Stark wie die Mark. Rudolf Stratz
Читать онлайн книгу.Schwester in wenig glücklicher Ehe verheiratet war. Dann ging der Diener am Johannistisch, einer der Führer der inneren Mission und der Berliner Bewegung, weiter, und Exzellenz von Bornim sagte zu seinem Sohne: „Na, komm! Wir wollen einmal der Fraktion Schulze beitreten!“
Schulze war der Ökonom des Reichstags. Er verschenkte Sekt in Gläsern. Die beiden Bornim stärkten sich und liessen sich dann nieder, und der Vater hub an: „Ich hab’ dich wegen dem Lüdecke herzitiert, Achim! Du weisst, ich kenn’ ihn nicht mehr seit einem Jahr — seit er wegen seiner dummen Streiche hat die Uniform ausziehen müssen und nun unserem lieben Herrgott in Berlin die Tage stiehlt. Ich will ihn nicht mehr sehen und nicht mehr sprechen. Er kommt mir nicht mehr vors Gesicht! Aber leider zu Gehör! ... Was ist denn das für eine Geschichte, wo er dich gebeten hat, dass du bei mir vermitteln sollst ...?“
„Ja — diesmal ist die Chose ganz brenzlig, Papa! ... Mulmig bis in die Puppen! Er und Libochowitz und Rehfisch ...“
Der alte Herr machte ein Gesicht, als hätte er auf eine Spinne gebissen.
„Was hat er denn da für Kerle aus der Gosse gefischt?“
„Dieselben, die seinerzeit Kaspar Zültz stranguliert haben! Krawattenmacher erster Güte! Lüdecke und der Zültz stecken doch ewig zusammen!“
„Zültz hätt’ auch besser zielen können, vor vier Jahren!“ sagte Wilke von Bornim.
„Ja, der liebe Gott wollt’ ihn doch noch nicht haben! Und seit er sich nun hier in Berlin als höherer Pferdeschmeisser aufgetan hat ... der hat Lüdecke mit der ganzen Schwefelbande bekannt gemacht! ... Es ist grässlich, Papa: Manchmal verwechseln mich die Leute mit dem Lüdecke und schicken mir ihre Drohungen mit dem Gericht ins Haus ... jawoll! Mit dem Gericht! ... Lüdecke hat doch längst den Offenbarungseid geleistet. Aber er pumpt friedlich weiter. Hat auf seinen Namen hin die ganzen Linden und Friedrichstrasse abgegrast. Pelze, Uhren, alles ... Und dann gleich damit ins Leihhaus. Nun ist den Leuten allmählich doch ein Talglicht aufgegangen. Nu heisst’s zahlen oder Staatsanwalt!“
„Wieviel?“
„Zwanzigtausend Emmchen mindestens ... vorläufig ... sagt Lüdecke ...“
„Und du sag Lüdecke: Nichts! Auch wenn ich’s hätte! Aber ich hab’s nicht! Sommerwerk gibt nichts mehr her! Nur noch das Leben. Die Eva-Marie sitzt jetzt noch da und kann ihren Husar nicht heiraten! Von ihren Schwestern ganz zu schweigen! Lüdecke soll selber sehen, wie er zu Gelde kommt! Oder nach Amerika kommt! Ich kann’s nicht ändern! Triffst du ihn irgendwo?“
„Gott ... ein Genuss ist es ja gerade nicht, aber ich gehe eben in Gottes Namen mal bei der Zültzschen Pferdebude ’ran! Da ist er mittags immer! ... Da wird nach Noten quergeschrieben und so Zeugs!“
„Hör mal, Achim: du hast doch keine Schulden?“
„Nicht einen Groschen, Papa! Da wär’ ich doch schön dumm, wenn ich mir so unnütz meine Karriere ruinieren wollte!“
„Gut! Und wenn dir der Zültz über ’n Weg läuft, bestell ihm, ich liess’ ihn dringend ersuchen, mir nächstens einmal hier im Reichstag das zweifelhafte Vergnügen seines Besuchs zu schenken. Ich hätte mit ihm zu reden! Verstanden?“
„Ja, Papa!“
„Wegen seiner Tochter! Was er sich dabei wohl eigentlich dächte, dass wir, seine ehemaligen Nachbarn von Wendisch-Wiesche, seit Jahren für das Mädel zahlen, damit sie anständig in einer Schweizer Pension erzogen wird ... und er holt sie sich jetzt auf einmal mit kaum achtzehn mir nichts, dir nichts heim, hierher, unter seine Rossäppel am Oranienburger Tor! Das ist ein Unfug! Das muss auch ein Liederjan wie Kaspar Zültz einsehen, dass das auf die Dauer unmöglich ...“
Von der östlichen Seitenwand der Halle ertönte durch die Mauern ein dumpfer Donner. Das rasche Rollen eines Wagens durch die Torwölbung in den Hof des Reichstags. Es schütterte wie ein Stoss aus Riesenfaust durch das ganze Gebäude weiter. Die Abgeordneten in der Wandelhalle fuhren schlaftrunken aus ihren Stühlen, liefen, angefangene Briefe im Stich lassend, aus dem Schreibzimmer, stürmten kauend vom Büfett her, stürzten aus der Bibliothek, rannten, ihre Zigarren wegwerfend, nach der Ledertüre zum Sitzungssaal. Die riss ein Abgeordneter von innen auf und streckte seinen Kopf heraus, der kahl wie eine Billardkugel und mit unzähligen, weissgewordenen Schmissen übersät war.
„S. D.!“
Seine Durchlaucht! ... Fürst Bismarck war im Hause! Drinnen hörte keiner mehr auf den Redner. Ein plötzliches durchdringendes Klingeln überall, ein Sturmläuten durch alle Stockwerke und Zimmer, ein Strömen von atemlosen Nachzüglern ... Wilke von Bornim drückte seinem Sohn die Hand, schloss sich den letzten an und kam gerade noch, auf den Fussspitzen, zurecht in ein plötzliches Todesschweigen innen in dem halbrunden Sitzungssaal. Und durch die Stille ein paar geschäftsmässige, nüchterne Sätze. Die Stimme des Präsidenten: „Der Herr Reichskanzler hat das Wort.“ ...
Achim von Bornim stand auf einmal fast allein in der verödeten Wandelhalle. Schiefgerückte Stühle, noch glimmende Zigarren, Zeitungen am Boden zeugten von dem jähen Aufbruch. Er ging, unwillkürlich selbst behutsam in Bismarcks unsichtbarer Nähe, hinüber in den Warteraum für das Publikum. Da standen Hunderte am Eingang. Die Glasscheiben waren schwarz von Menschen, die wie Fliegen daran klebten. Er selbst war wenigstens schon innen. Eben stürmten ein paar Glückliche, die noch Eintrittskarten erwischt hatten, die Treppe hinauf, Offiziere, zwei Stufen aus einmal nehmend, Damen mit wildgerafften Röcken. Er eilte hinterher. Die Türe zur Tribüne war noch offen. Er drängte sich mit den andern hinein ... blieb stehen, suchte mit den Augen ...
Unten im Sitzungssaal die vielen, vielen Glatzen ... die Grauschädel, wenige lockige Häupter, Kopf an Kopf nach vorn zusammengedrängt — die erhöhten hinteren Reihen gespenstig leer — alles stehend vor der Tribüne. In der Hofloge die Federhüte der Prinzessinnen, die Uniformen der Fürsten, die Diplomatentribüne plötzlich knüppelvoll ... Die Journalisten daneben gepfercht wie eine Hammelherde ...
Pscht! ... Pscht ... um Gottes willen Ruhe! ... Kein Wort verlieren ...
Und durch diese Totenstille von tausend Menschen die wohlbekannte, seltsam helle, seltsam stockende, die Worte suchende Stimme ... Gehört sie wirklich dem mächtigen Halberstädter Kürassier da hinter dem Rednerpult? Sein schwefelgelber Kragen leuchtet über dem dunkelblauen Überrock, die buschigen weissen Augenbrauen blitzen ... im trüben Mittagslicht von oben dieser feine, kleine, wie von Künstlerhand aus Elfenbein geformte Kopf — nichts Säbelrasselndes — nichts Wuchtiges — der vornehme Diplomat in Uniform ... ritterliche Leichtigkeit in jeder Bewegung des riesenhaften Körpers ... wie er scheinbar suchend mit der Hand nach der Rocktasche fasst, das Glas mit gelblicher Flüssigkeit ergreift, das vor ihm steht — wieder ein Stocken — ein schweres Räuspern durch den schweigenden Raum ...
„Verzeihung, Herr Leutnant ... die Karte ...“
Der Saaldiener flüsterte es.
„Ich hab’ keine ...“
„Dann müssen Herr Leutnant hinaus!“
Achim von Bornim seufzte. Da hinten in der ersten Reihe der Rechten sass ein General, ein Bein über das andere geschlagen ... die Arme gekreuzt ... das Auge unverwandt lauschend auf Bismarck dicht über ihm gewendet — einsam ... schweigsam ... feierlich ... wie ein alter Adler im Horst ... Noch ein Blick auf Moltke ...
„Herr Leutnant ... bitte ...“
Nun war er draussen. Auf einmal wieder in der Wirklichkeit. Im Alltag. Unter dem trüben Winterhimmel, auf der Leipziger Strasse. Da standen die Leute in Massen und warteten auf Bismarck. Die Pferdebahnwagen kamen kaum durch. Der Leutnant von Bornim bahnte sich seinen Weg quer über den Fahrdamm und schlenderte dann langsam, den Kopf noch voll von dem Gesehenen, durch die leere, würdevolle Leipziger Strasse, und über die Linden gen Norden.
Diese Gegend hinter der Kaserne des zweiten Garderegiments und der Pepinière, dies Quartier Latin, dieses Oranienburger Tor mit seinen vielen verdächtigen roten Laternen — pfui Deubel ja ...! Menschen auf der Strasse ... man glaubte kaum, dass man noch in Berlin war, dem