Die letzte Wahl. Rudolf Stratz
Читать онлайн книгу.in dem sie wurzelte, so rasch wie möglich loszulösen und in den alten Herrenkasten des Urpreussentums aufzugehen — sei es, dass sie als Kavallerieoffiziere und Regierungsassessoren sich mit dem Schwertadel verschwägerten, wie ihre Schwestern, vom bunten Tuch gelockt, überall im Lande mit ihrer Mitgift ehrwürdig eingerostete Wappen vergoldeten, — sei es, dass sie — hier als Bürgerliche doch überall empfindlich zurückgesetzt, aus den Hofstellen, den vornehmsten Regimentern und vielen Verwaltungsämtern trotz ihres Reichtums bis zu der in der Ferne winkenden Nobilitierung ausgeschlossen — sich, von der goldenen Jugend Hamburgs her, den Begriff eines independent gentlenman schufen, eines unabhängigen jungen Rentners, der darum durchaus nicht müssig zu gehen brauchte, sondern in Matterhornersteigungen und afrikanischen Expeditionen, in Anlegung von Gestüten und Kunstsammlungen, als Gelehrter oder Nimrod rastlos arbeiten, sein Leben aufs Spiel setzen und Namhaftes leisten konnte — nur eben nicht um Geld! Denn damit hörte eben die Unabhängigkeit auf und man sank in die Schicht der Erwerbenden, der Handelswelt zurück, der in dem neuen, durch das Schwert gegründeten Reiche eben nur die zweite Rolle und — als Brücke zu dem herrschenden preussischen Kriegsadel — der neuzeitliche Ritterschlag des Reserveoffiziers übrig blieb.
Alfred Banners war nichts weniger als beschränkt. Sein regelmässiges, leidenschaftsloses Gesicht mit dem wohlgepflegten Schnurrbärtchen und der von Narben zerfetzten Wetterseite der linken Wange machte einen intelligenten und sympathischen Eindruck. Er hatte auf Studienreisen durch die englischen und belgischen Fabriken zu viel gesehen und erlebt, um, wie manche seiner Genossen, völlig in dem alten Corpsstudenten und Reserveleutnant aufzugehen. Im Gegenteil — es reizte sein angelsächsisch geschultes Selbstbewusstsein, bei Gelegenheit im Bräu einen von der ganzen Gesellschaft ehrerbietig begrüssten Prinzen von Kaulquappenhausen schlecht zu behandeln und, im Manöver vor seinem Zuge reitend, irgendeinen wegen seiner Grobheit verrufenen Kommissmajor durch seine medisante Physiognomie zu stillem Wahnsinn zu bringen. Sein Leben war inhaltreich und geregelt in athletische Übungen und Sport aller Art, gesellschaftlichen Verkehr und wissenschaftliche Studien eingeteilt, die ihm die Anlegung einer mit gutem Blicke ausgewählten Kunstsammlung ermöglichten. Einer Wette auf dem Rennplatz, einem Jeu ging er gerade nicht aus dem Wege, aber im ganzen konnte man nicht sagen, dass er die Renten sinnlos vergeudete, die ihm aus dem Stampfen der Maschinen, dem Feuerschein der Hochöfen seines Vaters zuflossen. Seiner Gesinnung nach war er Reaktionär durch und durch.
„Ich hoffe, lieber Papa!“ sagte er in dem beinahe ehrerbietigen Ton, den er stets seinem Vater gegenüber bewahrte, „ich hoffe, dass der ‚Zauber‘, wie du selbst diesen ganzen Reichstagskrempel nennst, nicht mehr lange dauert! Über kurz oder lang schliessen wir doch die Bude zu und die ganze Herrlichkeit ist gewesen!“
„Das ist Unsinn!“ sagte der alte Herr.
„Hälst du es nicht eher für Unsinn,“ hub Alfred nach kurzer Pause mit seiner kühlen, halblauten Stimme wieder an, „die allgemeine Gleichheit von Vernunft und Urteilskraft, die doch ein klarer Nonsens ist, gesetzlich festzustellen? Ein polackischer Analphabet hat bei der Wahl genau dieselbe Stimme wie Bismarck! Er weiss nicht, wo Afrika liegt, aber er wählt einen Kolonialgegner! Den Unterschied zwischen seinen zwanzig Mark Wochenlohn und den zwanzig Milliarden, die ein verlorener Krieg. Deutschland kosten würde, ahnt er kaum — aber sein Vertreter stimmt unentwegt gegen die Schlagfertigkeit des Heeres. Von Kunst und Wissenschaft hat er ...“
„Mein lieber Alfred,“ unterbrach ihn der Kommerzienrat und schlürfte seine Suppe, „ich bin bei Tisch und will meine Ruhe! Wir haben oft genug davon gesprochen. Wenn du einmal so alt bist wie ich, wirst du einsehen, dass oft in dem scheinbar Törichten die tiefste Weisheit liegt. So ist’s auch mit dem Wahlrecht.“
„Schön!“ sagte Alfred, und lehnte sich resigniert zurück. „Aber mich sieht keiner im Reichstag!“
Eine kurze, etwas unbehagliche Pause trat ein. Der alte Herr warf einen missbilligenden Blick auf das einzige leere Kuvert am Tisch.
„Oskar muss doch immer auf sich warten lassen!“ sagte er, „wo steckt dein Mann denn nur wieder, Mary?“
Mary zuckte lässig die Schultern. „Ich weiss nicht. Heute nacht kam er um vier aus dem Klub, erklärte, während er den Paletot auszog, er und der kleine Meier seien die Creme der Erde, und schlief sofort ein wie ein Toter. In aller Gottesfrühe ist er wieder weg — zur Schafschur, wie er sagte —, die Lämmlein blökten schon nach ihm und seiner Kuponschere — und seitdem hab’ ich ihn nicht mehr gesehen!“
„Jetzt schimpfen sie doch wieder alle über mich!“ sagte ein wohlbeleibter, kaum mittelgrosser Herr mit starker Glatze und jovial lächelndem, vollem Gesicht, in dem über einem stattlichen Schnurrbart die Äuglein heiter und listig blinzelten, während er an den Tisch herantrat, „die Geschäfte, lieber Schwiegerpapa ... die Geschäfte! ... Es gibt so böse Menschen auf der Börse! Ein blondlockiger Jüngling, wie ich, muss sich da vorsehen — sonst sitzt er da mit dem Schlussschein, er weiss nicht wie — Israel aber spottet seiner, und die Mäkler lachen! ‚Tag Schatz!‘“ Er klopfte seiner Frau auf die Schulter und reichte über den Tisch hinüber Ellen und Alfred die Hand. Dann wandte er sich zu Herbert: „Na ... sehen wir uns auch mal wieder, Schwager!“ sagte er kühl, und die beiden Männer wechselten einen förmlichen Händedruck, ohne sich erst zu einem Lächeln der Begrüssung zu bemühen.
Der Graf de Grain setzte sich, schob die Schösse seines Fracks, den er jeden Abend nach englischer Sitte trug, zurecht und winkte dem Oberkellner. „Sind Sie mein Freund?“ forschte er vertraulich.
„Zu Befehl, Herr Graf!“ Der Kellner, der einem hageren englischen Lord glich, lächelte diskret.
„Das ist recht!“ sagte Oskar. „Bleiben Sie dabei und Sie werden bei meinem Aufbruch tanzen und springen. Denn ich verweise meine Wohltäter nicht auf den himmlischen Lohn, sondern zahle die Trinkgelder hienieden bar! Und nun ... Hand aufs Herz ... ist eine Möglichkeit ... ich betone: eine entfernte Möglichkeit vorhanden, hier etwas zu essen zu bekommen?“
„Vielleicht vorerst ein Dutzend gemästete Austern und etwas Yquem? Inzwischen spreche ich mit dem Chef de Cuisine!“
„Hm! ...“ Oskar runzelte die Stirne. „Heben Sie die Hand auf, alter Freund, und schwören Sie ...“
„Was denn, Herr Graf?“
„Dass die Austern frisch sind!“
„Aber, Herr Graf!“ Der Frackträger machte eine beschwörende Gebärde, und ein Zug edler Entrüstung erschien auf seinem verwitterten Gesicht.
„Dann her damit!“ Oskar versank in tiefes Grübeln. „Den Karpfen will ich!“ rief er dann plötzlich laut, als der Kellner in unhörbaren Schritten schon fast bis zur Türe geglitten war. „Einen grossen Karpfen, blau! ... melden Sie das dem Chef! ... Den Karpfen, den ich nachmittags telephonisch bestellt hätte!“
„Sehr wohl, Herr Graf!“
„Und zu trinken? ... Füllen Sie immer noch Leonhardis Tinten in Ihre Bordeauxflaschen, wie neulich, oder welche Substanz ist jetzt darin ...?“
„Herr Graf ... unser Mouton-Rothschild ...“ Der Oberkellner blinzelte verzückt lächelnd, mit dem schwärmerischen Augenaufschlag eines Verliebten, zur Decke.
„Gut! Ich will es noch einmal probieren!“ entschied der dicke Graf, „aber wenn es wieder eiskalte Tinte ist ... sagen Sie, es sei für einen Kranken!“ rief er dem enteilenden Frackträger nach, „... für einen armen Mann, mit dem sie an der Börse ein unschönes Spiel treiben!“
„Ist das wirklich wahr?“ fragte der Kommerzienrat, der die ganze Zeit zwischen Lachen und Ärger dagesessen hatte.
„Ach nein!“ Graf Oskar tätschelte zerstreut die Hand seiner Frau. „Es macht sich so weit! Ich bin mit dem deutschen Volk zufrieden. Es arbeitet ordentlich für mich. Ich muss ihm das lassen. Es ist ein gutes und emsiges Volk. Wenn ich so morgens aus dem Klub komme und sehe diese braven Leute im Morgendämmern zur Arbeit gehen, das Handwerkszeug im Arm und mit hochgeklapptem Rockkragen, dann wird’s mir ganz weich ums Herz und ich zerdrücke eine Träne. Ganz zerknirscht komm’ ich zu Hause an und taste nach der Kuponschere.