Stark wie die Mark. Rudolf Stratz
Читать онлайн книгу.Dann standen die Fähnriche atemlos still. Sie fühlten die blauen Augen ihres Kriegsherrn auf sich ruhen. Viele waren blass geworden. Alle waren glücklich. Der Kaiser war eigens wegen ihnen umgedreht, hatte zu ihnen gesprochen ... Das war das grösste Erlebnis in ihrer bisherigen, kurzen Soldatenlaufbahn. Es zitterte noch in ihnen nach, während sie nach beendeter Parade den Kanal entlang durch die stillen Strassen Potsdams nach der Kriegsschule zurückmarschierten.
Sie waren schon beinahe daheim, an der Ecke des „Langen Stalls“, des grossen Exerzierhauses des ersten Garderegiments zu Fuss, als ein steckengebliebener Lastwagen die Kolonne zum Haltmachen zwang. In diesem Augenblick trat vom Bürgersteig her ein schlanker, hochgewachsener Herr in den Vierzigern, viel eleganter gekleidet, als sonst gemeiniglich das Zivil in Potsdam ging, lebhaften Schritts an die Fähnriche heran und überflog sie mit seinen nervösen, unsteten Augen. Dann winkte er lässig mit der Hand.
„Ah ...! ’Morgen! ’Morgen! ... Herr von Bornim!“ Und mit einer flüchtigen Verbeugung gegen den Offizier du jour, immer in einem schnellen, hochfahrenden Ton: „... von der Zültz! ... Pardon! ... dürfte ich eine Sekunde den Junker sprechen?“
Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte er sich wieder an Achim von Bornim. Er wippte dabei unruhig mit seinem Spazierstöckchen, das er wie eine Reitpeitsche hielt.
„Ich muss nämlich rasch ’rüber nach Berlin! ... Sehen Sie Ihren Herrn Vater nicht jetzt?“
„Nee ... der fährt gleich nach Sommerwerk zurück!“
„Ach so ... ich wollte Sie sonst bitten ... Er hat doch meine Ilse bei sich ... dass er mir die nach Wendisch-Wiesche hinüberspediert! Ich kann sie beim besten Willen nicht abholen!“
„Das wird Papa gewiss von selber tun!“
„Na ... um so besser!“
Kaspar von der Zültz nickte zerstreut. Er war ein schöner, etwas abenteuerlicher Mann, mit dunklem Haar und dunklem Spitzbart. Immer in Unruhe. Immer in Aufregung. Dabei überstürzten sich seine Worte: „Sagen Sie mal, was war denn das? Eben trabt der Wehlen an mir vorbei und schreit mir zu: ‚Na, Ihre Kleine hat ja um ein Haar Malheur bei der Parade angerichtet!‘ ...“
„Ach, es war nicht so schlimm! Ein Gendarm ...“
„Stillgestanden! ... Bataillon — marsch!“
Das Kommando des Offiziers schnitt das Gespräch ab. Herr von der Zültz sprang zurück, grüsste herablassend: „’Morjen, lieber Junker ... ’Morjen!“ und eilte die Strasse hinunter. Er hielt, was hier in der Militärstadt besonders auffiel, seine aristokratisch hagere Gestalt etwas vornübergebeugt und trug den Hut im Genick. Er ging noch einmal so rasch wie andere Leute. Er hatte schon halbwegs den Bahnhof erreicht, als die Fähnriche endlich in dem Hof der alten Kriegsschule wegtraten und der Kürassier Lauckardt dabei sagte: „Der Gendarm hätte sich das Genick brechen können! ... So ’ne kleine Krabbe wie die mit dem roten Sonnenschirm gehört doch überhaupt nicht auf den Exerzierplatz!“
„Was fällt Ihnen denn ein, von einem jungen Mädchen aus solchen Kreisen per ‚kleine Krabbe‘ zu reden?“
„Sind Sie mit ihr verwandt oder verschwägert, Bornim?“
„Das nicht, aber ...“
„Na schön! Dann lassen Sie mich gefälligst in Ruhe — ja?“
„Kss! Kss!“ machten hinten wieder die Fähnriche. Aber Achim erwiderte nichts. Er fühlte, dass er diesmal zu hitzig gewesen war. Da wurde man lächerlich, wenn man sich zum Ritter eines unmündigen Backfisches aufwarf. So begnügte er sich damit, während sie die Treppen hinaufstiegen, die Melodie des Parademarschs im Laufschritt vor sich hinzupfeifen. Dessen gewöhnlich unterlegter Text lautete: ‚Lampenputzer ist mein Vater!‘, aber Achim von Bornim hatte eine Variante ersonnen: ‚Seifensieder ist mein Vater!‘ und wenn der Fähnrich Lauckardt seitdem die Laufschrittweise hörte, reizte es ihn so, wie der rote Sonnenschirm der kleinen Ilse von der Zültz auf einen Stier gewirkt hätte, und trieb ihm das Blut zu Kopf. Auch jetzt zitterte er vor Zorn am ganzen Körper. Dann wurde er plötzlich bleich. Er fühlte: So ging das nicht weiter.
Eine Hauptnahrung der bitteren Feindschaft zwischen ihm und Achim von Bornim war es, dass sie gemeinsam mit zwei anderen Fähnrichen das gleiche Quartier innehatten: ein Arbeitszimmer und daran anstossend zwei Schlafkammern mit je zwei Betten. So war man Tag und Nacht beisammen. Auch jetzt wieder. Kurz vor dem Mittagsappell. Es war ein Wassergepladder, ein Kämmen und Bürsten, der Musketier Valentin, die Ordonnanz der vier Kriegsschüler, lief mit Hosen über dem Arm und Stiefeln in der Hand auf und ab, und Achim von Bornim rief, während er sich wusch: „Valentin ... bringen Sie mir ein Handtuch! Ich habe die ganzen Hände voll Seife!“
Diesmal sagte er es wirklich harmlos. Er hatte gar nicht an Lauckardt gedacht. Aber im nächsten Augenblick stand der neben ihm. Atemlos vor Wut. Und keuchte: „Tun Sie die Seife weg, oder ...“
„Die Seife ...? ... Ach so ...“
Achim von Bornim hatte durch Zufall noch die Seife in der Hand. Jetzt behielt er sie mit Absicht darin und sagte scharf: „Lauckardt ... Sie finden nie den rechten Ton! ... Vorhin erlaubten Sie sich deplacierte Redensarten über unsere Nachbarfamilie von der Zültz ... Da musste ich Ihnen schon über den Mund fahren ... Jetzt schreien Sie mich gar selber an ...“
„Jawohl! Die Seife weg ... oder es setzt etwas!“
Der andere lachte. Jetzt ging er dem Streit nicht aus dem Weg.
„Dies Stück Seife ist mein unbestrittenes Eigentum. Verehrtester! Kostenpunkt ein Meter zwanzig! Teuer, aber gut! ... Donnerwetter ... Wollen Sie wohl gleich ...“
Der Kürassier hatte ihn am Arm gepackt und entriss ihm die Seife. Sie fiel zur Erde. Zugleich stiess ihn Bornim vor die Brust. Dann traten sie beide zurück. Eine Sekunde war dumpfes Schweigen. Endlich sagte Achim von Bornim kühl zu einem der beiden anderen Kriegsschüler, die im Zimmer waren: „Bitte, Morlock, überbringen Sie Herrn Fähnrich Lauckardt meine Forderung!“
„Nein, bitte, Chambaut: meine an Herrn Fähnrich von Bornim!“
Unten im Hof läutete die Glocke zum Mittagsappell. Die Tischordonnanzen standen schon in Reih’ und Glied aufmarschiert und streckten dem Fähnrich du jour ihre frisch gewaschenen, roten Pfoten entgegen, der sie kritisch auf ihre Sauberkeit hin musterte. Daneben ordnete sich die Kriegsschule selbst. Gleich nach dem Appell stülpten sich die beiden Fähnriche Stahlhelm und Pickelhaube auf und liefen nacheinander zu ihrem Inspektionsoffizier, einem breitschulterigen, pommerschen Infanterieleutnant. Der hörte erst den einen, dann den anderen bedächtig an. Ja ... dat war ja nu wohl slimm! ... Also nach Tisch bekämen sie weiter Bescheid! ...
Heute beteiligte sich Achim von Bornim nicht an den Scherzen, mit denen sich die hundert Fähnriche in dem grossen Speisesaal die Zeit beim Essen vertrieben. Er mischte keinen jener trügerischen Schnäpse aus Essig, Wasser, Senf oder Rotenrübensaft, die man durch eine Ordonnanz einem Kameraden schickte, um sich an den Grimassen des Beschenkten zu erfreuen, er erfand keine neuen fürchterlichen Namen für die Tischgerichte, deren es heute die „Leichensauce“, Hammelragout mit Zwiebeln, gab, er liess sich auch nicht, wie sonst, durch die Namen der Fähnriche an den Wänden, die seit der Gründung der Kriegsschule ihr Offiziersexamen mit Kaisers Belobigung bestanden hatten, zu guten Vorsätzen auf Eifer im Hörsaal anspornen. Er dürstete nur danach, vor den Feind zu kommen. Sein Herz klopfte, als ihn nach der Mahlzeit ein Offizier beiseite rief. Dann kehrte er verklärt zu den gespannt harrenden Kameraden im Hof zurück.
„Morgen nachmittag um drei Uhr in der Turnhalle! Rappier glacé! ... Kinder! Das wird ein Mordszauber!“
„Aber pass nur höllisch auf!“ sagte sein Freund, der junge Graf von Luyn. „Mit so ’nem Kürassier ist nicht zu spassen. Die Brüder sind an schweren Pallasch gewöhnt! Wenn der dir mit seinen Schwadronssauhieben durch die Parade fährt ...“
Der Fähnrich von Bornim lachte sorglos. Er war so glücklich wie ein Kind vor Weihnachten.
„Er soll nur kommen!