Mit den Augen der Liebe. Marie Louise Fischer
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„Und da verließen sie ihn“, sagte Gunhild Wigand und zuckte resigniert mit den Achseln.
„Macht nichts. Ich habe mit dem schwächsten Glas angefangen. Warten Sie, gleich wird’s schon bessergehen.“
Noch fünfmal mußte Dr. Hilpert die Gläser vor Gunhild Wigands rechtem Auge wechseln.
„So, jetzt geht’s“, sagte sie dann. „tpctzbdefo!“
„Sehr gut. Und die Reihe darunter …“
Gunhild Wigand mühte sich. „Es ist … alles noch ein bißchen verzerrt“, sagte sie.
„Wahrscheinlich leiden Sie auch noch an Stabsichtigkeit“, sagte Dr. Hilpert.
„Was ist denn das?“
„Eine Folge von Hornhautverkrümmung. Aber das werden wir gleich haben. Versuchen wir’s mal mit Zylindergläsern …“ Er steckte einen zweiten Probierbrilleneinsatz vor ihr rechtes Auge, verschob die Einstellung. „Stimmt’s jetzt?“
„Schon besser.“
„Und jetzt?“
„Ganz prima!“
„Na, dann hätten wir’s.“ Dr. Hilpert entfernte das sphärische und das Zylinderglas aus der Meßbrille, schob statt dessen das dunkel getönte Glas ein, das bisher vor ihrem linken Auge gesteckt hatte. „Wissen Sie, Fräulein Wigand, Sie sind wieder einmal ein lebendiges Beispiel dafür, welche Opfer eine Frau bereit ist, sich für ihre Schönheit aufzuerlegen. Sie haben seit Jahren nur noch die Hälfte von allem gesehen …“
„Schönheit ist wichtig“, murmelte Gunhild Wigand, „besonders für ein Mädchen. Tun Sie nicht so, als wenn Sie das nicht wüßten.“
Er lachte, schob ihr ein Glas vor das linke Auge. „Diesmal werde ich gleich mal mit etwas höheren Dioptrien anfangen. Was sehen Sie jetzt?“
„Nichts!“ sagte Gunhild Wigand, und plötzlich war der unverbindliche Konversationston, in dem sie bisher gesprochen hatte, wie ausgelöscht. Panik bebte in ihrer Stimme.
„Nichts?“ fragte er überrascht. „Das ist doch nicht gut möglich!“
„Doch“, sagte sie, „wirklich … ich meine, natürlich sehe ich etwas. Aber ich kann nichts wirklich unterscheiden. Es ist alles so … schattenhaft.“ Ihre Stimme brach.
Er nahmdas vorgesetzte Glas aus der Meßbrille, fragte: „Und jetzt?“
„Genauso.“
Dr. Hilpert schwieg einen Augenblick, dann fragte er: „Sie sehen also mit dem linken Auge nur Umrisse, wenn ich Sie recht verstanden habe?“
Sie nickte stumm.
„Und das merken Sie erst jetzt?“
„Ich bin bisher ja nie auf die Idee gekommen, das eine Auge zuzukneifen“, sagte sie mit dem Versuch, Munterkeit vorzuspiegeln; aber es kam ziemlich kläglich heraus.
„Kein Grund zur Aufregung. Nur schön ruhig bleiben. Wir werden jetzt noch ein bißchen versuchen, ja?“
Er versuchte es noch gute zehn Minuten, mit sphärischen und mit zylindrischen Gläsern. Aber die Erfolge, die er damit erreichte, waren bedeutungslos.
Dann nahm er ihr die Meßbrille ab. „Genug“, sagte er, „ich will Sie nicht länger quälen. Jetzt machen wir mal etwas ganz anderes.“
Ihr gesundes, junges Gesicht war sehr blaß geworden. Sie strich sich mit der Hand über das kranke Auge, als wenn sie die Schatten damit wegwischen könnte. „Kann man da … überhaupt noch etwas machen?“ fragte sie mühsam.
Sie bekam keine Antwort auf diese Frage.
„Ich werde mal sehen, ob wir jetzt gleich zum Herrn Professor können“, sagte Dr. Hilpert und drückte einen Knopf für die Haussprechanlage.
Professor Bergmeister stand mitten in dem fensterlosen, nur gedämpft beleuchteten Raum, als sie eintraten: ein schlanker, sehr großer Mann Anfang der Fünfzig, der sich leicht vornübergebeugt hielt, so daß seine Brust unter dem weißen Kittel schmal und fast eingefallen wirkte. Seine Augen waren hinter dicken Brillengläsern verborgen, aber das Lächeln, mit dem er das junge Mädchen begrüßte, war so liebenswert, daß sie sofort Vertrauen faßte. Er streckte Gunhild Wigand eine schmale, sehr weiße Hand entgegen, deren Druck überraschend kräftig war.
„Ich bin eigentlich nur gekommen, um mir eine Brille verschreiben zu lassen“, sagte sie mit dem Versuch eines Lächelns. Aber ihre Lippen zitterten.
„Myopie und Astigmatismus auf dem rechten Auge“, erklärte Dr. Hilpert, „auf dem linken konnte keine Sehschärfe erreicht werden.“
„Na, da werden wir uns die Geschichte mal durch das Hornhautmikroskop ansehen“, sagte Professor Bergmeister, „kommen Sie, Fräulein Wigand, setzen Sie sich einmal hier vor die Spaltlampe, legen Sie das Kinn in die Stütze … warten Sie, ich glaube, wir müssen das etwas tiefer stellen … so!“ Er setzte sich Gunhild Wigand gegenüber an den Kreuztisch, auf dem das sehr komplizierte Instrument installiert war.
„Brauchen Sie mich noch, Herr Professor?“ fragte Dr. Hilpert.
„Es wäre mir schon ganz lieb, wenn Sie blieben!“ Professor Bergmeister stellte Beleuchtung und Vergrößerung ein, sagte nach einer Weile: „Die vorderen Augenabschnitte zeigen keine Anomalien. Wenn Sie mal schauen wollen, Kollege …“
„Bitte!“ Dr. Hilpert nahm Professor Bergmeisters Platz ein.
„Linse und vorderer Glaskörper scheinen ganz in Ordnung.“
„In Ordnung?“ fragte Gunhild Wigand.
„Ja. Aber das besagt leider noch nichts. Sie können jetzt Ihren Kopf zurücknehmen … ja, so.“ Professor Bergmeister lächelte ihr zu. „Ziemlich anstrengend, das Auge so lange aufzuhalten.“
Sie rieb sich wieder über das kranke Auge. „Ich fürchte, ich habe schrecklich oft geblinzelt.“
Professor Bergmeister wandte sich an Dr. Hilpert. „Bitte, setzen Sie die Hrubylinse, Kulisse und Fixierleuchte auf. Ich möchte mir mal den Fundus in Mydriasis anschauen.“
„Mydriasis“, sagte Gunhild beklommen, „was ist denn das nun schon wieder?“
„Nur so ein Fachausdruck“, sagte Professor Bergmeister beruhigend. „Es bedeutet nichts anderes, als daß ich Ihnen jetzt ein paar Tropfen gebe …“ Er nahm ein Fläschchen von einem Tisch neben der Untersuchungsliege, die rechts an der Wand stand. „Mydrial … es bewirkt, daß Ihre Pupillen recht groß werden. Das brauchen wir, damit wir so tief wie möglich in den Augenhintergrund hineinsehen können.“
Während Professor Bergmeister die Tropfen gab, führte Dr. Hilpert Veränderungen an der Spaltlampe durch.
„Fertig, Herr Professor“, meldete er nach einer Weile.
„Und wir können auch! Bitte, beugen Sie Ihren Kopf wieder vor, schauen Sie in die Öffnung hier in dem weißen Knopf … immer auf diese kleine Glühlampe hin, ja?“
Er setzte sich auf die andere Seite des Tisches, stellte das Spaltbild durch den Steuerhebel auf Pupillenmitte ein, legte die Schärfenebene auf die Iris. Er hatte für die erste Orientierung eine geringe Beleuchtungsstärke und sechsfache Vergrößerung eingestellt. Behutsam bewegte er den Steuerhebel nach vorn und brachte die Schärfenebene auf den Augenhintergrund.
Dann sah er es.
Die Netzhaut hatte sich im unteren Hintergrundbereich gelöst und wölbte sich wie ein schillerndes Segel in den Glaskörper hinein. Bei jeder Augenbewegung der Patientin bewegte sich die Netzhaut mit. Unterhalb der Ablösung war ein Riß zu sehen, der etwa so groß war wie der Durchmesser des Sehnervkopfes, der sich hell in dem rotleuchtenden Bild hervorhob.
Professor