Hagakure. Jocho Yamamoto

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Hagakure - Jocho Yamamoto


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bis Ende der Meiji-Zeit nie gedruckt, sondern durch handschriftliches Kopieren und Weiterreichen überliefert wurde, bedeutet aber auch, dass über den genauen Abschluss der Arbeit am Manuskript nichts bekannt ist. Aus Daten, die in manchen Manuskripten vermerkt sind, wird angenommen, dass es zum großen Teil zwischen 1710 und 1716 geschrieben wurde, aber erstens lässt sich für das Jahr 1716 keine Bestätigung finden, und zweitens zeigt die Nennung eines Datums aus dem Jahre 1740 im fünften Band, dass das Hagakure keineswegs 1716 fertiggestellt war. Darum wird davon ausgegangen, dass die kompletten elf Bände irgendwann in den 30 Jahren zwischen 1716 und 1748 zustande gekommen sind.52

      Anfangs scheint der Text nur von einzelnen Personen kopiert worden zu sein, bis es sich weit genug verbreitete, dass zum Beispiel unter den Truppführern der Wachmannschaften in Nagasaki regelmäßige Lesegruppen organisiert wurden. Gegen Ende der Edo-Zeit wurden in der Saga-Domäne dann auch Studiengruppen eingeführt, die möglicherweise aufgrund der ausländischen Gefahr, wie sie sich durch immer öfter eintreffende Schiffe der europäischen Kolonialmächte bemerkbar machte, eine spirituelle Stärkung des Militärs zur Absicht hatten.53 Allerdings, so ist zu bedenken, gibt es einerseits keinen Hinweis darauf, dass das Hagakure über die Grenzen Sagas hinaus bekannt gewesen wäre, und andererseits wurde das Hagakure nicht einmal als Lehrbuch des Kōdōkan akzeptiert, der 1781 gegründeten Domänenschule Sagas, die hauptsächlich ein konfuzianisches Curriculum verfolgte und sich die Ausbildung von »Führern der menschlichen Moral« zum Ziel gesetzt hatte. Als Gründe für die Ablehnung könnte man die Kritik ausländischer Lehren, zu denen ja auch der Konfuzianismus gehörte, die gotteslästerlichen Aussagen und das Ideal des verwegenen Haudegens im Hagakure verstehen, die nicht mit den Idealen einer konfuzianischen Ausbildung zu vereinbaren waren.54

      Aber es dauerte bis 1906, bis Nakamura Ikuichi die erste allgemein erhältliche, gedruckte Version des Hagakure herausgab, die allerdings nur ungefähr ein Fünftel des Gesamttexts umfasste und wenig Beachtung fand. Erst ein Jahr zuvor hatte dagegen der einflussreiche Philosophieprofessor Inoue Tetsujirō (1856–1944) eine umfassende Sammlung von Bushidō-Texten der Edo-Zeit in drei Bänden publiziert, in der das Hagakure aber gar nicht erwähnt wurde.55

      1935 veröffentlichte dann der aus Saga stammende Kurihara Kōya mit dem Hagakure-no Shinzui (»Die Essenz des Hagakure«) die erste umfassende Interpretation des Werkes und brachte 1940 mit dem Hagakure Kōchū (»Das revidierte Hagakure mit Anmerkungen«) sowohl die erste Gesamtversion als auch die erste Fassung mit umfassenden Anmerkungen heraus. Doch erst mit der Ausgabe des berühmten Moralphilosophen und Nationalideologen Watsuji Tetsurō (1889–1960) bei Iwanami Bunko – der japanischen Entsprechung des Reclam Verlags –, auf der auch die vorliegende Übersetzung basiert, wurde das Hagakure noch im gleichen Jahr 1940 einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

      Das auf diese Weise erwachte breite Interesse führte zu einer Welle von Veröffentlichungen, die sich auf das Hagakure bezogen, wie etwa auch Lesebücher für Schulen. Die Fülle an Publikationen in der zweiten Hälfte der 1930er und Anfang der 1940er Jahre zeugt von der um sich greifenden Einflussnahme des japanischen Militärs auf alle Aspekte der japanischen Gesellschaft. Dies äußerte sich zum Beispiel auch in dem Putschversuch vom 26. Februar 1936, bei dem mehrere Staatsminister ermordet wurden und der trotz seines Scheiterns die fortschreitende Kontrolle des Militärs über die japanische Politik zur Folge hatte, was Ende 1941 zum Angriff auf Pearl Harbor und damit zum Eintritt Japans in den Zweiten Weltkrieg führen sollte. In diesem Zusammenhang argumentiert Yamamoto Hirofumi (geb. 1957), dass das »Ideal des draufgängerischen Haudegens«, wie es im Hagakure vertreten wird, im Zweiten Weltkrieg hervorragend zur Denkart des japanischen Militarismus gepasst habe, weil man Soldaten und Untertanen brauchte, die auch in einem verzweifelten, hoffnungslosen Kampf nicht aufhören würden zu kämpfen.56

      Mit der japanischen Kapitulation sowie der Entmilitarisierung Japans nach 1945 durch die amerikanischen Besatzungsstreitkräfte wurden die martialischen Traditionen im Allgemeinen und angeblich militaristisches Schriftgut wie das Hagakure im Besonderen verboten, während wirtschaftliche Not das generelle Interesse an kriegerischem Gedankengut zum Erliegen brachte. Und obwohl der Iwanami-Verlag 1965 eine revidierte Fassung von Watsujis Buch von 1940 herausgab57 – eine Fassung, die im Jahre 2006 ihre 35. Auflage erreicht hat –, fand das Hagakure nach dem Zweiten Weltkrieg erst wieder mit dem Putschversuch Mishima Yukios (1925–1970), der von vielen Kritikern für den wichtigsten japanischen Romanautor des 20. Jahrhunderts gehalten wird, weitere Beachtung.

      In seiner literarischen Karriere hatte Mishima eine immer stärker werdende Obsession für Blut, Tod und Selbstmord, ein Interesse an selbstzerstörerischen Charakteren und einen Widerwillen gegen die Langeweile und Sterilität des modernen Lebens gezeigt. Er fühlte sich stark angezogen von dem strengen, unbeugsamen Patriotismus und dem martialischen Geist der japanischen Vergangenheit. Daher gründete er 1968, ein Jahr nach einem zweimonatigen Erfahrungskurs58 in den japanischen Selbstverteidigungsstreitkräften, eine Privatmiliz mit dem Namen Tate-no-Kai, die »Schildgesellschaft«, die sich darauf verschwor, den Kaiser als die Essenz der japanischen Nation zu beschützen. Am 25. November 1970 übernahm Mishima mit vier ausgesuchten Mitgliedern seiner Schildgesellschaft die Kontrolle über das Büro des kommandierenden Generals im Zentrum Tōkyōs, von wo aus er vor tausend Soldaten vergeblich zum Sturz der japanischen Nachkriegsverfassung mit ihrem festgeschriebenen Verzicht auf Krieg und Militär aufrief. Nach dem Scheitern des Putsches, mit dem er vielleicht von Anfang an gerechnet hatte, beging Mishima seppuku. Dieser schockierende Vorfall lenkte die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit unter anderem auf den 1967 von ihm veröffentlichten Kommentar Hagakure Nyūmon (»Einführung in das Hagakure«), ein Werk, in dem man nun die Ursachen für sein gewaltsames Ende suchte.59

      Dass das Hagakure 1969 in einem Artikel der einflussreichen Zeitschrift Chūō Kōron von Naramoto Tatsuya (1913–2001) als einer der 17 wichtigsten Klassiker Japans beschrieben worden war, tat ein Übriges, um wieder größeres Interesse an diesem Werk zu wecken.60 Kathryn Sparlings englische Übersetzung von Mishimas Buch im Jahr 1977 und William Scott Wilsons Übersetzung von ausgewählten Passagen des Hagakure 1979 machten Letzteres dann in Folge über die Grenzen Japans hinaus bekannt. Damit gehört es zu den wenigen Bushidō-Schriften, die in westlichen Sprachen erhältlich sind.

      Solange man das Hagakure isoliert betrachtet, mag man darin in der Tat hehre Idealvorstellungen und ethische Prinzipien erkennen, die durchaus auch im modernen Leben Anwendung zu finden scheinen. Diese Aspekte werden besonders von der 1985 in Saga gegründeten Hagakure-Gesellschaft betont, die im Zuge ihrer Aktivitäten 1992 das erste internationale Hagakure-Symposium organisierte – unter dem aussagekräftigen Titel »Hagakure – A Wisdom for Living in the 21st Century«.61 Dieser Devise entsprechend wird propagiert, dass die Leitprinzipien des Hagakure immer noch für die gegenwärtige Gesellschaft relevant seien,62 dass das Hagakure ein Leitfaden auf dem Weg zur menschlichen Weiterentwicklung sei, der seinen Ursprung in der Essenz der traditionellen, spirituellen Kultur Japans finde,63 oder dass es eine Chronik von signifikanter Bedeutung und eine Fundgrube meditativer Weisheit für zukünftiges Wohlbefinden darstelle.64 Ebenso wird versucht, anachronistische Elemente des Hagakure für moderne Gemüter akzeptabel zu machen, indem unter einer allgemeinen Betonung auf »humanistische Werte« behauptet wird, der spirituelle Nährwert des Buches stehe in Fragen der Ethik fundamentalen Werten der christlich-westlichen Kultur nahe.65

      Aber eine solche zumindest wohlwollende Interpretation versäumt es, den Text kritisch zu hinterfragen, und verdeckt für moderne Leser ungemütlichere Aspekte, wie zum Beispiel die bedingungslose Unterwerfung unter die zweifelhafte Autorität eines allzu menschlichen Herrschers, dessen Mängel es um jeden Preis zu vertuschen gilt. Auch Matsuda Osamu weist auf die Diskrepanz zwischen der Klarheit und Leidenschaftlichkeit des Werkes einerseits und der paradoxen Vorführung des äußerst sorgfältigen und bedachtsamen, abwägenden und berechnenden Geistes des Autors andererseits hin, die den beschriebenen Idealen selbst keinesfalls gerecht wird.66 So betont Jōchō zum Beispiel in der Einleitung die Notwendigkeit einer genauen Kenntnis der lokalen Landeskunde von Saga, geht aber nirgends auf die besonderen Umstände ein, unter denen die Domäne auf die Nabeshima übergegangen ist. Diese Vorgehensweise, unbequeme


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