Eden. Tim Lebbon
Читать онлайн книгу.ihr Vater. »Da hinten, die Bäume an diesem Hügel dort geben uns Deckung. Ein kurzer Sprint wird uns aufwärmen. Dann sortieren wir uns und starten die Uhr.« Bei der Uhr handelte es sich genau genommen um eine wasserdichte Stoppuhr, die sich, eingewickelt in mehrere Schichten Plastik, sicher in seinem Rucksack befand. Er würde sie aktivieren, wenn sie mit ihrer Reise begannen, und anhalten, wenn sie Edens bergige Nordregion erreichten. Wenn alles nach Plan lief, würde dort ein zweiter Führer warten, um sie wieder hinauszubringen.
Jenn machte sich Sorgen deswegen. Vielleicht war Poke nicht die Einzige, die so offensichtlich Angst vor diesem Ort hatte. Sie hoffte inständig, dass der Führer, den ihr Vater angeheuert hatte, seinen Teil der Abmachung einhalten würde.
Unter seiner Führung begannen sie zu laufen, um sich aufzuwärmen und auch um schnell Deckung zu finden. Auf dieser Seite der Grenze waren keine Zeds oder Hubschrauber erlaubt, und auch ihre Robo-Drohnen waren in Edens Luftraum verboten. Aber wenn man sie entdeckte, bevor sie sich verstecken konnten, war Jenn nicht sicher, wie man mit ihrem Eindringen umgehen würde. Die Sicherheitskräfte der verschiedenen Zonen behandelten potenzielle Eindringlinge unterschiedlich. Aus der Dunkelroten Zone in Weißrussland hörte man immer noch von gelegentlichen Hinrichtungen.
Doch es gab drängendere Sorgen. Zum Beispiel, dass ihre Mutter irgendwo hier drin war und die Spannung, die diese Tatsache zwischen dem Team und ihr geschaffen hatte. Die Last zwischen ihrem Vater und ihr war immer irgendwie da gewesen, ein unausgesprochener Schatten, erschaffen durch Jenns begrenzten Kontakt zu ihrer Mutter und die Vermutungen ihres Vaters. Sie hätte es ihm sagen sollen, hatte aber nicht gewusst, wie er reagieren würde. Er hätte sie danach fragen sollen, doch sie war nicht sicher, ob sie ihm die Wahrheit gesagt hätte. Ihre Mutter hatte die Fotos per Handy nur an sie geschickt und sie fühlten sich sehr persönlich an, auch wenn sie stets ohne Kommentar gekommen waren – kein Betreff, keine Nachricht, nichts Persönliches oder auch nur Unpersönliches. Jenn hatte die Bedeutung des ersten Bilds herausgefunden, kurz nachdem sie es erhalten hatte, als sich herumgesprochen hatte, dass ihre Mutter und ihr Team einen Rekord für die Durchquerung der Jaguar-Zone aufgestellt hätten. Die Fotos feierten ihren Erfolg und sagten alles aus, was ihre Mutter zu sagen hatte. Die letzte Textnachricht war eine Absichtserklärung gewesen.
Vielleicht hätte sie ihnen alles sagen sollen, als sie die Chance dazu hatte.
»Wir sind drin«, verkündete Aaron. »Wir sind in Eden!«
»Es fühlt sich schon …«, begann Selina, doch ihre Stimme verlor sich.
»Wild an«, beendete Cove ihren Satz. »Mir gefällt es jetzt schon!« Er war der wildeste von ihnen, und vielleicht der unbesonnenste. Er hatte sich vor fast zehn Jahren dem kleineren Team ihrer Eltern angeschlossen, voller Abenteuerlust und romantisch-verklärter Ambitionen, die Welt zu sehen. Cove war immer wieder auf- und abgetaucht, aber in den letzten Jahren war er fokussierter geworden. Er trainierte inzwischen für The Endless, ein geheimes Rennen um die Welt, das durch einige der unwirtlichsten Landschaften des Planeten sowie mindestens vier Kriegsgebiete führte. Das Rennen hatte in den letzten zwanzig Jahren erst dreimal stattgefunden und siebzehn Teilnehmer waren dabei gestorben. Es hieß, nächstes Jahr würde das Rennen erneut stattfinden, in seiner bisher größten und schwersten Variante. Angeblich würde es die Teilnehmer durch jede der dreizehn unberührten Zonen des Planeten führen, sogar die kongolesische Tote Zone.
Sie erreichten die Deckung unter den Bäumen und begannen, einen flachen Hang hinaufzuklettern, immer tiefer in die Zone hinein. Irgendetwas störte Jenn, doch sie konnte nicht genau sagen, was. Sie horchte auf das Geräusch von Hubschraubern oder Drohnen und erwartete jeden Moment, dass ihnen eine Lautsprecherstimme zurief, sie sollten umkehren.
Sie genoss die Anstrengung des Aufstiegs. Das Team erinnerte sie an einen kleinen Vogelschwarm, einander bewusst und wachsam. An diesem Nachmittag wehte keine Brise und die Luftfeuchtigkeit war unangenehm. Sie trank einen Schluck Wasser und sah sich um. Aaron tat neben ihr das Gleiche. Er lächelte um die Trinkblase. Hinter ihm bewegten sich Lucy und Gee schnell und gleichmäßig.
»Das wird reichen«, verkündete ihr Vater und sie hielten an einer Felsformation. Zwischen den Steinen sprossen alle möglichen Pflanzen, die ihnen bis zur Taille reichten, eine Mischung aus Farnen und einem Dornengestrüpp, das sie nicht kannte.
Selina sah sich staunend um. In einer Hand hielt sie ein kleines Notizbuch, doch sie schien es vergessen zu haben.
Sie gingen tiefer in die Hocke, sodass über dem Meer aus Pflanzen nur ihre Köpfe und ihre Schultern sichtbar waren. Über ihnen zitterten die Baumkronen in der sanften Brise, die aufgekommen war, und die Blätter tanzten in zahllosen komplexen Mustern.
Jenn war mit jeder dieser Personen hier befreundet und sie hasste es, dass sie wütend auf sie waren. Sie hoffte, dass sie gut genug befreundet waren, dass diese Wut verrauchen würde.
Sie horchten auf die Geräusche von Verfolgern. Es gab keine.
Tatsächlich war überhaupt nichts zu hören.
»Was zum Teufel?«, flüsterte Gee und sprach damit aus, was Jenn dachte.
»Nichts«, sagte Aaron. Ohne zu blinzeln, drehte er sich nach links und rechts.
»Ich habe noch nie einen so stillen Wald erlebt«, stellte Selina fest.
»Es ist, als wüssten alle, dass wir hier sind«, sagte Jenn. Diese Gedanken auszusprechen ließ sie noch beunruhigender werden. Der Wald war still, aber nicht weil nichts da wäre, um ein Geräusch zu machen. Es war das Schweigen eines angehaltenen Atems, ein Wimpernschlag zwischen zwei Momenten.
»Wo sind die Vögel?«, fragte Lucy. »Die Tiere?«
»Sie sind hier«, sagte ihr Vater. »Überall um uns herum. Schaut.« Er deutete in die Äste eines in der Nähe stehenden Baums und zuerst konnte Jenn nichts sehen. Dann verwandelte sich eine Form, bei der es sich um einen Zweig hätte handeln zu können, in den Umriss eines großen Vogels, vielleicht eines Greifvogels. Plötzlich bemerkte sie weitere Formen im Blätterdach über ihnen, Vögel, die sie schweigend anstarrten.
»Sie beobachten uns«, erkannte Jenn. »Fliegen aber nicht weg.«
»Warum sollten sie auch?«, fragte Selina lächelnd. »Sie wissen nicht, dass sie Angst vor uns haben sollten. Möglicherweise sind wir die ersten Menschen, die einige von ihnen zu sehen bekommen, und je tiefer wir hineingehen, umso mehr wird das der Fall sein.«
Die Vorstellung gefiel Jenn. In anderen Zonen hatte sie Ähnliches beobachtet, aber nie so etwas wie das hier.
»Es ist, als ob sie über uns reden würden«, sagte Lucy. In Anbetracht der absoluten Stille eine seltsame Bemerkung.
»Sind wir bereit?«, fragte Jenns Vater, überzeugt davon, dass ihr Eindringen nicht entdeckt worden waren. Er stand auf, nahm seinen Rucksack ab, um die Stoppuhr herauszuholen, und drängte sie damit, sich auf den wahren Beginn ihrer Reise vorzubereiten. Er war ein großer Mann mit großer Lebenserfahrung, der viele Geschichten erzählen konnte, und Jenn liebte ihn von ganzem Herzen.
»Bereit«, sagte Jenn und erhob sich. Die anderen standen ebenfalls auf und bildeten einen Kreis um Dylan, während er die Stoppuhr auf null stellte. Es war eine alte Analoguhr, die er auf einem Basar in Ägypten gefunden hatte, über hundert Jahre alt und immer noch zuverlässig. Auf der Rückseite war etwas in fremder Sprache eingraviert, das er nie hatte übersetzen können, und Jenn wusste, dass ihn das glücklich machte. Es war ein Geheimnis, das er mochte. Anders als das Geheimnis seiner verschwundenen Frau, und Jenn spürte einen Stich im Herzen, als er sie ansah und sich zu einem Lächeln zwang.
»Fünf …«, sagte ihr Vater.
»Gott steh uns bei«, betete Aaron.
»Vier …«
»Wir schaffen es«, sagte Cove.
»Drei …«
»Ich will nach Hause.« Gee grinste.
»Zwei …«
Eine letzte Sekunde friedlicher Ruhe.
»Eins.« Er