Ding.
Philippe bricht auseinander. Ein feuchter Riss, der unter seinem Kinn beginnt und sich bis zu seiner eingesunkenen Leiste erstreckt. Als seine Eingeweide herausrutschen, ruht sein Kopf auf dem Boden, ein Bein vor sich ausgestreckt, das andere verborgen unter den schmelzenden Teilen dessen, was ihn einst menschlich machte. Sie hört keine Stimme, kein Seufzen, während ihn diese Verhöhnung des Lebens verlässt. Es gibt nur Nässe, ein Ploppen und Schmatzen, als ihn die Schwerkraft über den Waldboden verteilt.
Kat reißt entsetzt die Augen auf, dann kneift sie sie zu. Ihr Verstand, offen und aufgeschlossen, kann die Form und Macht nicht begreifen, die sich aus ihrem toten Freund erhebt und auf sie zuschwebt. Seine Freiheit und Traurigkeit, Wut und Stärke. Es ist etwas, das nie für die Augen eines Menschen gedacht war, und sie versteht nicht, was es an diesem Ort tut.
Noch nicht.
Doch sie erkennt, dass sie es noch früh genug begreifen wird. Sie ergibt sich in ihr Schicksal, kann das eiskalte Entsetzen aber nicht unterdrücken, das sie packt, als sie die erste fremdartige Berührung ihres Verstands spürt, die erste warme Liebkosung ihres linken Unterarms.
Wieder drängen die Erinnerungen auf sie ein und diesmal lässt sie es zu, unfähig, sich noch länger gegen sie zu schützen. Diesmal will sie sich unbedingt an den Mann und das Mädchen, die sie liebt, erinnern. Sie hofft verzweifelt, dass diese letzte Warnung die beiden erreicht, irgendwie, irgendwo.
Etwas anderes lächelt mit ihrem Gesicht.
8
»Russland war uns allen natürlich voraus. 1917 schuf