Die letzte Wahl. Rudolf Stratz
Читать онлайн книгу.Licht — man konnte sich von dieser Strömung dahintragen lassen, wie der Schwimmer von den Fluten, in einer Art Selbstvergessenheit, traumverloren in dieser rastlosen und doch eintönigen, gleichförmig rauschenden und treibenden Welt.
Herberts Züge waren finster, während er, mit seinem lahmen Bein fortwährend von Vorauseilenden angestossen und gedrängt, seinen Weg durch die Menschengruppen suchte. Ein jeder dieser Leute, die da hinhasteten, als sei die nächste Sekunde Goldes Wert, hatte seine Stelle im Leben, ein Ziel, dem er zustrebte, Tagesarbeit und Feierabend, der kalkbespritzte Maurer da in klappernden Holzpantinen so gut wie die kleine, behende hinschlüpfende Konfektioneuse, der Chinese da hinter dem Ladentisch der Teehandlung wie der Offizier vor ihm in Helm und Mantel und umgegürteter Schärpe. Er aber — ihn hatte das Schicksal gewaltsam aus den Reihen der Arbeiter herausgerissen. Sein Tageslauf war ein Nichtstun — ein müssiges Schlendern durch die Strassen, ein Auf- und Niedergehen im Zimmer und Zigaretten rauchend im Schaukelstuhl liegen und grübeln und träumen.
Die Schärpe des vor ihm gehenden Leutnants hing ein wenig schief. Er sah es, und ein bitteres Lächeln der Erinnerung lief über seine harten, gallig getönten Züge. So lotterig hatte sie ihm sein Bursche, der verfluchte bummelige Polacke, auch umgeschnallt an jenem noch halbdunklen Manövermorgen, da er zum letzenmal ein Pferd bestiegen. Schon gegen Ende der Übung war das Pferd merkwürdig unruhig gewesen. Er achtete nicht auf sein Ohrenspitzen, Bocken und Gewieher und trabte zu der Kritik, die die berittenen Offiziere um seinen General versammelte.
„Vergegenwärtigen wir uns die Stellung der Batterie, meine Herren ...“ hatte Exzellenz gesagt und nach einer Windmühle zur Linken gedeutet. Alles wandte sich rasch im Sattel — auch er — und dann ein plötzliches Wiehern und Bäumen, ein Sturz, ein Schlag mit dem Knie gegen einen Prellstein — er lag am Boden, den Zügel in der Hand, und vor ihm stand, lammfromm wie sonst, sein Pferd.
Und nun klärte es sich auf. Beim Reiten hatte sich die zu lose gegürtete Schärpe nach hinten verschoben und mit ihren Quasten den Rücken des Gaules gekitzelt, bis das Tier die Geduld verlor und sich durch einen unvermuteten Satz des unbekannten Störenfrieds zu entledigen suchte.
Im ersten Augenblick lachte alles über das kleine Missgeschick, und er selbst bat, wenn schon mit schmerzverzogenem Gesicht, den General um Entschuldigung. Aber schon als der eilig herbeigerufene Assistenzarzt das Bein untersuchte, wurde die Sache ernster, ein noch ernsteres Gesicht machte am Abend der Oberstabsarzt, der von sofortigem Transport in die nahe Garnison und Urlaub auf ein viertel bis halbes Jahr sprach, und einige Wochen darauf liess das Kopfschütteln der aus Berlin an das Krankenlager gerufenen medizinischen Grösse keinen Zweifel mehr: das Knie musste steif bleiben. Eine nur einen Zentimeter zu weite Schärpe hatte alle Zukunftsträume eines ehrgeizigen Mannes vernichtet.
Es dauerte lange, bis Herbert das wirklich begriff und die Hoffnung endgültig verabschiedete. Aus seinem bisherigen, von seiner Kadettenzeit bis zum Eintritt in den Generalstab dem Dienst und der Pflichterfüllung gewidmetem Leben war er gewohnt, eine selbstverständliche Verbindung zwischen Arbeit und Belohnung, zwischen Schuld und Strafe zu sehen. Das war der Geist seines Elternhauses wie der des blutarmen, preussischen Kleinadels überhaupt, dem er entstammte, der Geist, in dem er selbst lebte und zu dem er seine Söhne zu erziehen gedachte.
Arbeit war sein ganzes Dasein gewesen, rastlose Arbeit. Vor ihr verschwand alles andere. Die Kahlheit und Kargheit seiner Leutnantsjahre in einem bescheidenen Infanterieregiment der Provinz berührten ebensowenig wie der plötzliche Wohlstand durch die Heirat sein Inneres. Er hatte, als er in Berlin zur Kriegsakademie kommandiert war, Ellen liebgewonnen und geheiratet, ohne bei dem alten Kommerzienrat nach mehr als dem Kommissvermögen zu fragen, das ihnen die Verbindung ermöglichte. Dass Herr Banners seine Tochter weit reichlicher ausstattete, war ihm gleich und änderte in nichts seine nüchterne Selbstzucht. Mässig in allem hatte er nur ein Lebensziel gehabt: den Dienst und die Karriere. Alles andre waren nur Episoden in seinem Leben, auch die Heirat, zu der er geschritten, als es eben an der Zeit war und sich ihm eine willkommene Gelegenheit bot. Aber tiefe seelische Erschütterungen hatte ihm auch dieser wichtigste Entschluss des Daseins nicht gebracht. Er lebte in ruhiger, freundlicher Ehe. Zu Leidenschaften und Stürmen liess ihm der Dienst keine Zeit, der Dienst, in dem er aufging und der ihn durch eine glänzende Laufbahn entschädigte.
Und nun war dies alles dahin durch den Seitensprung eines Pferdes, und er stand auf seinen Stock gestützt als lahmer Zivilist auf der Leipziger Strasse gegenüber dem Reichstag.
Die lärmende Verkehrsader trug hier ein seltsam doppeltes Gesicht. Auf einer Seite glänzte und strahlte alles von dem Lichtschein der grossen, mehrstöckigen Kaufhäuser, der Prunkläden und Schleuderbazare, vor denen sich die Menschenmasse in dicken Klumpen staute. Auf dem andern, weit weniger belebten Ufer herrschte Finsternis und tiefes Schweigen. Mit langen dunklen Fensterreihen standen da die mächtigen Gebäude der Reichspost und des Kriegsministeriums, des Herrenhauses und der Porzellanmanufaktur in demselben schroffen Gegensatz zu dem betriebsamen Gewimmel des Geschäftslebens gegenüber, wie der düstere altpreussische Beamtenstaat zu dem mächtig pulsierenden Handels- und Industriereich des neuen Deutschlands.
Nur ein niedriges, mit breiter Freitreppe versehenes Gebäude drüben zeigte hell erleuchtete Fenster. Herbert schritt, vorsichtig das Wagengewühl der Leipziger Strasse kreuzend, darauf zu und ging an dem Pförtner vorbei, der vor dem ihm bekannten Herrn grüssend die Hand an den roten Mützenrand legte, in das Foyer des alten Reichstages.
Der schmale, lange Raum erschien heute lächerlich klein und unbedeutend im Vergleich zu dem riesenhaften, viele Tausende von Menschen fassenden Umfang der Wandelhalle in dem am Morgen eingeweihten Palast. Und einen ebenso alltäglichen, nüchternen Eindruck, gegenüber dem Farbenrausche jener Feier, machten die Männer, die ihn erfüllten. Die Reichsboten hatten ihre bürgerliche Gewandung wieder angelegt. An Stelle der bunten Husarenattilas und weissen Kürassierkoller, der roten Ritterkleider, der Kammerherrenfräcke und goldgestickten Beamtenuniformen waren die grauen und schwarzen Röcke, die schlotternden Hosen getreten, wie sie draussen auf der Strasse alle Welt trug. Äusserer Glanz und Prunk waren aus diesen Gruppen geschwunden. Wie sie da halblaut plaudernd beisammen standen, waren es eben Männer aus dem Volk, aus verschiedenen Schichten und Berufen, der eine sorgfältiger, der andre verwahrlost gekleidet und doch alle von einem gleichmässigen Anstrich, wie ihn etwa auch die Geschworenen im Sitzungssaal, die Mitglieder eines Kriegervereins, die Stadtverordneten in irgendeinem Rathaus tragen. Das Foyer war dicht gefüllt, dichter als sonst an „grossen“ Tagen, die über das Sein oder Nichtsein eines wichtigen Gesetzes entscheiden. Denn heute lag für keinen Reichsboten eine Veranlassung vor, sich durch Fernbleiben zwanglos der Verantwortung für eine folgenschwere Abstimmung zu entziehen. Zum letztenmal konnte man heute die charakteristischen Erscheinungen des Reichstags, die sich in dem Labyrinth von Korridoren und Hallen des neuen Hauses unrettbar vereinzeln und verlieren mussten, alle beisammen mit einem Blicke übersehen. Die hageren, braungebeizten Physiognomien der ostelbischen Junkerschaft und die behaglich glatten Gesichter des Klerus, die meist recht nichtssagenden, noch jugendlichen Züge der Sozialdemokratie, zwischen ihnen noch vereinzelt ein paar graue, charakteristische Verschwörerhäupter aus der alten Schule, durchgeistigte Gelehrtenköpfe neben brutalen Bierwirtsantlitzen, Vollbart und Brille der wohlwollenden und satten Männer des goldenen Mittelwegs — heute waren alle Parteien vertreten und scharten sich, der Eröffnung der letzten Sitzung harrend, vor den grünverhangenen Saaltüren.
Soweit es bei dem Reichstag, der skeptischsten und blasiertesten Körperschaft Deutschlands, überhaupt möglich war, lag beinahe eine gewisse Feierlichkeit über diesem so unheimlich vollen, von gedämpftem Geplauder und dem leisen Knarren der im Teppich versinkenden Fusstritte erfüllten Foyer, in dem, dicht über den Köpfen der Abgeordneten, eine bläuliche Schicht von Zigarrenqualm reglos wie eine Wolke stand.
Es dauerte eine Weile, bis Herbert den alten Banners entdeckte, der, die Hände in den Hosentaschen, die Havanna im Mundwinkel, zwischen einigen Gesinnungsgenossen auf einem der braunen Ledersofas sass.
„Du kommst zu früh!“ sagte der alte Herr ... „Es hat noch nicht mal angefangen! Aber tröste dich. Es wird ein kurzer Schmerz. Die Sitzung dauert nicht lange. Namensaufruf und damit basta! Und immerhin erlebst du hier inzwischen einen historischen Moment. Viele Jahre haben wir doch hier